Handlungspsychologie
präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Bibliographie: Kaiser, Heinz Jürgen & Werbik, Hans (2012) Handlungspsychologie. Eine Einführung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. [Verlags-Info] 1. Auflage 2012 235 Seiten mit 40 Abb. kartoniert ISBN 978-3-8252-3741-7 V&R UTB. Verlag.
Zum Geleit 9
Vorwort 11
Teil 1:
Grundlagen der Handlungstheorie
Kapitel 1 : Wissenschaftliche Psychologie als Problem - Eine Einleitung
19
Zusammenfassung und Kontrollfragen 28
Kapitel 2: Der Begriff der Handlung 29
2.1 Leitvorstellungen bei Theoriebildungen 29
2.2 Näheres zum Begriff des Handelns 34
2.2.1 Handeln als gewählte Verhaltensalternative
34
2.2.2 Handeln als ein intendiertes und
zielgerichtetes Verhalten 37
2.2.3 Handeln unter ethischer Perspektive
41
2.3 Handlungstypologien 41
2.4 Über das Zustandekommen von Handlungen:
Zur Unterscheidung von Gründen
und Ursachen 47
Zusammenfassung und Kontrollfragen 49
Kapitel 3: Methodische Voraussetzungen einer Theorie menschlichen
Handelns 51
3.1 Aussagen über menschliches Handeln als „wahre“ Aussagen
51
3.1.1 Zum wissenschaftlichen Begriff
der Wahrheit 52
3.1.2 Verschiedene Kategorien von Wahrheit
55
3.2 Das Falsifikationsprinzip 58
Zusammenfassung und Kontrollfragen 63
Kapitel 4: Erklärungen menschlichen Verhaltens aus handlungstheoretischer
Sicht 65
4.1 Perspektiven der Erfahrungsbildung in der Psychologie: Grundsätzliches
65
4.2 Deduktiv-nomologische Erklärungen 70
4.3 Teleologische Erklärungen 78
4.4 Narrative Erklärungen 81
4.5 Fazit 83
Zusammenfassung und Kontrollfragen 84
Kapitel 5: Willensfreiheit 86
5.1 Stellungnahmen zur Willensfreiheit aus der Psychologie 86
5.2 Psychoanalyse und Handlungspsychologie 88
5.3 Das Problem der Willensfreiheit: Ein Jahrtausend-Thema der Philosophie
90
5.4 Die Auffassung der Neuropsychologie und die Auseinandersetzung
mit ihr 96
5.5 Fazit 98
Zusammenfassung und Kontrollfragen 99
Kapitel 6: Handlungstheoretisches Denken in sozialwissenschaftlichen
Disziplinen 101
6.1 Allgemeine und spezifische Aspekte der Handlungstheorie 101
6.2 Wurzeln handlungstheoretischen Denkens 102
6.3 Handlungstheorien in der Soziologie: Beispiel Ethnomethodologie
103
6.4 Handlungstheoretische Konzepte in der Tätigkeitspsychologie
104
6.5 Handlungstheorie in der Allgemeinen Psychologie: Motivationspsychologie
108
Zusammenfassung und Kontrollfragen 111
Kapitel 7: Kultur und Handlung 113
Zusammenfassung und Kontrollfragen 121
Teil 2:
Die Theorie menschlichen Handelns in der Praxis
Kapitel 8: Wissenschaftliche Psychologie und psychologische Praxis:
Ein schwieriges Verhältnis? 125
Zusammenfassung und Kontrollfragen 127
Kapitel 9: Handlungstheorie als Basis empirischer Forschung: Sozialwissenschaft
als Dialog/Beratungsforschung 128
9.1 Forschung und Dialog 128
9.2 Forschung als Dialog? „Beratungsforschung“ 128
9.3 Prinzipien der
Beratungsforschung 130
9.4 Das Prinzip
der Nicht-Bevormundung 131
9.5 Konsensbildung
als erkenntnisleitendes Interesse 132
9.6 Zweckrationalität
als methodisches Prinzip 133
9.7 Anwendungsfelder des Konzepts der Beratungsforschung 134
Zusammenfassung und Kontrollfragen 135
Kapitel 10: Handlungstheorie und interpersonale Konflikte: Konfliktberatung
137
10.1 Handlungstheorie als Basis 137
10.2 Allgemeine Vorschläge zur Gesprächsführung
138
10.3 Spezielle handlungstheoretisch fundierte Vorschläge zu einer
Konfliktberatungsstrategie 139
10.3.1 Die Einleitung der
Beratung 139
10.3.2 Das Erstellen der
Beschwerdeliste 139
10.3.3 Die Aufforderungsanalyse
140
10.3.4 Analyse der Zielsysteme
141
10.3.5 Die Kontrolle der
Beratungsergebnisse 142
10.3.6 Ein Fallbeispiel
144
Zusammenfassung und Kontrollfragen 147
Kapitel 11: Konkretisierung der Handlungspsychologie in einer „verständnisbildenden“
Verkehrspsychologie 148
11.1 Verkehrspsychologie jenseits „harter“ Daten 148
11.2 Ein möglicher Gegenstand verständnisbildender Verkehrsforschung:
Handlungsregulation 150
11.3 Verkehrspsychologische Begutachtung als Rekonstruktion
und Prognose von Handlungsorientierungen 153
11.4 Ausblick 160
Zusammenfassung und Kontrollfragen 161
Kapitel 12: Handlungspsychologie und Gerontologie 162
12.1 Alternsforschung und das Bemühen um ein positives Altersbild
162
12.2 Handlungspsychologische Konzepte in der Gerontologie 163
12.3 Handlungspsychologie - Ein Zugang zur subjektiven Welt alter Menschen
165
12.4 Handlungspsychologisches Interpretieren als Schutz gegen Fehldeutungen
167
12.5 Die Realisierung einer handlungspsychologisch-dialogischen Forschung
168
12.6 Anwendung der handlungstheoretischen Konzeption im Hinblick auf
aktuelle Fragestellungen: Mobilität im Alter 172
12.7 Fazit 173
Zusammenfassung und Kontrollfragen 175
Kapitel 13: Aggressionen aus handlungspsychologischer Sicht: Hilfestellung
für die Beratungspraxis 176
Zusammenfassung und Kontrollfragen 182
Kapitel 14: Analyse gesellschaftlicher Konflikte aus handlungstheoretischer
Perspektive am Beispiel des Terrorismus 183
14.1 Psychologie und gesellschaftliche Herausforderungen 183
14.2 Zur Psychologie des Terrorismus 184
14.3 Eine handlungspsychologische Analyse 187
14.4 Fazit 192
Zusammenfassung und Kontrollfragen 193
Kapitel 15: Resümée 194
15.1 Der
Mensch als Gegenstand der Psychologie 194
15.2 Anregungen zum Prozess der Theoriebildung
197
15.2.1 Orientierungen bei
der Theoriebildung 197
15.2.2 Erste Theoriebildungs-Schritte
198
15.2.3
Zum Begriff der Theorie 198
15.2.4
Menschenmodelle 201
15.2.5 Erkenntnisinteressen
202
Literatur 205
Arbeiten zum aktuellen Stellenwert der Kulturpsychologie 217
Namensregister 221
Sachwortregister 225
Verzeichnis der Abbildungen/Quellennachweis 233
Grundlegende
wissenschaftstheoretische Position
Sie ist sehr wichtig, um den ganzen Ansatz richtig zu verstehen. Hierzu
dient folgender Abschnitt (S. 25):
FN2 Eine sehr differenzierte Unterscheidung zwischen den Termini Verhalten und Handlung findet sich bei Graumann (1980)."
S. 39:
"In jener Zeit, in der Forschungskonzepte und Forschungspraxis der Psychologie
in die kritische Diskussion gerieten, wurde unter anderem das Problem der
Übertragbarkeit des von der wissenschaftlichen Psychologie erarbeiteten
Wissens in die Lebenspraxis, auch in die Praxis der Anwendung der Psychologie,
näher untersucht. Die Frage war: Ist es möglich, aus psychologischen
Gesetzesaussagen
praktische Handlungsanweisungen logisch abzuleiten, wie es Prim
& Tillmann (1973) gefordert haben? Bunge (1967) oder Westmeyer (1979)
hielten dies nicht für möglich; die Ergebnisse der psychologischen
Forschung schienen für die Lebenspraxis doch eher nur heuristischen
Wert zu haben.
Diese Zweifel waren nicht unbegründet. Die Beschäftigung
mit der bevorzugten Methode des Experiments als Weg der Erkenntnisgewinnung
hat nicht nur auf ein grundsätzliches Problem in Bezug auf Anwendung
von so erzeugtem Wissen aufmerksam gemacht (vgl. Korthals-Beyerlein 1981):
In einer als Beratungsforschung organisierten sozialwissenschaftlichen
Forschung werden die genannten Probleme vermieden durch die Gleichartigkeit
von Erkenntnisbildungs- und Anwendungssituation. Das wird als „Koinzidenzprinzip“
der Beratungsforschung bezeichnet. Zudem wird das Erkenntnisinteresse nicht
losgelöst von den praktischen Interessen der Problemüberwindung,
insbesondere der Konfliktlösung. Erkenntnis ist kein Wert an sich,
sondern wird von vornherein auf eine bestimmte Lebenspraxis hin angestrebt.
Die dialogische Beratungsforschung ist eine recht pragmatisch orientierte
Forschungskonzeption.
9.4
Das Prinzip der Nicht-Bevormundung
Die Verdoppelung der Realität (bewusst planend die Person des
Forschers, bloß reaktiv die Versuchspersonen) hat sich, analysiert
man Inhalte und Vorgehensweisen in der experimentellen Forschung genauer,
als gravierende Erschwernis der Forschung herausgestellt. Die Unterschiedlichkeit
von Nicht-Forscher (als Objekt) und Forscher (als Subjekt) existiert ja
lediglich als eine kontrafaktische Unterstellung. Faktisch aber muss der
experimentell tätige Psychologe ständig mit sinngehaltsgemäßem
Handeln seiner Versuchspersonen rechnen, beispielsweise mit ihrer Fähigkeit,
Situationen zu interpretieren, und ihr Tun entsprechend dieser ihrer Interpretationen
auszurichten. Täuschungsprozeduren sind die Folge der Doppelbödigkeit
im methodologisch-anthropologischen Ansatz der Forschung.
Beziehen sich die Forschungsfragestellungen auf
Sozialverhalten
und soziale Beziehungen, werden die Art des in der experimentellen
Forschung gewonnenen Wissens und seine Verwendungsmöglichkeit zum
sozialen
Problem. Seel (1981) argumentiert diesbezüglich so:
„Wenn die Überprüfung des Wissens gebunden
ist an Situationen, in denen eine Person(engruppe) nur als Objekt der Handlungen
einer anderen Person(engruppe) in Erscheinung treten darf, ist leicht einzusehen,
dass dieses Wissen praktisch auch nur in ähnlichen, d.h. Herrschaftssituationen,
unproblematisch anwendbar ist.“ (S. 58 f.)
Eine solche sozialwissenschaftliche Forschung verfehlt
notwendigerweise das Ziel, zur Schaffung emanzipatorischen Wissens beizutragen,
d.h. zu einem Wissen, das geeignet ist, Menschen zu einer größeren
Freiheit, zu einer besseren Vertretung ihrer Interessen, zur besseren Einsicht
in ihre Bedürfnisse und Möglichkeiten zu verhelfen. Es ist ja
eher ein Herrschaftswissen, das geschaffen wird, ein Wissen über das
„Funktionieren“ von Menschen unter bestimmten, herstellbaren Bedingungen.
Wenn der Forscher zu Wissen gelangt, unter welchen Bedin-[>132]gungen Menschen
zu einem bestimmten Verhalten zu bringen sind, markiert dies die Basis
eines bevormundenden Verhältnisses des einen über den anderen.
Die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Unterscheidung
in der handlungstheoretisch fundierten, dialogischen „Beratungsforschung“
geschieht im Interesse einer emanzipatorischen Zielsetzung der Forschung.
Forscher und Nicht-Forscher erlangen in der Forschungssituation den Status
von Partnern, die im Austausch miteinander und geleitet von denselben Interessen
nach gültigen Aussagen über das Handeln von Menschen suchen.
So ist das Prinzip der Nicht-Bevormundung als forschungsleitendem Prinzip
zu verstehen.
9.5 Konsensbildung als erkenntnisleitendes Interesse
Wenn von Interessen und Zielen der Forschung die Rede war und dies auch
noch mit dem Komplex sozialer und gesellschaftlicher Emanzipation der erforschten
Subjekte verknüpft wurde, dann wird ein schwieriges Feld des Diskurses
in den Sozialwissenschaften betreten. Schließlich hat die Debatte
um die Wertgebundenheit vs. Wertfreiheit der Wissenschaft dort eine lange
Tradition, besonders sichtbar geworden im sog. „Werturteilsstreit“ zu Zeiten
Max Webers oder im Positivismusstreit der 60er und 70er Jahre des vorigen
Jahrhunderts (vgl. Adorno et al. 1972). Vertreter des Kritischen Rationalismus
(etwa: Karl Popper, Hans Albert) warfen ihrer Gegenseite, den Mitgliedern
der sog. „Frankfurter Schule“ (Theodor W. Adorno oder Jürgen Habermas)
vor, das Postulat der Wertfreiheit der Wissenschaft zu verletzen. Der rationale
(und emotionale) Kern des Wertfreiheitspostulats liegt in dem Unbehagen,
das „wissenschaftsexterne“ Zwecke, nämlich solche des sozialen Lebenszusammenhanges,
auslösen. „Lebenswelt“ bedeutet ja konkret auch immer politische,
gesellschaftliche Welt. Die Freiheit, die sich die Beratungsforschung zum
Ziel gesetzt hat, bezieht sich allerdings nicht auf eine spezielle politische
Idee, sondern auf eine Befreiung von handlungserschwerenden, allgemein
lebenserschwerenden Problemen. Ein besonders herausragendes Problem stellt
das des Konfliktes mit anderen Menschen dar.
Zweck der Forschung soll entsprechend vor allem
sein, Erkenntnisse und Verfahrensweisen zu gewinnen, die eine Konfliktlösung
ohne Gewalt und unter Konsens aller beteiligten Parteien möglich macht
oder fördert. Selbstverständlich wird mit diesem lebenspraktischen
Erkenntnisinteresse die Vorstellung der Erkenntnisgewinnung als eines (wertfreien)
Selbstzweckes der Wissenschaft aufgegeben.
Bernhard Badura hat 1976 vier typische Interessenkontexte
sozialwissenschaftlicher Forschung angegeben, wenn sie den Schritt von
der Grundlagenforschung zur Anwendung vollzieht, von denen der dritte direkt
der handlungspsychologischen Beratungsforschung zugeordnet werden kann:
Auch die Informierung und Aufklärung der Öffentlichkeit
kann als ein dem Konzept der Beratungsforschung nahestehendes Erkenntnisinteresse
angesehen werden.
9.6 Zweckrationalität als methodisches Prinzip
Da die prinzipielle Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt wissenschaftlicher
Untersuchungen aufgegeben wurde, und die handlungstheoretische Beratungsforschung
sich ausdrücklich zweckrational begründet, wird auch den Forschungspartnern
zunächst grundsätzlich eine Orientierung ihres Handelns an Zielen
/ Zwecken unterstellt. Die Forschungspartner werden demnach als rational
handelnde Personen gesehen. Diese prinzipielle Setzung („Zweckrationalität
als methodisches Prinzip“) ist auch besonders hinsichtlich des Konfliktlösungsinteresses
der Beratungsforschung sinnvoll, denn Konflikte werden primär als
miteinander unverträgliche Zielsetzungen und/oder Mittelwahlen jener
Personen definiert, die sich als Konfliktparteien identifizieren lassen.
Wenn Zweckrationalität per methodischem Prinzip dem Forschungspartner
(zunächst) unterstellt wird, „dann behandeln wir die Person, deren
Handlungen wir beschreiben, deuten und erklären, so, als ob
sie ... ihre Handlungen rational relativ zu ihren Zwecken vorbereiten würden“
(Schwemmer 1976, S. 148; Herv. i. Orig.). Zweckrationalität als methodisches
Prinzip ist ein durchaus pragmatischer Einstieg in die Forschungssituation
und ebenso in jene (Konflikt-)Beratungssituationen, die zum Anwendungsbereich
der handlungspsychologischen Erkenntnisse gehören. Damit ist gemeint,
dass die anfängliche Unterstellung der Zweckrationalität im Handeln
der Person oder der Personen unter Umständen auch zurückgenommen
werden muss, dass sie sich aufgrund des Verlaufs des Dialogprozesses als
nicht haltbar erweist.
Es kann durchaus vorkommen, dass interpersonale
Konflikte keinen rationalen Hintergrund oder Ausgangspunkt haben, sondern
beispielsweise durch miteinander unverträgliches affektuelles Handeln
gekennzeichnet sind. Aber der Zweckrationalität ein methodisches Primat
zu geben, stellt sicher eine brauchbare Richtschnur für die Suche
nach der besten Lösung dar, sei es für die Konfliktlösung
oder für die Formulierung sich bewährender Erkenntnisse über
menschliches Handeln überhaupt."
Im Folgenden habe ich zwei Ergebnisse ausgewählt: Anwendung verkehrspsychologische Begutachtung und Aus dem Resümée.
Anwendung des
handlungspsychologischen Beratungskonzeptes am Beispiel Verkehrspsychologie
Nachdem der konkrete Auslöser für die erneute und intensivierte
Zuwendung zu dem handlungspsychologischen Ansatz meine Auseinandersetzung
mit forensisch-psycho-pathologischen
Gutachten und die dort gänzlich abwesende subjektwissenschaftliche
Orientierung war, möchte ich als besondere Leseprobe Heinz Jürgen
Kaisers Methode für verkehrspsychologische Gutachten hier für
sich selber sprechen lassen (S. 153ff):
Die Suche nach einem Bereich psychologischer Praxis, in der die Orientierung
an handlungspsychologischen Überlegungen nicht nur sinnvoll, sondern
sogar geboten ist, führt demnach schnell zu einem Ergebnis. Bei einem
Begutachtungsauftrag zur Frage der Fahreignung einer Person beispielsweise
möchte eine Behörde oder ein Gericht in vielen Fällen einen
Blick in die Zukunft eines Delinquenten werfen, um eine Entscheidung zu
finden und zu begründen. Es geht darum zu ermitteln, ob von der Person
ein auf der Straße gezeigtes Fehlverhalten am Steuer eines Autos
auch in Zukunft wieder zu erwarten ist oder nicht. Genau so wird der Auftrag
von Behörde oder Gericht an den Psychologen formuliert.
Die Frage kann mit ausreichender Sicherheit (nur)
dann beantwortet werden, wenn man ermittelt hat, welche Ideen und „Leitlinien“
eine Person in dem, was [>154] sie tut, berücksichtigt (oder nicht).
Eine vollkommen sichere Prognose über zukünftiges Verhalten von
Menschen kann es selbstverständlich nicht geben.
Nehmen wir den Fall der Begutachtung eines verkehrsauffälligen
Kraftfahrers, der wiederholt wegen der Missachtung verkehrsrechtlicher
Bestimmungen und Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung aufgefallen
ist.
Ein erster wichtiger Schritt zur Erfassung von Handlungsorientierungen
ist die Zusammenstellung jenes Wissens, das über das Verhalten des
Probanden zu früheren Zeiten bekannt geworden ist. Bei Fahreignungsgutachten
ist dies durch das Studium der Inhalte der Führerscheinakte („Vorgeschichte“)
zu einem Teil möglich.
Zur Vorgeschichte von Herrn B. wurde eine Reihe
von Informationen in der Führerscheinakte gefunden:
Herr B. ist zum Zeitpunkt der Untersuchung ein 24-jähriger
Mann, gelernter Automechaniker, der als Rennmechaniker im Bereich des Motorsports
arbeitet. Herr B. ist alleinstehend und beruflich viel unterwegs, da die
Einsatzorte weit auseinander liegen.
Der Führerscheinakte sind folgende relevante
Daten zu entnehmen:
Im Jahre 1997 übertrat Herr B. mit seinem PKW
die erlaubte Geschwindigkeit von 100 km/h außerhalb geschlossener
Ortschaften um 33 km/h. Für diese Überschreitung wurde eine Geldbuße
von DM 150.- verhängt, zudem erfolgte ein Eintrag von 3 Punkten ins
Verkehrszentralregister Flensburg.
1998 überschritt Herr B. die zulässige
Höchstgeschwindigkeit um 35 km/h innerhalb geschlossener Ortschaften.
Zu einer Geldbuße von DM 200.- und dem Eintrag von 3 Punkten
wurde ein einmonatiges Fahrverbot verhängt.
1999 bekam Herr B. für die Unterschreitung
des Mindestabstandes (statt in diesem Fall vorgeschriebener 67 m nur 19
m Abstand!) einen Eintrag von 4 Punkten; zudem wurde eine Geldbuße
von DM 200.- verhängt.
Eine weitere Überschreitung der zulässigen
Höchstgeschwindigkeit ließ sich Herr B. 2000 zu Schulden kommen.
In diesem Fall betrug die Überschreitung 53 km/h relativ zur vorgeschriebenen
Geschwindigkeit von 80 km/h. (=133 km/h). Wegen wiederholter einschlägiger
Zuwiderhandlungen erhöhte sich die Strafe diesmal auf DM 600.-, zusätzlich
zu einem Monat Fahrverbot und dem Eintrag von 4 Punkten.
Herr B.s „Kontostand“ beim Kraftfahrt-Bundesamt
erreichte zu diesem Zeitpunkt einen Wert von 14 Punkten, woraufhin die
Führerscheinbehörde K. eine Überprüfung der theoretischen
Kenntnisse zur Führung von Kraftfahrzeugen anordnete. Die Prüfung
wurde im Oktober 2000 beim TÜV K. mit einem positiven Ergebnis abgelegt.
Bereits wenige Monate nach dem letzten Delikt ist
Herr B. beim vorsätzlichen Fahren ohne Fahrerlaubnis (bestehendes
Fahrverbot) in Tateinheit mit vorsätzlichem Gebrauch eines Fahrzeugs
ohne Versicherungsschutz von zwei Polizeibeamten gestoppt worden. Für
dieses Vergehen wurde Herr B. mit einer Geldstrafe von DM 800.-, einem
Monat Fahrverbot und 6 Punkten Eintrag ins Zentralregister bestraft.
Durch die dann erreichte Gesamtsumme von 20 Punkten
in der Akte des Kraftfahrt-Bundesamts sah sich das Landratsamt K. dazu
veranlasst, ein Fahreignungsgutachten über Herrn B. zu beantragen.
Herr B. unterzog sich beim TÜV S. einer MPU,
die zu einem negativen Ergebnis kam. Die Rechtsanwälte des Herrn B.
beantragten daraufhin die Erstellung eines Obergutachtens mit der Begründung,
dass das vorliegende TÜV-Gutachten nicht ausreichend auf die Persönlichkeit
ihres Mandanten eingegangen, und zudem die Fragestellung nicht ausreichend
bearbeitet worden sei.
Die Oberbegutachtung hatte diese Kritik zu beherzigen,
musste also intensiver auf den „persönlichkeitspsychologischen“ Teil
der Fragestellung eingehen.
Wie sollte ein handlungstheoretisch geschulter Psychologe
an diesen Fall herangehen?
[Quelle]
Interpretation der Vorgeschichte des Herrn B. im Sinne einer handlungspsychologischen Urteilsbildung
Im Folgenden wird diese Hypothesenbildung im Falle des Herrn B. wörtlich wiedergegeben, so, wie sie dann tatsächlich im Gutachten Eingang gefunden hat [FN26: Zu beachten ist, dass das Gutachten an eine Behörde als Empfänger gegangen ist, nicht an eine Forschungseinrichtung oder an Fachkollegen. Deshalb, und das verlangt die Behörde so, musste es in „verständlicher“, also alltagsnaher Sprache ausgedrückt werden.]. [>156]
a) Zur Bewusstheit des Fehlverhaltens
Zunächst gilt es, die Vorgeschichte zu interpretieren, und zwar
im Hinblick auf die Aufstellung von Hypothesen über die inkriminierten
Verhaltensweisen als Handlungen:
„Die aktenkundigen Vorfälle zeigen eine offenbar bewusste
Missachtung gültiger Normen und Gesetze im Straßenverkehr. Problematisch
ist hier weniger die Tatsache, dass in drei Jahren fünf einschlägige
Vorfälle bekannt geworden sind, sondern eher, dass die Zuwiderhandlungen
von gravierender Art gewesen sind. Immerhin betragen die Geschwindigkeitsüberschreitungen
zwischen 33 und 53 km/h! Der Exploration zu diesen Vorfällen aus Anlass
der Voruntersuchung durch den TÜV ist zu entnehmen, dass die Übertretungen
in der Tat bewusst begangen worden sind.“
b) Reflektiertheit des Verhaltens/ Reflexionsfähigkeit des Probanden
„Den Unterlagen ist auch zu entnehmen, dass in früheren Jahren bereits Fahrverbote verhängt worden sind. Das aber bedeutet, dass Herr B. aus schwerwiegenden Konsequenzen auf Fehlverhalten (zunächst) offenbar nichts gelernt, sich offensichtlich mit seinem Verhalten nicht selbstkritisch ausein-andergesetzt hat. Diese selbstkritische Auseinandersetzung fehlt bis heute, meint jedenfalls der Gutachter des TÜV, wenn auch keine Verdeckungstendenzen zu beobachten seien, sondern das eigene Verhalten freimütig geschildert werde.“
c) Einsicht in die eigene Handlungskompetenz
„Es ist demnach zu überprüfen, ob Herrn B. mittlerweile klar geworden ist, dass er bewusste Zuwiderhandlungen nicht nur vermeiden muss, sondern auch vermeiden kann, was voraussetzt, dass er die motivationalen Hintergründe für sein Fehlverhalten erkannt hat. Ferner ist zu ermitteln, ob er Vorkehrungen getroffen hat, die zukünftig solche Zuwiderhandlungen ausschließen.“
d) Sprachniveau
Die Rekonstruktion seines Lebenslaufes in der biografisch gehaltenen Exploration zeigte auf, wie bei Herrn B. entstanden sein könnte, was in der Sprache der Handlungspsychologie als handlungsleitende Orientierungen einer Person bezeichnet wird. Die Interpretation des biografischen Interviews zeigt zunächst einmal, wie und in welchen Sprachformen und -formeln Herr B. sich selbst darstellt, und inwieweit sie geeignet sind, ihm einen Zugang zu den eigenen Handlungsmotiven zu erlauben:
„Rekapituliert man das vorliegende Gespräch, fällt einem zunächst das Sprach- und Darstellungsniveau des Probanden ins Auge. Wir haben schon eingangs beschrieben, dass Herr B. eine eher auf Konkretes bezogene Sprache benutzt und zur eigenen Person sowie zu eigenen Ideen, Überlegungen und Schlußfolgerungen außerhalb des beruflichen Bereiches nur schwer Stellung nehmen kann. Überlegungen, die sich auf Handlungsmotive, Einsichten oder Vorsätze beziehen, und die er sicherlich anstellt, müssen aus seinen Ausführungen herausinterpretiert und dann in gemeinsamen Bemühungen zwischen Proband und Gut[>157]achtern formuliert werden. Dies ist hier deshalb festzulegen, weil auf diese Weise nur schwer zu kontrollieren ist, was des Probanden ureigenste Ansichten sind, und was Ergebnisse, die ihm durch Fragen und Interpretationsbemühungen der Gutachter nahegelegt werden.“
e) Fähigkeit zur Selbstanalyse
„Er hat Mühe damit, über sein Verhalten im Straßenverkehr rekonstruierend Bilanz zu ziehen und vorausblickend mögliche Entwicklungen vorherzusehen. Es ist anhand des Gespräches nicht gut möglich zu entscheiden, ob diese Art der eingeschränkten Reflexion lediglich ein Sprachproblem oder ein Problem mangelnder Einsicht in die Belange der eigenen Person darstellt. Wahrscheinlich ist, dass hier eine Interaktion beider Probleme vorliegt.“
f) Dialogfähigkeit / Wahrhaftigkeit
„Die Besonderheiten des Gesprächs verweisen auf das Problem der Offenheit im Gespräch. Es entsteht sehr bald der Eindruck, dass der Proband bemüht ist, alle Äußerungen genau zu überdenken hinsichtlich ihrer Wirkung bei den Gutachtern. Also dürften Überlegungen angestellt worden sein, welche Äußerung ihm zum Nachteil und welche ihm zum Vorteil gereichen würden. Unter dieser Bedingung sind aber keine wirklich offenen, ungeschminkten Antworten zu erwarten, bei denen man davon ausgehen kann, dass der Befragte eben das meint, was er sagt. Andererseits muß man auch konstatieren, dass Herr B. freimütig in dem Sinne antwortet, dass er zu früherem Fehlverhalten steht und es nicht zu leugnen oder mit irgendwelchen bagatellisierenden Konstruktionen zu erklären versucht.“
g) Hypothesenbildung über Handlungs- und Lebensorientierungen und ihre Entstehungszusammenhänge
Die Lebensgeschichte, die Herr B. entwickelt (wobei hier „Geschichte“ wörtlich zu nehmen ist), führt zu einer Reihe von Einsichten in seine „innere Welt“, in die Welt seiner Vorlieben und Werte, seiner Interessen und Ziele. Nahe an den biografischen Aussagen bleibend, stellt der Gutachter die folgenden Hypothesen über zentrale Handlungs- und Lebensorientierungen des Probanden und seine Entstehungszusammenhänge auf:
„Das Interesse an allem, was Motoren hat, scheint sich bei ihm mittlerweile geradezu zu einer Manie entwickelt zu haben, die seine gesamte Lebensführung bestimmt. Das kann man deswegen so eindeutig ausdrücken, weil er selbst viel Zeit im Gespräch darauf verwendet, die Auswirkungen seines starken praktischen und emotionalen Engagements in seinem technischen Beruf darzulegen (die Hälfte des Jahres in der ganzen Welt unterwegs; viele notwendige Fahrten; zwei Wohnungen; unregelmäßige Arbeitszeit usw.). Das sehr starke Interesse für Autos mündet bei ihm in einer zeitweiligen „Workaholic“-Existenz. Autos bedeuten ihm das Leben, und so verhält er sich auch, wie er selbst schildert. Er scheint in der Tat ein sehr begabter Mechaniker zu sein, sonst hätte er in seinem Alter nicht bereits die Stellung erreicht, die er nun innehat. Also paaren sich bei Herrn B. die Interessenlage einerseits und die Fähigkeiten andererseits in einer (für den Beruf) idealen Weise. Nachteil dieser Situation ist die recht einseitige Ausrichtung des ganzen Lebens. Alle Interessen oder „Hobbys“, die er anführt, sind bewegungsorientiert. Sein Leben ist buchstäblich „unruhig“, so unruhig, wie er sich selbst als Person auch empfindet. Er sagt ja selbst, dass er nicht still sitzen kann. Es gibt entsprechend viele Stellen im Gespräch, die den Eindruck erwecken, man habe es bei Herrn B. mit einem rastlosen Unruhegeist zu tun. Nachteil ist deswegen auch, dass bei einer solchen Persönlichkeit das Innehalten und Reflektieren (über die eigene Person) zu kurz kommt.“
Und:
„Herr B. ist sich selbst gewiss, ein technisch gesehen, guter Autofahrer zu sein, der sein Fahrzeug, im Gegensatz zu vielen anderen Menschen, auch in kritischen Situationen beherrscht. Dass dieses subjektive Sicherheitsgefühl ein möglicher Grund für sein geschwindigkeitsbetontes Verhalten im Straßenverkehr gewesen sein könnte, wird von ihm nicht formuliert.“
h) Ansatzpunkte zur Änderung von Handlungsorientierungen
„Selbstverständlich kann Herr B. auch durchaus „richtige“ Einstellungen, Überzeugungen und Einsichten formulieren. So wird in einer längeren Gesprächspassage klar, dass Herr B. im Verkehr Fairness über Erfolg zu stellen bereit ist, dass er ferner erkannt hat, dass man schnelles Fortkommen nicht erzwingen kann und stattdessen auf „Mitschwimmen“ setzen sollte. Vielleicht hat er auch Recht in seiner Meinung, dass das Schnellfahren in Situationen geschah, die noch relativ wenig riskant gewesen sind. Es ist ihm auch abzunehmen, dass er in den letzten Monaten verstärkt darauf geachtet hat, Gebote und Verbote im Straßenverkehr zu berücksichtigen und einzuhalten. Er ist sich selbst aber auch unsicher darüber, ob diese neue Haltung zukunftsfähig ist. Er weiß nämlich nicht, wie man es macht, die eigenen Vorsätze gegen situative 'Verführungssituationen' zu wappnen. Auch das wird von ihm ausdrücklich als sein Problem anerkannt.“
Als handelnde Person zeigt Herr B. demnach ein Manko auf, das man bei vielen verkehrsauffälligen Kraftfahrern antrifft: Der Mangel an selbstreflexiv-selbstkritischen Überlegungen. Eine von handlungspsychologischen Überlegungen geleitete Beschäftigung mit Menschen hat das Interesse (und das konkrete Ziel), diesen Mangel so weit wie möglich zu beseitigen.
i) Überlegungen zum Wertesystem des Probanden
Der Gutachter stellt natürlich auch Überlegungen an, wie die Fahrerlaubnis in das Ziel- und Wertesystem des Probanden eingebaut ist. Das zu wissen ist wichtig, um die Chancen und Grenzen wahrhaftigen Redens beim Probanden einzuschätzen. Im vorliegenden Gutachten wurde dazu folgendes festgestellt:
„Der Erhalt der Fahrerlaubnis hat für ihn primäre Bedeutung, was in seiner Situation nur allzu verständlich ist. Seine Lebensgrundlage hängt von dieser Fahrerlaubnis ab. Auch diese Tatsache führt natürlich zu der kritischen Frage, warum sich Herr B. nicht schon ernsthafter um eine dauerhafte Einstellungs- und Verhaltensänderung gekümmert hat. In dem vorliegenden Gespräch jedenfalls sind solche Bemühungen nicht zu erkennen.“
j) Schlussfolgerungen in Bezug auf die Ausgangsfragestellung
Eine für den Gutachter sehr interessante, aber auch zeitaufwändige
und schwierige Aufgabe ist es, die über die geschilderten Stationen
der handlungstheoretisch orientierten Begutachtung hinweg erreichten Einschätzung
der Persönlichkeit des Herrn B. als einer handelnden Person in ein
kurzgefasstes System handlungspsychologischer Aussagen zu übersetzen
und auf die Ausgangsfragestellung zu beziehen.
Sehr kurz gefasst hat dies das Obergutachten am Ende der Stellungnahme
in der folgenden Weise getan:
„Es besteht bei Herrn B., schon aus Sorge um die berufliche Existenz, der Vorsatz, zukünftig verkehrsrechtliche Bestimmungen einzuhalten und riskantes und regelwidriges Verhalten zu vermeiden. Allerdings dürfte dieser Vorsatz nur kurz- und mittelfristig tragfähig sein. Da Herr B. keine Einsicht in die psychischen Entstehungszusammenhänge seines verkehrsbezogenen Fehlverhaltens hat, da er Vorkehrungen zur Abwehr möglicher Rückfallgefahren nicht kennt und zudem eine stärker impulsiv handelnde, Handlungskonsequenzen nicht immer bedenkende Persönlichkeit ist, sind längerfristig gesehen weitere Zuwiderhandlungen nicht mit der nötigen Sicherheit auszuschließen. Zur längerfristigen Absicherung regelkonformen Verhaltens sind therapeutische Maßnahmen zur Förderung der Handlungskontrolle und Handlungsbewußtheit (Reflektiertheit) notwendig.“
Die zuständige Verkehrsbehörde hat sich die Empfehlungen des Obergutachters zueigen gemacht. Die Wiedererlangung der Fahreignung war für Herrn B. ein längerer und mühsamer Weg.
Vorgehensweisen und Überlegungen wie die hier vorgetragenen sind nicht unüblich im Prozess verkehrspsychologischer Gutachtenerstellung. Allerdings muss man sich als Psychologe bewusst sein, dass der Wunsch der Behörde nach einer sicheren Prognose zukünftigen Handelns des verkehrsauffälligen Autofahrers letztlich aus methodischen Gründen so nicht erfüllbar ist. Wir hatten ja gesehen, dass menschliches Handeln nicht kausalanalytisch im Sinne einer naturwissenschaftlichen Erklärung (wie im H-O-Schema dargestellt) betrachtet werden kann.
Es ist aber sicherlich hilfreich, die handlungspsychologischen Elemente in der Begutachtungsstrategie offenzulegen und damit dem systematischen Einsatz als Aspekte auch der Beratung des Kraftfahrers zugänglich zu machen. Auf diese Weise nämlich bekommt der Verkehrsauffällige die Gelegenheit, sein eigenes Verhalten besser zu verstehen und es seiner zukünftigen Handlungsplanung besser zugänglich zu machen. So gesehen kann man eher als vorher darauf vertrauen, dass der Betroffene zukünftig anders handeln wird als zuvor. [>158]
11.4 Ausblick
Die Falldarstellung aus dem Bereich der verkehrspsychologischen Begutachtung,
insbesondere der Ausgang dieses „Falles“ zeigt, dass auch im Berufsfeld
der Verkehrspsychologie ein Bedarf an Beratungsangeboten gegeben ist, welche
sich auf handlungspsychologische Überlegungen stützen.
Eine handlungspsychologisch orientierte Beratung
im Kontext der Verkehrspsychologie hätte unter anderem die Aufgabe,
emotionale/affektuelle Anteile verkehrsbezogenen Verhaltens von jenen an
rationalem Handeln zu unterscheiden und im individuellen Fall das Vorliegen
beider aufzuzeigen. Ziel wäre es, den rationalen Anteil zu stärken
und dem emotionalen/affektuellen Anteil bewusst zu machen und so stärker
einer Kontrolle zu unterziehen. Die in Teil I, Kap. 2 getroffene Unterscheidung
von Ursachen, Motiven (Beweggründen) und Gründen (Vernunftgründen)
mag bei diesem Vorhaben eine leicht fassbare Richtschnur sein.
Außerdem wäre zu fragen, welche Rolle
die soziale Umwelt der Fahrer in der Ausbildung der emotionalen und rationalen
Dimensionen der Mobilität der Ratsuchenden spielt.
Fasst man Mobilitätsverhalten im Rahmen handlungspsychologischer
Sichtweisen als zweckrationales Handeln auf, erscheint eine Beratung über
die von den Ratsuchenden verfolgten (Mobilitäts-)Ziele und über
die Rationalität der von ihnen realisierten Mittelwahlen sinnvoll.
Bieten die in der Beratung aufgedeckten Mittel-Ziel-Relationen das Bild
„vernünftiger“ Handlungsorientierungen in dem Sinne, dass Mittel und
Ziele in einer adäquaten Beziehung zueinander stehen, die eingesetzten
Mittel erfolgversprechend sind und den noch vorhandenen Ressourcen der
Person (auch in einem ökonomischen Sinne) entsprechen? Auch in die
Aufklärung über mögliche unerwünschte Nebenfolgen der
gewählten Mobilitätsmittel könnte die Beratung eintreten.
Ein besonderer Beratungsbedarf kündigt sich für die Zukunft
an, in der der Anteil älterer Menschen am Straßenverkehr, auch
am motorisierten, noch deutlich wachsen wird. Darauf geht unter anderem
das folgende Kapitel ein."
Aus Kapitel 15: Resümée
(S. 194ff)
Das vorliegende Buch schildert, wie handlungspsychologisch orientierte
Wissenschaftler über den Menschen als ihren Forschungsgegenstand denken
und welches Vorgehen diesem Denken angemessen ist. Wir haben versucht,
bei der Darstellung der verschiedenen Aspekte der Handlungstheorie immer
wieder auch die historische Perspektive aufzurufen. Bleiben wir in diesem
Nachwort noch einmal dabei.
Die handlungstheoretische Konzeption ist Kind einer
spezifischen gesellschaftlichen Situation im Deutschland der 1970er Jahre
und der spezifischen Lage der wissenschaftlichen Psychologie in dieser
Zeit, wie wir gesehen haben. Die Situation damals war gekennzeichnet durch
die Diskussion um die „Krise der Psychologie“. Es ist vor allem die Experimentelle
Psychologie und ihr wissenschaftstheoretischer Hintergrund (ihre Orientierung
an naturwissenschaftlicher Psychologie) gewesen, die vor etwa vierzig Jahren
die Krise ausgelöst und die „Kritische Psychologie“ auf den Plan gerufen
haben. Nach einer recht unbedarften Übernahme von Tendenzen aus der
amerikanischen Psychologie nach dem Zweiten Weltkrieg mehrten sich die
Stimmen, die die Rationalität der Entscheidung für eine quantifizierende,
experimentelle
und nomothetische (oder „szientistische“) Psychologie genauer überprüfen
wollten. Die „Kritische Psychologie“ wiederum war sicher ein Impetus, die
Handlungspsychologie voranzutreiben.
Versuchen wir rückblickend eine kurze zusammenfassende
Rekonstruktion jener Vorgänge, die zum Erstarken handlungstheoretischen
Denkens in der Psychologie geführt haben:
Die Vorstellung, was überhaupt als Wissenschaft
zu akzeptieren sei, unterliegt nicht weniger historischem Wandel, als das
Denken über die Welt ganz allgemein. Was die Psychologie angeht, so
geriet sie in den Sog einer einheitswissenschaftlichen Vorstellung. Es
waren wohl die Erfolge der modernen Naturwissenschaften, die zu beweisen
schienen, dass die Welt dem Menschen verfügbarer würde, wenn
man nach überindividuellen und ahistorischen Universalisierungen suchte,
zu denen experimentelle Methoden führten, in denen sich der Mensch
als Erkenntnissubjekt einem zu erkennenden Objekt gegenüberstellt.
Die kritische Rekonstruktion der Geschichte der
Psychologie war in diesem Zusammenhang unter anderem ausgerichtet auf jene
Vorstellungen, die die führenden amerikanischen Psychologen (und zugleich
führenden Vertreter des Behaviorismus) über die „richtige“ Form
des psychologischen Forschens vertreten hatten, die sie der naturwissenschaftlichen
Forschung
entlehnten. Das wirft natürlich die Frage auf, wie dann eine psychologische
Praxis, die Anwendung psychologischer Erkenntnisse also, aussehen
würde.
Besonders deutlich wurde, wie wir gesehen haben,
diesbezüglich J.B. Watson, der „Vater“ des Behaviorismus. In Watsons
Werk Behaviorismus (1924; in deutscher Fassung 1968) ist zu erkennen,
dass es ihm um eine Psychologie als ein Machtin[>195]strument in der Gesellschaft
geht. Watson zeichnet eine Subjekt-Objekt-Beziehung, in der der Psychologe
das aktive Subjektiv, sein „Untersuchungsgegenstand“, der (andere) Mensch
dagegen das kontrollierbare, beherrschbare Objekt darstellt. Dies belegende
herausragende Veröffentlichungen sind heute noch zugänglich,
etwa B.F. Skinners Walden Two oder Jenseits von Freiheit und
Würde. In ihnen ist zu erkennen, dass die gesellschaftliche Nutzung
psychologischer Erkenntnisse auf Basis des behavioristischen Wissenschaftsverständnisses
in eine Gesellschaft führen dürfte, der totalitäre Züge
nicht abzusprechen sind (s. dazu ausführlicher: Straub 2010a).
Deswegen war es uns wichtig zu zeigen, dass die
in diesem Buch entfaltete Handlungspsychologie weder das Menschenbild des
Behaviorismus teilt, noch dessen Sicht der Beziehungen der Menschen zueinander
unterstützt, wenn sie „praktisch“ wird, wenn sie zur Grundlage einer
Anwendungspraxis wird.
Ein Weg, einem Wissenschaftsverständnis mit
totalitären Zügen zu entgehen, war die Wiederbelebung der Erkenntnis,
dass eine in diesem Sinne „einheitswissenschaftliche“ Psychologie eine
Verdoppelung der psychologischen Realität vorsieht, von der wir berichtet
haben. In dieser Realität fristet der Mensch seine Existenz als ein
Objekt der Einflüsse unterschiedlicher Kräfte, seien sie der
Umwelt oder auch einer „Innenwelt“ zuzuordnen. Diese Einflüsse und
ihre Konsequenzen beim Menschen untersucht der forschende Psychologe von
einem als objektiv angenommenen Außenstandpunkt. Dabei wird übersehen,
dass eine Psychologie von einem solchen Objektstandpunkt aus dem Menschen
das abspricht, was den Forscher gerade kennzeichnet: bestimmte (subjektive)
Interessen, eigene Erfahrungen, Motive, Ideen, Erwartungen, Entscheidungen
etc.
Wenn man aber annimmt, dass sich der Mensch als
Gegenstand der wissenschaftlichen Psychologie prinzipiell nicht unterscheidet
von jenem Menschen, der Psychologie betreibt, dann liegt doch eine ganz
bestimmte Frage nahe: Sollte nicht besser psychologische Forschung konsequent
vom Standpunkt des Subjekts selbst betrieben werden? Genau diese Frage
hat Holzkamp (1983a; b) gestellt und positiv beantwortet. Er hat gefordert,
dass sich die Psychologie von einer Objektwissenschaft zu einer Subjektwissenschaft
zu wandeln habe, was auch bedeutet, sich bewusst als Gegenpart einer „Kontrollwissenschaft“
Psychologie zu etablieren (Holzkamp 1983 b; s. auch: Maiers & Markard
1987).
Holzkamp hat keinen Zweifel daran gelassen, dass
er in diesem Kontext eine „sinndeutende“ oder „verstehende“ Psychologie
für notwendig hält, auch wenn er sich damit der Gefahr aussetzt,
in die als überholt geltende Ecke der alten Erklären-vs.-Verstehen-Debatte
gestellt zu werden.
Psychologie vom Subjektstandpunkt aus: Das bedeutet
nach Holzkamp (1994), „die Sichtweisen und Auffassungen der betroffenen
Subjekte in der Theoriebildung und Forschung möglichst eingehend und
differenziert zur Geltung zu bringen.“ FN31 Dafür
stellt das Buch die Grundlagen bereit, dabei mussten wir sehr [>196] grundsätzlich
vorgehen. Diese Konsequenz hat auch Holzkamp gezogen. In dem zitierten
Vorschlag hat er dazu nämlich gesagt, dass es einer Veränderung
der Wissenschaftssprache bedarf, einer anderen „Grundbegrifflichkeit“.
Es sind also sehr elementare Schritte zu gehen, um zu einer Psychologie
vom Subjektstandpunkt aus zu gelangen. Die handlungspsychologische Grundbegrifflichkeit
erzeugt ein Reden über den Menschen, das sich deutlich vom Reden über
ihn aus der Position der dritten Person, des Beobachters, unterscheidet.
Um mit Holzkamp zu formulieren:
„Wir haben herausgearbeitet, dass der 'Subjektstandpunkt'
nicht nur eine bestimmte Perspektive auf die Realität einschließt,
sondern - sofern er sich irgendwie in sprachlicher, also auch wissenschaftssprachlicher
Kommunikation artikuliert - auch eine besondere Diskursform“. Statt einen
Bedingungsdiskurs zu führen (z.B. welche Variablen haben welchen Einfluss
auf das Verhalten eines Menschen gehabt?) treten wir in einen Begründungsdiskurs
ein: Welche Handlungen sind aus der Sicht der handelnden Person geboten,
vernünftig, sinnvoll gewesen?
Antworten auf diese Frage zu finden, erfordert aus
der Sicht der Psychologie vom Subjektstandpunkt eine aktive Mitarbeit der
betroffenen Menschen, also jenen, die in einer „Variablenpsychologie“ die
Rolle der Versuchspersonen, der Untersuchungsobjekte spielen. Handlungspsychologie
als Subjektpsychologie verändert diese Rolle. Die Menschen werden
eher zu Erforschern ihrer selbst, selbstverständlich mit Unterstützung
der forschenden Psychologen. Nicht nur die Diskursform verändert sich
also, sondern auch die soziale Beziehung zwischen „Forschern“ und „Erforschten“.
Wir haben dies mit unserem Hinweis auf das Konzept der Sozialwissenschaften
als Dialog näher zu beschreiben versucht. Wenn wir einmal die schon
bei Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik auftauchende Unterscheidung
von „poiesis“ (Herstellung, Hervorbringung) und „praxis“ (Lebensführung;
tätiger, auch symbolisch-kommunikativer Umgang mit anderen Menschen)
FN32
bemühen wollen: Während die zitierte, experimentell begründete
Variablen- oder Kontrollpsychologie als herstellungsorientierte Psychologie
bezeichnet werden kann (Ziel: Herstellung bestimmter Bedingungen zur Erzeugung
und Kontrolle bestimmter psychischer oder Verhaltenseffekte), begreifen
wir die Handlungspsychologie als umgangsorientiert: Ihre Erkenntnisse sollen
mithelfen, den Umgang der Menschen miteinander zu verbessern.
Wir denken, dass eine solche Psychologie Mittel
bereitstellt, dass Menschen lernen, sich selbst als Akteure in dieser Welt
besser zu verstehen. In einer Demokratie, in der die Staatsgewalt vom Volk
ausgehen soll, ist eine solche Entwicklung der Bürger existentiell.
Wer „Wir sind das Volk!“ ruft, möchte an den zentralen Entscheidungen
eines Staates mitwirken. Das aber setzt voraus, dass die Akteure Einblick
gewinnen in die psychischen Grundlagen ihrer eigenen individuellen Entscheidungen.
Ein demokratisches Staatswesen ist sicherlich vernünftig, und [>197]
die Förderung der Vernunft seiner Mitglieder ist ein wichtiges und
hohes Ziel. Holzkamp (1983a) hat von „verallgemeinerter Handlungsfähigkeit“
gesprochen, womit ein kollektives vernünftiges Handeln zum Wohle aller
bezeichnet werden sollte. Psychologie als Subjektwissenschaft könnte
mithelfen, dieses Ziel zu erreichen.
..."
Sehr schön wird das Definitionsproblem dargestellt (S. 198ff):
"15.2.2 Erste Theoriebildungs-Schritte
Die Theoriebildung beginnt nun praktisch bei einer Auswahl des betrachteten
Lebensbereiches, auf den wir unsere Theorie beziehen wollen. Man kann auch
so sagen: Dieser Schritt dient der Festlegung des Geltungsbereiches
der Theorie.
Wir denken, dass wir jene Bereiche als Geltungsbereiche
auswählen sollten, in denen erklärungsbedürftige oder „problematische“
Phänomene beobachtet werden (d.h.: wir verstehen etwas im Verhalten
von Menschen nicht oder halten etwas für ein Problem der Lebensführung,
des Zusammenlebens etc.). Schließlich können wir die Psychologie
durchaus zu den praxisorientierten Wissenschaften rechnen.
Wir nähern uns dem ausgewählten Bereich
und dem dort hervorgehobenen zu erklärenden Phänomen zunächst
beschreibend.
Das Phänomen, der Gegenstand der Theoriebildung also, soll möglichst
so dargestellt werden, dass es von jedermann erkannt oder wiedererkannt
werden kann. Zur Beschreibung des Phänomens benötigen wir Beschreibungsmittel.
Die stellt uns unsere Sprache mit ihren Wörtern zur Verfügung.
Das aber ist nicht so unproblematisch, wie es sich anhört. Im Unterschied
zur „naiven“ Theoriebildung müssen wir unsere Beschreibungsmittel
auf Verständigung und Konsensbildung auslegen. Unsere Aussagen über
unseren Gegenstand sollen ja später als „wahr“ akzeptiert werden.
Deswegen betreiben wir Begriffsbildung. Die sieht die Angabe spezifischer
Bedeutungen für die Wörter vor, die im Rahmen der Theorie zur
Beschreibung und Erklärung der Sachverhalte benutzt werden sollen.
Das heißt, wir legen eine spezifische Terminologie
fest.
Aber Vorsicht: Wir müssen beachten, dass unsere
wissenschaftliche Sprache letztlich auf der Alltagssprache aufbaut! Wir
müssen also die Bedeutung der von uns benutzten Wörter sehr kritisch
hinterfragen und ggf. neue Bedeutungen verabreden oder auch neue Wörter
erfinden.
Zur Festlegung der Terminologie gehört die
Aufstellung von Definitionen für die beschriebenen Sachverhalte.
Zumindest drei Arten von Definitionen werden üblicherweise unterschieden:
a) Nominaldefinitionen
b) Realdefinitionen
c) Verknüpfung von Beobachtungsaussagen mit theoretischen Begriffen.
Wir haben dann mit der definitorischen Festlegung zentraler Begriffe unseres Gegenstandsbereiches so etwas wie die Bausteine unserer Theoriebildung geschaffen.
15.2.3 Zum Begriff der Theorie
Aber halt: Was sind eigentlich „Theorien“? Auch das ist ein Begriff, der terminologisch geregelt sein sollte. Theorien sind (zur Hauptsache, aber nicht nur) Aussagensysteme über die Elemente des Gegenstandsbereiches, die in beschreibender und erklärender Absicht geschaffen wurden. Sie enthalten Angaben über die Beziehung der einzelnen Aussagen untereinander (beispielsweise Wenn-Dann-Beziehungen, Ursachen und Wirkungen oder Verweisungen von einen zu anderen Aussagen). [>200]
Wir müssen uns zunächst überlegen,
welche der in der Theorie vorgesehenen Beziehungen als empirische
Beziehungen (und damit in ihrer Geltung erfahrungswissenschaftlich prüfbar)
ausgezeichnet werden sollen. Es gibt ja auch Beziehungen zwischen den Termini
einer Theorie, die lediglich sprachlogischer Art sind, etwa: „Ein Schiedsrichter
nimmt eine neutrale Position ein“. Na klar, tut er es nicht, können
wir ihn nicht Schiedsrichter nennen.
Wir favorisieren in der Regel empirische
Theorien. Empirische Theorien müssen in ihren Aussagen über die
Wirklichkeit anhand von Erfahrungstatsachen überprüfbar
sein.
Was genau wird mithilfe unserer Terminologie im
Rahmen unserer Theorie geschaffen? Wir sollten diese Erzeugnisse „Konstrukte“
nennen. Dies liegt an unserem Gegenstandsbereich: menschliches Verhalten
bzw. Handeln. Eine nähere Erläuterung ist an dieser Stelle nötig:
Unsere psychologischen Begriffe im Alltag und -
wie wir bei der Darstellung der Handlungspsychologie gesehen haben - auch
in der Wissenschaft beziehen sich auf Gegenstände, die nicht direkt
beobachtbar sind. Sie sind wie Gegenstände in einem Raum, aber den
Raum können wir nicht einfach betreten und die Gegenstände ansehen
und anfassen. Wir können zwar auch über uns derart „verschlossene“
Gegenstände reden, aber die Realität unseres Redens nicht in
der Weise überprüfen wie ein Tischler, der einen Schlüssel
zum Raum besitzt, die Gegenstände in seine Werkstatt holt und sie
dort im Schein seiner Lampen betrachten kann. Der von uns in den Blick
genommene Raum ist die subjektive Welt der untersuchten Person. Sie ist
gewissermaßen der Tischler, der Zugang zu den Gegenständen im
Raum hat. Über ihre Funde kann sie mit uns reden.
Mit diesem Dialog über die verschlossenen,
gewissermaßen „in“ einer Person liegenden Gegenstände, die wir
Handlungsorientierungen einer Person genannt haben, konstruieren wir eine
„innere“ Welt des Menschen, und also nennen wir die Gegenstände unseres
Reden zu Recht „Konstrukte“. Es sind genau genommen Interpretationskonstrukte,
von denen wir annehmen, dass sie erfassen, was realiter das Handeln einer
Person anleitet, was sich uns aber nur in der Art von Anzeichen oder Symptomen
offenbart [FN33: Zu Handlung als Interpretationskonstrukte siehe im Einzelnen
Groeben 1986, S. 176 ff] Im besten Falle gelingt es uns, im Dialog mit
der Person den Interpretationkonstrukten namens Handlungsorientierungen
gültigen Ausdruck zu geben. Ist uns die Möglichkeit des Dialogs
nicht gegeben, was in den Naturwissenschaften beispielsweise der Fall ist
(Atome reden üblicherweise nicht), müssen wir uns also allein
an Anzeichen oder Symptomen für das jeweils interessierende Konstrukt
orientieren, nennen wir das Konstrukt „hypothetisch“ oder auch „theoretisch“.
Hauptbestandteil unseres Aussagensystems „Theorie“
sind in unserem Falle in der Regel explikative Aussagen für die gestifteten
Beziehungen. Das heißt: Die Handlungspsychologie stellt die Erklärung
in der Vordergrund. Es gibt auch Theorien, die eher der Beschreibung von
Sachverhalten dienen. [>201]
Das handelt uns die nächste Frage ein: Was
ist eine Erklärung? Diese Frage wird meist mit Verweis auf das subsumtionstheoretische
(deduktiv-nomologische) Erklärungsmodell nach Hempel & Oppenheim
beantwortet (vgl. Kap. 4). Deduktiv-nomologische und induktiv-statistische
Erklärungen genügen formalen Kriterien, lassen aber (übrigens
auch in den Naturwissenschaften) ein Unbehagen zurück:
Ein Phänomen formal erklärt zu haben,
heißt noch nicht unbedingt, es auch verstanden zu haben.
Ein Verstehen im Bereich der Psychologie, und dort
bezogen auf menschliches Handeln, ist am ehesten erreicht durch
Verweis auf jene Orientierungen oder „Argumente“, die ein Handelnder in
seinen Handlungen, in der Wahl der alternativen möglichen Verhaltensweisen,
beachtet hat. Es sind, da dieser Verweis sich auf Wahl- und Entscheidungssituationen
bezieht, intentionale Erklärungen, etwa durch Nennung eines Zieles,
dessen Herbeiführung durch die Handlung intendiert wurde. Das ist
doch wohl das Besondere des Verhaltens von Menschen gegenüber dem
anderer Lebewesen!
Die Erfahrung dieser Besonderheit des Menschen
gegenüber Fröschen und Pfannkuchen ist der Grund, warum wir zum
Zwecke der verständlichen Beschreibung und plausiblen Erklärung
menschlichen Verhaltens und Erlebens durch Handlungspsychologie in der
Regel bestimmte Reflexionen und Argumentationen (beispielsweise Absichten)
hinzukonstruieren. Hier macht es auch Sinn; einem fallenden Stein Absichten
zu unterstellen, macht dagegen keinen Sinn, wie man seit Galilei entschieden
hat.
Keine Frage, dass die so konstruierte Theorie bestimmte
Gütekriterien erfüllen sollte, wie wir es für alle wissenschaftliche
Theorien fordern: z.B. Widerspruchsfreiheit der Aussagen, semantische Einheitlichkeit,
Sparsamkeit etc.
Übrigens: Theorien sind nicht ausschließlich Aussagesysteme.
Sie enthalten als „Kernannahmen“ (Herrmann 1976) auch „metaphysische“,
d.h. nicht mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden beweis- oder widerlegbare
Annahmen. Theo Herrmann hat uns gezeigt, dass in wissenschaftliche Theorien
keineswegs nur Aussagen mit hypothetischen Konstrukten und intervenierenden
Variablen eingehen, die dann zu theoretischen Systemen miteinander verknüpft
werden. Was also führen wissenschaftlich tätige Psychologen in
ihre Theoriebildung neben ihrem jeweiligen, ggf. individuell unterschiedlichen
kulturellen Hintergrund und den Wörtern der von ihnen benutzten lebensweltlichen
Sprache sonst noch als eher selten hinterfragte Prämissen ein?
Es sind mehr oder weniger komplexe bildhafte, metaphorische
oder sonstwie symbolische Modelle von der Welt und ihren Menschen,
die wir mitdenken, wenn wir einen Gegenstand unserer Welt, beispielsweise
bestimmte menschliche Ver-[>202]haltensweisen, beschreibend und erklärend
erfassen. Man spricht von den unterschiedlichen Menschenmodellen
und Weltbildern, die in psychologischen Theorien wirksam werden.
Menschenmodelle regeln unter anderem den Einsatz der Untersuchungsmethoden.
Als unterscheidbare Menschenmodelle kennen wir u.a. das Modell des
Unser Handlungsmodell setzt sich deutlich ab von unterschiedlichen
Maschinenmodellen, die in der Geschichte der Psychologie als Analogien
für den menschlichen Organismus gedient haben. Ein erfolgreiches Erklären
und Verstehen menschlichen Verhaltens als Handlung soll eine erfolgreiche
psychologische Praxis ermöglichen, die in Zusammenarbeit mit den Betroffenen
realisiert wird und nicht gegen sie oder mit den Mitteln ihrer Manipulation.
In dieser Weise könnte man das Erkenntnisinteresse formulieren,
das wir mit dem Aufbau einer Handlungspsychologie verfolgen."
__
FN31 In einem Vortrag im Rahmen des Potsdamer Kolloquiums
zur Lern- und Lehrforschung am 23. Februar 1994.
FN32 Siehe z.B. Straub 2010a.
FN33 Zu Handlung als Interpretationskonstrukte siehe
im Einzelnen Groeben 1986, S. 176 ff.
Nachdem die Psychologie im allgemeinen Konsens -
auch von den Autoren - als die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten angesehen wird, gehört die Handlungspsychologie zum Verhalten, und ist begrenzt auf rationales, d.h. begründbares, bewusst und frei gewähltes Verhalten, das eben Handeln genannt wird. Damit ist die ganze Psychologie und Psychopathologie des Erlebens - das Stichwort, obwohl Grundbegriff, kommt im Sachregister nicht vor - nicht Gegenstand der Handlungspsychologie. Auch nicht intuitives, nicht bewusstes, gewohnheitsmäßiges, reflexartiges, ("halb-") automatisches Verhalten. Obwohl Kommunikation im Beratungsprozess notwendigerweise über das Erleben stattfinden muss, bleibt dieser wichtige Teil ausgespart bzw. auf wenige (zweck-) rationale Teile beschränkt (Erwartung, Ziel, Oberziel, Mittel, Zweck, Zweckrationalität ...). Obwohl die beiden Autoren sicher nicht verdächtig sind, dem Behaviorismus nahe zu stehen, fehlt, wie bei diesem, die Psychologie des Erlebens. Allerdings hat der Handlungsbezug auch große wissenschaftliche Vorteile, weil man vielen subjektiven Nebeln und Unklarheiten entrinnt. |
Schön wäre für die Zukunft ein eigenes, explizites Kapitel zur idiographischen Wissenschaftstheorie, der Wissenschaft vom Einzelfall. Die Worte Idiographie und Einzelfall haben im Sachregister keinen Eingang gefunden. Zwar werden drei Erklärungsmodelle für Handlungen im Kapitel 4 ausdrücklich behandelt: Deduktiv-nomologische Erklärungen (Hempel-Openheim-Schema: Gesetz, Voraussetzung, Situation, Folgerung), Teleologische Erklärungen (Ziel-Mittel-Beziehungen: A macht B um C zu erreichen) und Narrative Erklärungen (Entstehungsgeschichte, Zusammenhang), aber vielleicht doch noch zu wissenschaftstheorielastig für die Praxis. Die Zirkularitätsscheu, Motive ja nicht durch Handlungen zu evaluieren, kostet einen sehr hohen Preis. Die Ablehnung der Korrespondenztheorie der Wahrheit kommt der Praxis auch nicht sehr entgegen.
Besondere Bewertung
für die forensisch-psycho-pathologische Begutachtung
In der forensischen Psychiatrie, wie in der rein nomologisch und damit
unzulänglich verstandenen Psychologie, werden Menschen überwiegend
wie Objekte behandelt. Ob sie mit einer Untersuchung überhaupt einverstanden
sind, interessiert niemanden. Selbst ein grundlegender Verfassungsgerichtsbeschluss
aus 2001 zur Mitwirkungsbereitschaft wurde von den Standardwerken der
forensischen Psychiatrie ignoriert.
Wer nicht "freiwillig" mitmacht, über den werden Meinungsachten
auf der bloßen Basis von "Akten"
verfasst, auch wenn dies in nahezu allen Fällen bei Beweisfragen (besonders
zu den §§ 20,
21,
63,
64,
67
StGB) zu gar keinen wissenschaftlich begründbaren Antworten auf die
Beweisfragen führen kann, weil die Informationen und
Daten zu den Tatzeiträumen fehlen. Differenzierte Verhaltens-
und Handlungsmodelle fehlen in der forensischen Psychiatrie völlig.
Tiefer- und weitergehend muss neben diesem berufs-
und wissenschaftstheoretisch außerordentlich fragwürdigen Vorgehen
aber die Grundsatzfrage gestellt werden, welche Voraussetzungen überhaupt
erforderlich sind und erfüllt sein müssen, damit wir verwertbare,
tragfähige und zuverlässige Auskünfte von einem Menschen
über sein Erleben und Verhalten, z.B. sein Befinden, Fühlen,
Denken, Wollen zu den infragestehenden Tatzeiträumen, wie es der §
20 StGB verlangt, erhalten können? Schon der gesunde Menschenverstand
sollte nahelegen, dass dies nur funktionieren kann, wenn eine tragfähige,
partnerschaftliche und vertrauende Arbeitsbeziehung hergestellt werden
kann, was im forensisch-psycho-pathologischen Bereich nicht selten schwierig
und manchmal sogar auch unmöglich ist. In der psychologischen Psychotherapie
ist diese grundlegende Einstellung zur Arbeitsbeziehung weitgehend selbstverständlich.
Und psychologische Psychotherapeuten lernen und können üblicherweise
auch explorieren.
Die Handlungspsychologie mit ihrem subjektwissenschaftlichen
Ansatz liefert hier eine wissenschaftlich fundierte Orientierung (>Prinzipien
der Beratungsforschung), die die komplizierte Wechselwirkungsbeziehung
zwischen Subjekt und Objekt in der Begegnung durch ausdrückliche Anerkennung
und Berücksichtigung überwindet, sondern damit auch humanistischer
Ethik entspricht und das Grundrecht der Menschenwürde praktisch
achtet.
Explanans | Al: Die Person befindet sich in der Situation S
A2: Die Person hat das Motiv M G: Jede Person, die das Motiv M hat, führt in einer Situation von der Art S die Handlung H aus. |
Explanandum | E: Die Person führt die Handlung H aus. |
Diese Form der Erklärung ist verträglich mit einer kausalen
Erklärung, wie wir sie als deduktiv-nomologische Erklärung kennengelernt
haben, welche (gesetzesartige) Beziehungen zwischen empirisch überprüfbaren
Sachverhalten darstellt.
Ein zweiter Blick auf dieses dispositionelle Erklärungsschema
aber wirft Fragen auf: Wenn die Allgemeinaussage G ein Gesetz wiedergäbe,
dann müssten das Motiv M, die Situation S und die Handlung H als unabhängige
empirische Tatsachen gelten, was heißt: voneinander unabhängig
und eindeutig beobachtbar.
Es fragt sich hier allerdings, woher wir wissen,
dass die Person das Motiv M hat? Üblicherweise schließen wir
das Vorhandensein eines bestimmten Motivs aus dem Auftreten bestimmter
Handlungen. In diesem Falle aber wäre die hier formulierte Allgemeinaussage
keine empirische Hypothese, sondern gäbe eine analytische Beziehung
zwischen M und H wieder und wäre damit eine analytisch wahre Aussage.
Eine deduktiv-nomologische Erklärung ist im Falle des Bezuges auf
Motive nur dann möglich, wenn die das Verhalten erklärenden Motive
einer Person unabhängig von diesem ihrem Verhalten festgestellt werden
könnten."
Für die These des Selbstgespräches
bleiben die Autoren Belege schuldig. Was machen dann Stumme? Ich selber
habe mich noch nie dabei ertappt, ein solches Selbstgespräch bei trivialen
Alltagsprüfungen, etwa ob es regnet, noch Milch da oder die Tür
offen ist, durchgeführt zu haben. Nachdem wohl auch Tiere ohne elaborierte
Sprache zu Erkenntnissen, ob da eine Banane hängt, ein Feind sich
nähert oder ob es dunkel wird, fähig sind, wird hier die Bedeutung
der Sprache überbetont, es sei denn, man begreift Denken
schon als Sprache (des Geistes). Was geschieht also genau, wenn zu prüfen
ist, ob noch Milch da ist? Nun, man begibt sich an den Ort, wo man die
Milch aufbewahrt und sieht nach, ob im Gefäß noch welche ist.
Es wird sozusagen eine Vorstellung von "Milch da sein" mit einer Wahrnehmung
"ist Milch da" verglichen. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit wird in
der Praxis vielfach erfolgreich und routinemäßig angewandt,
auch wenn sie nicht alles richtig oder erschöpfend bestätigen
kann. Bild und Abbild, Kopie oder Modell korrespondieren üblicherweise.
__
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
Buchpräsentation site: www.sgipt.org. |
korrigiert: 15.02.2014 irs