Sind wir noch zu retten?
Warum Staat, Markt und Gesellschaft auf einen Systemkollaps
zusteuern.
von Klaus Schweinsberg
präsentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
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Warum Staat, Markt und Gesellschaft in den nächsten Jahren der Kollaps droht 7
Die beängstigenden Parallelen zu den Systembrüchen 1517, 1618, 1713, 1815 und 1914 ... 15
Was uns erwartet – acht Wirkmächte dieser Dekade
29
Das fundamentale Systemversagen – ist es unvermeidlich?
Was wir jetzt (noch) tun können 191
Nachwort:
Die Geringschätzungsspirale gefährdet unsere Demokratie
217
Danksagung 221
Literatur 223
Stichwortverzeichnis 227
Über den Autor 237
"WARUM STAAT, MARKT UND GESELLSCHAFT IN DEN NÄCHSTEN JAHREN DER
KOLLAPS DROHT
»So foul a sky clears not without a storm.« William Shakespeare
Die Weltwirtschaft hat sich scheinbar gefangen, die Auftragsbücher der deutschen Unternehmen füllen sich, die Gewinne sprudeln, die Börsen haben sich erholt. Auch die Zocker sind erneut an den Finanzmärkten unterwegs, mit Rohstoffen wird wie verrückt spekuliert. Alles wird wieder gut, alles läuft wieder wie vor dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers, deren Pleite die Welt in den Abgrund zu reißen drohte. Dieser Eindruck drängt sich dem Beobachter auf.
Deutschland steht vermeintlich vergleichsweise gut da. Dabei hatte es wie kaum ein anderes Land eine Schrumpfung seiner Wirtschaft zu verkraften. Und doch hat fast jeder ein mulmiges Gefühl. Die Symptome der Krise sind sicher behoben, aber sind die Ursachen wirklich therapiert?
Man kennt die Diagnose aus der Medizin. Der Patient leidet seit Längerem an diversen Krankheiten. Jede der Schwächen ist zwar belastend, aber für sich genommen nicht besorgniserregend. Doch plötzlich kippt die Entwicklung. Aus beherrschbaren Krankheiten entsteht über Nacht eine letale Kettenreaktion. Die Ärzte müssen kapitulieren. Sie können nur noch multiples Organversagen konstatieren. [>8]
Deutschland treibt in der 2010 angebrochenen Dekade auf eine vergleichbare Entwicklung zu: auf ein multiples Organversagen. Und zwar der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organe.
In aller Kürze könnte das ärztliche Bulletin für die Republik ungefähr wie folgt lauten: Nach dem schweren Zusammenbruch zur Jahreswende 2008/2009 kommt der ökonomische Kreislauf des Patienten nicht mehr richtig in Schwung. Zwar schreitet seine Genesung zunächst zu aller Überraschung zügig voran, er blüht geradezu auf, die starke Exportnachfrage wirkt wie ein Dopingmittel. Doch diese Phase erweist sich nur als kurze Episode. Den Patienten holt alsbald sein wahrer innerer Zustand ein. Um Körper und Kopf ist es nicht gut bestellt, der harmonische Gleichlauf zwischen den Teilen geht verloren. Die Balance zwischen Jung und Alt kippt. Die Bevölkerung schrumpft und altert – und so verliert der deutsche Patient fast zwangsläufig an Substanz und Spannkraft. Jugendliche Unbeschwertheit und Unbefangenheit, Erfindergeist und Veränderungsbereitschaft schwinden. Vor diesem Hintergrund fällt die längerfristige Prognose ungünstig aus. Das Leistungsvermögen kann sich nur schleppend verbessern. Nennenswertes wirtschaftliches Wachstum bleibt nach dem Zwischenhoch 2010 auf Jahre hin aus.
Auch die politische Konstitution ist ein Jammer. Der Staat steht auf zunehmend wackligen Beinen. An keiner Stelle gelingt es ihm, Stärke zu zeigen. Die dringend überfällige Sanierung der Staatsfinanzen wird im parteipolitischen Klein-Klein totgeredet. Die Regierungen im Bund und in den Ländern scheitern darin, den Kreditbedarf des Staates auf Dauer zu drosseln. Für echte Reformen in den Bereichen Gesundheit, Bildung und Demografie fehlen Mut und Willenskraft. Der Staat wirkt zunehmend gebrechlich und anfällig (für falsche Ratgeber aus den Reihen der Lobbyisten).
Der schwächliche Auftritt zehrt gewaltig an der Legitimität. Die Bevölkerung verliert ihren Glauben an die Institutionen der repräsentativen Demokratie und der Marktwirtschaft. Der politische Frust führt zu wachsender Wahlverweigerung und Desinteresse an der Politik. Mit dem Ansehen des Systems verfällt auch die Akzeptanz parlamentarisch getroffener Mehrheitsentscheidungen oder demokratisch legitimierter Verwal-[>9]tungsakte. Immer öfter begehren Betroffene vor Gerichten auf. Oder es formiert sich eine Abwehrfront in der Gesellschaft, organisiert von einer Handvoll Aktivisten, die eine große Zahl gleichgesinnter in kurzer Zeit zu mobilisieren verstehen, wobei ihnen die neuen elektronischen Formen der Kommunikation per Twitter, Blogs und Chats eine große Durchschlagskraft verleihen, wie sie der außerparlamentarischen Opposition der Achtundsechziger nicht zur Verfügung stand.
Auf allen Ebenen mischen sich Bürgerbewegungen ein. Mal stoppen sie ein halbfertiges Kohlekraftwerk im nordrhein-westfälischen Datteln, mal verhindern sie den Abriss des maroden Schauspielhauses in Köln zugunsten eines Neubaus. Mal wehren sie sich gegen den Bau von Hochspannungsleitungen durch den Thüringer Wald, um den Strom der in Nord- und Ostsee gelegenen Windparks in den Süden der Republik zu transportieren. Dann wiederum erzwingen sie in Bayern ein totales Rauchverbot in Gaststätten und wenden in Hamburg eine Schulreform ab, die durch längeres gemeinsames Lernen von Schülern die Integration der sich sozial auffächernden Gesellschaft verbessern sollte. Der politische Kampf verschärft sich. Der Protest verlagert sich zunehmend auch auf die Straße, wie der Bürgerprotest gegen Stuttgart 21 und die Massendemonstrationen gegen den Ausstieg aus dem Ausstieg bei der Kernenergie zeigen.
In den neuen Beteiligungsformen können große Gefahren für unser politisches System lauern, vielleicht aber auch Chancen für eine Revitalisierung unserer Demokratie liegen.
Wohlwollend betrachtet: Überall entstehen Graswurzelbewegungen, bilden Bürger spontan und punktuell Allianzen auf Zeit zur Durchsetzung wichtiger Anliegen der Allgemeinheit. Sie nehmen mehr und mehr die Geschicke des Landes in die eigene Hand. Hier entwickeln sich die Keimzellen neuer Formen direkter Demokratie.
Argwöhnisch betrachtet: Eine Event-Demokratie ist im Entstehen. Die Fraktion der Latte-macchiato-iPhone-Jünger ist dabei, ihre Vorstellungen vom guten Leben zur allgemeinen Norm zu machen. Auf dem Weg [>10] dorthin erobert diese artikulationsmächtige Minderheit sukzessive die Deutungsmacht über die Politik, dirigiert zunehmend Stimmungen und Aktionen und verdrängt die Stammtische als Träger der politischen Lufthoheit im Land. Ihre Stärke liegt im Neinsagen, ihre inhaltlichen Positionen richten sich gegen Veränderungen. Damit treffen sie das Grundgefühl eher unpolitischer, aber von unversicherter Mittelschichten, deren Status durch Globalisierung, technischen Fortschritt und Arbeitsmarktflexibilisierung erschüttert wird und die sich daher von den Lifestyle-Aktivisten für deren Zwecke einspannen lassen.
Die Demokratie steht am Scheideweg: Werden die Parlamente als die Orte kritischer Reflexion, als die Agenten des Gemeinwohls und Inhaber demokratisch legitimierter Entscheidungsgewalt abgelöst und entmachtet? Oder saugt das politische System die neuen Bürgerbewegungen auf, was unserem Land einen großen Innovationsschub von unten bringen könnte?
Die politische Verunsicherung wächst. Der Veränderungsdruck ist groß. In welche Richtung sich unser demokratisches System bewegt, ist offen. Die Unruhe in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts führte zu der 68er-Bewegung und den von ihr initiierten Umwälzungen, aus denen die Demokratie gestärkt hervorging. In der Weimarer Republik endete die politische Unzufriedenheit im Totalitarismus.
Der öffentliche Applaus für die Thesen von Populisten am linken und rechten Rand schwillt jedenfalls an. »Eine resentimentgeladene Kulturrevolte der schweigenden Mehrheit« spürt der Philosoph Rüdiger Safranski im Deutschland unserer Tage. Thilo Sarrazin hat sich – eher unbeabsichtigt – zu deren Sprachrohr gemacht. Die durch akuten Leser- und Anzeigenschwund geschwächten Medien hecheln jedem Tabubruch hinterher, um Auflage zu pushen – und empfehlen sich dadurch als Steigbügelhalter von Populisten jeder Couleur. Verfestigt sich der im Zuge der Integrationsdebatte hochkommende Widerstand gegen Zuwanderung, dann wird das vergreisende Deutschland die Folgen bald zu spüren bekommen: Die Bewältigung des demografischen Wandels wird für uns alle noch teuer, wenn nicht für uns, dann für unsere Kinder. [>11]
In vielen anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sieht es sogar schon schlimmer aus. Dort sind rechte Populisten bereits in den Parlamenten, teils sogar in der Regierungsverantwortung. Staaten wie Frankreich, Ungarn und die Niederlande machen offen Front gegen ausländische Minderheiten. Wirtschaftlich hängen immer mehr Volkswirtschaften am Tropf von EU-Bürgschaften und/oder Kredithilfen der Weltbank beziehungsweise des Internationalen Währungsfonds. Die Sorge um den Euro wächst. Das bisher recht harte Geld droht durch die Schuldenwirtschaft und erwartete Inflation weich zu werden. Die Folge: Wachsendes Misstrauen und dann Kapitalflucht der internationalen Anleger. In Deutschland wird der Ruf nach einer Währung nur für Kerneuropa oder einer Rückkehr zur D-Mark lauter.
Zugleich nehmen rasant und merklich die Belastungen für die Bürger zu: Die Alterung der Bevölkerung und die Fortschritte in der Medizin lassen die Kosten ins Kraut schießen. Krankenkassenbeiträge, Abgaben und Steuern kennen nur einen Weg – nach oben.
Jede dieser Entwicklungen wäre eigentlich zu kurieren. Überlagern sich indes diese Gebrechen, dann entsteht so viel Druck im politischen und wirtschaftlichen System, dass es am Ende zusammenbrechen muss: das multiple Organversagen.
Das System mag versagen, die Menschen bleiben. Sie werden sich ihren Weg bahnen – vorbei an schwachen demokratischen Institutionen und schlecht funktionierenden Märkten.
Dass Organversagen gerade jetzt droht, ist kein Zufall. Blickt man in die letzten 500 Jahre der europäischen Geschichte, so lässt sich feststellen, dass es mit schöner Regelmäßigkeit in der zweiten Dekade eines Jahrhunderts zum Systembruch kommt.
Gewiss, jeweils schon zum Ende eines Jahrhunderts steigt die Nervosität, keimt die Angst der Bevölkerung vor dem Ende der Welt. Endzeitpropheten haben Hochkonjunktur. Unsere Generation durfte das Ende der 1990er-Jahre erleben. Zunächst sollte die Einführung des Euro den [>12] Untergang Europas besiegeln. Dann bangten wir alle auf endzeitlich gestimmten »Year 2000«-Partys, ob die digitale Welt an der Umstellung der Computer von 1999 auf 2000 zerschellen würde.
Nie in der jüngeren Geschichte endete indes eine Epoche zeitgleich mit dem Auslaufen des jeweiligen Jahrhunderts. Dort fand gewissermaßen nur der erste Fieberschub statt. Die bedrohliche Krankheit brach stets erst zwei Dekaden später aus. Es war immer die Phase zwischen den Jahren 10 und 20, in der ein Systembruch stattfand.
Nicht wenige Indizien deuten darauf hin, dass der Zusammenbruch in diesem Jahrzehnt bereits in den Jahren 2012 bis 2014 erfolgen könnte. In diesem Zeitraum ballen sich mehrere Ereignisse, die das Zeug für einen gefährlichen Cocktailmix liefern.
2014 hat das Zeug zum Schicksalsjahr – für die Zukunft Europas und Deutschlands Verankerung in der Staatengemeinschaft. Spätestens dann wird sich nach dem Rettungsprogramm vom Frühjahr 2010 zeigen, ob Griechenland wieder auf eigenen Füßen stehen kann. Die getroffenen Hilfsvereinbarungen mit dem Internationalen Währungsfonds und der Euro-Zone laufen zwar bereits 2012 aus, aber wenn Griechenland nicht völlig abdreht, dürften auch die Helfer guten Willen zeigen und ihre Hilfen prolongieren. Der IWF zumindest hat seine Bereitschaft dazu schon vorsichtig angedeutet. Auch andere, schon heute instabile Länder wie Ungarn und Litauen, denen der IWF und die EU ebenfalls finanziell unter die Arme gegriffen hat, stehen 2014 vor einem Leistungsexamen.
Bis dahin wird sich auch entscheiden, ob die geschwächte Supermacht USA sich wieder erholt und trotz hartnäckiger Wachstumsschwäche und ungewöhnlich hoher Arbeitslosigkeit die weiter wachsende Staatsverschuldung und das gewaltige Handelsdefizit in den Griff bekommt. Nouriel Roubini, der als einer der wenigen Ökonomen mit seinen Prognosen in den letzten Jahren richtiglag, sagt dazu: »Das Risiko, dass in den nächsten zwei oder drei Jahren etwas Ernstes in den Vereinigten Staaten passiert, ist erheblich.« [>13]
Bis zur Mitte des Jahrzehnts wird sich auch herausstellen, ob die politischen Anstrengungen auf globaler Ebene fruchten, das internationale Finanzsystem dauerhaft zu stabilisieren und unverantwortlichen Spekulanten einen Riegel vorzuschieben. Im Kern geht es darum, »vernünftige Proportionen zwischen nominalen Geschäften und realer Wertschöpfung wieder herzustellen«, sagt Ex-Finanzminister Peer Steinbrück. Jetzt ist die Abweichung gefährlich groß: Das Handelsvolumen an den Finanzmärkten ist auf 4400 Billionen Dollar ausgeufert und beträgt damit 70 Mal so viel, wie das jährliche globale Bruttoinlandsprodukt.
Weltpolitisch wird die Sicherheitslage wohl noch heikler als heute. Die Außenpolitiker werden, angeführt von dem um seine Wiederwahl fürchtenden US-Präsidenten Barack Obama, den Abzug vom Hindukusch beschleunigen und damit womöglich einen sicherheitspolitischen Dammbruch in Europa auslösen.
Denn den wachsenden Freiraum werden radikalislamistische Gruppen als logistische Basis für Terroreinsätze im Westen zu nutzen wissen – und in der Region schlimmstenfalls an die Atomwaffen Pakistans kommen. Kurzum: Die Sicherheitslage weltweit und auch in Deutschland wird deutlich prekärer, als sie heute schon ist.
In Deutschland könnte die Bundestagswahl 2013 eine rot-rot-grüne Koalition ans Ruder bringen. In der Finanz- und Währungspolitik dürfte diese Regierungskoalition geneigt sein, eher stärker auf Schuldenpolitik zu setzen. Gewissermaßen auf den Spuren von Oskar Lafontaine wird sie das Bündnis mit Paris suchen – gegen die stabilitätsbewusste EU-Kommission und gegen die Währungshüter der Europäischen Zentralbank. Die Stabilität des Euro würde zerfließen. Nicht zuletzt deshalb prognostiziert Roland Leuschel, der den Einbruch am Aktienmarkt im Jahr 1987 und das Finanzdebakel 2008 sauber vorhergesehen hat, den großen Knall: Für 2014 sieht er die nächste Währungsreform voraus.
Geschichte wiederholt sich nicht. Aber sie verläuft in Zyklen des Aufstiegs und des Niedergangs von Gemeinwesen. Blickt man auf die letzten 500 Jahre, so ist auffallend, dass ausgerechnet jeweils im zweiten Jahrzehnt [>14] eines Jahrhunderts ein Systembruch stattfand. Meist unvermittelt, immer mit heftigen und weitreichenden Implikationen. Nicht selten erwuchs aus dem Systemkollaps anschließend eine Ordnung, die besser und stabiler war. Nach dem Systembruch wurde nicht immer alles schlechter, aber es wurde eben anders.
Viele Gründe legen nahe, dass auch das 20. Jahrhundert in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts sein Ende finden wird. Wie tief greifend und wie schmerzlich dieses Ende sein wird, steht nicht fest. Noch haben Politik und Wirtschaft die Chance, einzugreifen. Und die Zeit, sich ernsthaft anzuschicken, die einzelnen Krankheiten zu therapieren und das Land insgesamt in eine gute Zukunft zu steuern. Leugnen wir weiterhin deren Existenz, wird ein multiples Organversagen wahrscheinlich."
"Was jetzt zu tun ist
»Diese Bedrohung ist noch nicht vorbei, da ihre Ursachen noch
nicht bezwungen sind. Ihre Nachwirkungen werden uns länger beschäftigen
als jede andere Finanz- und Wirtschaftskrise in den vergangenen Jahrzehnten.
Die Welt wird nach dieser Krise anders aussehen als vor ihrem Beginn. Die
Vorstellung, es gebe mit ihrer Überwindung eine Art Reset und der
Lauf über das gleiche Spielfeld mit den gleichen Regeln könne
von vorn beginnen, ist ebenso naiv wie gefährlich.« Dieser Satz
stammt nicht von einem weltfremden Reformeiferer, sondern von einem erfahrenen
Berufspolitiker, einem Hauptakteur beim Krisenmanagement von Finanzen und
Wirtschaft, Peer Steinbrück, der oben seine Standesgenossen eines
mangelnden Erkenntniswillens geziehen hat.
Seine Sicht deckt sich mit der Sicht einer kleinen, aber wachsenden Zahl an Bürgern, denen schwant, dass es so wie bisher nicht weitergehen kann, dass ein Kurieren an den Symptomen der Situation nicht mehr gerecht wird. Einige macht es wütend, dass die Politik schon fast trotzig diese Stimmungslage ignoriert, ja totzuschweigen versucht. Andere - und ich fürchte, das ist das Gros der am Gemeinwohl interessierten Bevölkerung - haben längst den Rückzug aus dem politischen Raum angetreten. Mit den bekannten Folgen für die Wahlbeteiligung, leider aber auch für den Informationswillen über politische Zusammenhänge.
Die Ökonomen Guy Kirsch und Klaus Mackscheidt haben in ihrem Buch »Staatsmann, Demagoge, Amtsinhaber« eindrücklich auf die Gefährlichkeit einer solchen Situation hingewiesen. In einem Gemeinwesen, in dem die Amtsinhaber unliebsame Stimmungen lange unter dem Deckel zu halten versuchen und kein Staatsmann in Sicht ist, der sich traut, die un[>196]angenehmen Themen mutig öffentlich zu machen, wird sich über kurz oder lang ein Demagoge etablieren, der aus Stimmungen dann Stimmung macht. Das passiert derzeit in Europa allerorten. Und in Deutschland ist es bis dahin nicht mehr weit.
Die Politik muss sich beeilen, endlich Therapien anzubieten, die tiefgreifender sind, die angesichts der Schwere der Erkrankung unseres Gemeinwesens von der Bevölkerung nicht als Verhöhnung empfunden werden. Und angesichts der prekären Lage des Patienten und seines unklaren Krankheitsbildes muss es auch gestattet sein, über Heilmethoden zu reden, welche die politische Schulmedizin bisher naserümpfend bis hochnäsig ablehnte.
Den seit Jahren notorisch von den politischen (und wirtschaftlichen) Berufsträgern vorgetragenen Einwand, wonach ein Reformvorschlag weltfremd, nicht umsetzbar, unrealistisch sei, kennen wir sattsam. Die Damen und Herren an den Hebeln der Macht sollten sich zwingen, sich diesen Einwand in der aktuellen Situation zu verkneifen. Denn erstens mussten wir alle schmerzhaft erkennen, dass der ausgeprägte Pragmatismus und Realitätssinn der Amtsinhaber uns in die Krise geritten hat. Und zweitens gilt unverändert der Satz Albert Einsteins, wonach Probleme niemals mit derselben Denkweise zu lösen sind, durch die sie entstanden sind. Die Pleite der Investmentbank Lehman Brothers und deren weitreichende Folgen sowie die gewaltigen Turbulenzen vor, während und nach der Fast-Pleite Griechenlands haben deutlich vor Augen geführt, dass wohl eher die vermeintlichen Utopisten mit ihren Prognosen richtiglagen. Die sogenannten Realisten und Pragmatiker waren gerade in den Krisentagen seltsam einsilbig geworden.
Kurzum: Mit kleineren konventionellen Eingriffen werden wir den Kollaps des Systems nicht abwenden. Was es nun braucht, ist beherztes Eingreifen und den Mut auch zu unorthodoxen Therapien. Für einen umfassenden, in allen Neben- und Wechselwirkungen getesteten Behandlungsplan fehlt indes die Zeit. Egal, welche Maßnahmen man nun ergreift, sie werden zu Widersprüchen und zu Nebenwirkungen führen. Die Publizisten Giovanni di Lorenzo und Axel Hacke schreiben in ihrem neuen [>197] Buch »Wofür stehst Du? Was im Leben wichtig ist«: »Aus kaum einer Krise oder Konfrontation, sei es privat, beruflich oder politisch, kommt man mit nur einer Erkenntnis heraus, oft aber mit vielen Widersprüchen.«
In diesem Sinne sind die nachfolgend genannten neun Ansatzpunkte kein sicheres Allheilmittel für unser zunehmend sieches System, aber sie sind diskussionswürdig. Ziel ist, einen Kollaps des Systems in den nächsten Jahren im besten Fall zu verhindern, jedenfalls aber die Wucht eines Zusammenbruchs zu dämpfen."
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