Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    IP-GIPT DAS=09.09.2004 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 16.9.4
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail:_sekretariat@sgipt.org_

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    Willkommen in unserer Abteilung Geschichte der Wissenschaften, Bereich Psychologie, und hierz speziell zum Thema:

    Geschichte der Psychologie

    Erste psychologische Messungen bei Nachempfindungen
    durch J.N. Tetens um 1770 ?

    mitgeteilt und aufbereitet für das Internet von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Vorbemerkung: Tetens Werk ist ein reichhaltiger Schatz grundlegender und noch vielfach heute richtiger und aktueller psychologischer Ideen - vielfach lehrreicher als manche modische "Neuroscientologen". Empirische Wissenschaft hat natürlich auch etwas mit überprüfbarem Beobachten, Experimentieren und Messen zu tun. Man setzt das Geburtsdatum der wissenschaftlichen Psychologie gewöhnlich mit der Eröffnung des Psychologischen Labors durch Wilhelm Wundt im Jahre 1879 in Leipzig gleich. Die Erfahrungsseelenkunde beginnt aber bereits 100 Jahre früher. Eine frühe Quelle über erste Meßergebnisse bei Nachempfindungen fand ich S. 31(direkt zur Textstelle) bei :
     

      Tetens, J. N. (1777). Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung. Leipzig: Weismanns Erben und Reich. 1. Bd. Nachdruck der Kantgesellschaft 1913, Berlin: Reuther und Reichard.


    Hier der Kontext (g e s p e r r t bei Tetens hier kursiv dargestellt, [in eckigen Klammern die Seite des Nachdrucks], {in geschweiften Klammern die Originalseite}):

    {31}[30]

    V.

    Von den Gesichtsvorstellungen. Entstehungsart
    derselben. Unterschied zwischen Empfindung und
    Nachempfindung. Einbildung.

       Eine gespannte Saite eines Instruments fähret eine Weile fort, nachzuschwingen, wenn sie einmal angeschlagen oder gedruckt worden ist, und der Perpendikel, welcher angestoßen worden ist, setzet noch seine Schwingungen fort, ob er gleich nun nicht mehr von der Hand, die ihn anstieß, berühret wird. Die Saite nimmt in dem ersten Augenblick die Bewegung auf, und wirket zugleich zurück auf den Körper, der sie anschläget, und erschüttert. Dieser Empfang der Bewegung, und die damit verbundene Rückwirkung mag eine Thätigkeit seyn, oder nur etwas leidendes; so ist beydes schon nicht mehr vorhanden, wenn die Saite zu zittern fortfähret. Der stoßende Körper hat sich als[>31]denn entfernet, und die Rückwirkung hat aufgehöret. Ihre Bewegung in dem folgenden Augenblick ist die Fortsetzung derjenigen, welche sie von der wirkenden Kraft empfangen hat. Jene ist ein nachgebliebener Zustand in der Saite, in welchem sie nichts mehr von außen aufnimmt, und auch nicht mehr auf die äußere Kraft zurückwirket. Da ist also ein anderer von dem erstern unterschiedener, und wesentlich unterschiedener Zustand in ihr.
         Diese Nachschwingungen hören in der Saite allmählig auf, theils durch den Widerstand der äußern Luft, theils der Hindernisse wegen, welche in der Steifigkeit der Saite selbst liegen. Endlich kommt die Saite dem Ansehen nach gänzlich wiederum zu ihrer ersten Ruhe. Alsdenn ist alle Spur des ersten Schlages verloschen. So scheinet es wenigstens zu seyn. Es ist aber nicht völlig also. Die Kunstverständigen sagen, ein Instrument müsse vorher recht ausgespielet worden {>32} seyn, ehe es seine Töne am vollkommensten und reinsten angeben könne. Die Saite muß auch nach einigem Gebrauch von neuem wieder gestimmet werden, und zuletzt verlieret sie blos durch den allzuhäufigen Gebrauch den nöthigen Grad der Elasticität. Es muß also von der ersten Bewegung eine gewisse Wirkung in dem Körper und in der Kraft der Saite zurückgeblieben seyn, die in den einzelen Schwingungen unbemerkbar war, aber in der Folge sich offenbarte. Gleichwohl hat die Saite, wie es oben schon erinnert worden ist, keine Kraft, sich selbst, in einen ihrer vorigen Schwünge wieder zu versetzen. Dieß Beyspiel soll nichts beweisen; sondern nur auf den Unterschied zwischen den Empfindungen und den Nachempfindungen, als den zuerst entstehenden Empfindungsvorstellungen aufmerksam machen.
        Wir richten die Augen auf den Mond. Die Lichtstrahlen fallen hinein, durchkreuzen sich in ihnen, laufen [>32] auf der Netzhaut in ein Bild zusammen, rühren den Sehenerven sinnlich; und in dem Innern von uns, in der Seele, entstehet, auf welche Art es auch geschehe, eine Modifikation, ein Eindruck, den wir fühlen. Da ist die Empfindung des Mondes, aber noch nicht die Vorstellung desselben.
         Diese Modifikation bestehet eine Weile in uns, wenn gleich von außen kein Lichtstrahl mehr ins Auge hineinfällt. Da ist die Nachempfindung, oder die Empfindungsvorstellung des gegenwärtigen Objekts, oder auch die Empfindung selbst, als eine Vorstellung des Gegenwärtigen betrachtet. Dieß Fortdauern des sinnlichen Eindrucks ist außer Zweifel. Es ist die Ursache, warum eine schnell in einem Kreis herumgedrehete glüende Kohle den Schein eines ganzen leuchtenden Kreises hervorbringet. Diese und andere gemeine Erfahrungen lehren uns, daß der Eindruck, den man von einem gesehenen Gegenstande erlanget hat, ein ge{>33}wisses Zeitmoment, ohne Einwirkung der äußern Ursache in uns fortdauert. Man kann sogar die Länge dieser Dauer in den Nachempfindungen bestimmen. Wenn man solche nimmt, die am geschwindesten wieder vergehen, aber auch stark genug gewesen sind, um gewahrgenommen zu werden; so ist die kleinste Dauer in den Gesichtsempfindungen 6 bis 7 Terzen, bey den Nachempfindungen des Gehörs nur 5 Terzen und noch kürzer bey den Nachempfindungen des Gefühls. [FN1]
           Der Augenblick, in welchem der Gedanke in uns entsteht: ich sehe den Mond; oder der Mond sieht so aus; kurz der Augenblick der Reflexion fällt in das Moment der Nachempfindung. Nicht während [>33]des ersten von außen entstehenden Eindruckes, wenn wir noch damit beschäftiget sind, die Modifikation von außen anzunehmen und zu füblen, geschieht es, daß wir gewahrnehmen und mit Bewußtseyn empfinden, sondern in dem Moment, wenn die Nachempfindung in uns vorhanden ist. Die Ueberlegung verbindet sich mit der Empfindungsvorstellung, aber nicht unmittelbar mit der Empfindung selbst.
         Man kann sich auch gerade zu aus Beobachtungen hievon versichern. Wenn wir z. B. die Augen starr auf einen Gegenstand hinrichten, um sein Bild in uns aufzufassen; so denken wir in diesem Augenblick nicht, daß wir ihn sehen. Sobald wir über den Gegenstand reflektiren; so finden wir ihn zwar vor uns gegenwärtig, und sein Bild ist in uns, aber wir sind nicht mehr damit beschäftigt, es in uns aufzunehmen. Ueberdieß {>34} kann die Bemerkung einiger andrer Umstände den Unterschied zwischen der ersten Empfindung und der Nachempfindung außer Zweifel setzen.
        Bey dem Sehen ist es entschieden, daß der Eindruck von dem Gegenstande selbst seine Zeit haben muß, ehe er helle und stark genug wird, um gewahrgenommen zu werden. Die Kugel, die aus einer Büchse geschossen wird, beweget sich vor unsern Augen vorbey, und wird nicht gesehen, weil das Licht, das von ihr ins Auge kommt, nicht stark genug ist, eine bemerkbare Nachempfindung hervorzubringen. Aus derselbigen Ursache sehen wir die von einander abstehende Spitzen eines gemachten Sterns alsdenn nicht, wenn der Stern schnell herumgedrehet wird, und allemal ist der Schein, den ein schnell herumgedreheter Körper verursachet, nur ein matter Schimmer, wenn es nicht ein für sich selbst leuchtender Körper ist. Jeder Punkt in dem Umfang des Raums, durch den die äußersten Enden des Körpers geschwinde herumbeweget werden, giebt einen Schein; aber weil der Körper sich nicht lange genug in [>34] einem jeden Punkte des Raums aufhält, um lebhaft daselbst gesehen werden zu können; so giebt er in jedem dieser Punkte auch nur einen schwachen Schein von sich. Dahero kann auch die schnelleste Vorstellungskraft einen Gegenstand nicht mit Einem und dem ersten Blick schon fassen; sondern es wird eine Zeit dazu erfordert, und eine Wiederholung der ersten Eindrücke, wenn die nachbleibenden Züge [>39] bis zu einer gehörigen Tiefe eindringen und die nöthige Festigkeit erlangen sollen.
        Hiezu kommt bey dem Sehen, daß der Eindruck nicht allein nur nach und nach, sondern auch unterbrochen hervorgebracht wird, so, daß zwischen den kleinern auf einander folgenden Eindrücken gewisse Momente der Zeit vergehen, während welcher das, was in uns ist, eine Nachempfindung ist, oder eine bestehende Folge {>35} von demjenigen, was durch die vorhergegangene Einwirkung hervorgebracht war.
       Die Nachempfindung verlieret sich bald wieder, wenn man aufhöret, die Augen auf den Gegenstand zu richten, ob sie gleich in einigen Fällen, wo der Eindruck lebhafter gewesen ist, etwas länger und merklicher als in andern fortdauret. Man wird z. B. das Bild der Sonne, wenn man sie angesehen hat, nicht sogleich wieder aus den Augen los, aber es wird doch bald so weit geschwächet, daß diese Nachempfindungdes  zweeten Grades, wenn ich so sagen soll, von der ersten, welche während des fortgesetzten Anschauens vorhanden ist, leicht unterschieden werden kann.
        Die Beobachtungen und Untersuchungen der Optiker über das Sehen, führen zu noch mehrern Bemerkungen über die Beziehung der Nachempfindungen auf die Empfindungen, oder die erst empfundene Eindrücke, davon etwas ähnliches auch bey den übrigen Empfindungsarten vorhanden ist. Sehr oft hänget die Beschaffenheit des Eindrucks von einer vorhergegangenen Modifikation des Organs ab; und ist [>35] nicht immer ebenderselbige, wenn er gleich von einerley Gegenständen entspringet. Was die Nachempfindungen betrifft: so entsprechen sie zwar gemeiniglich den Empfindungen, wovon sie die Fortsetzungen sind; aber es giebt auch Fälle, wenn z. B. die Empfindung allzu lebhaft gewesen ist, in welchen sie davon abweichen. So zeigen sich z. B. zuweilen nicht eben solche Farben an den Gegenständen in der Nachempfindung, als in der Empfindung gesehen worden. [FN2] Und das nemliche kann in {>36} den schon vorher erwähnten geschwächten Bildern, die uns nach dem Anschauen der Sonne noch eine Zeitlang vor Augen schweben, bemerket werden; denn diese verändern ihre Gestalten. Viele andere Erfahrungen bestätigen eben dasselbige.
         Die Nachempfindung, die erste nemlich die folgende Veränderungen der Bilder bey Seite gesetzet ist die Vorstellung, welche in der Empfindung erzeuget wird. Und diese ist also wenigstens eben so sehr von der Empfindung selbst unterschieden, als die Nachschwingungen in einer elastischen Saite von ihrer entstehenden Bewegung in dem ersten Augenblick sind, da sie der Wirksamkeit der äußern Ursache noch ausgesetzet ist. In dem Augenblick, da wir empfinden, leiden wir, und wirken zurück im Gefühl. Aber in der Nachempfindung  wird nichts mehr angenommen, und es wird auch nicht zurück gewirket, sondern nur unterhalten, was schon hervorgebracht ist. Und darum kann eben alsdenn die Seel e desto freyer mit ihrer Ueberlegungskraft sich bey dem Bilde beschäftigen.
       Es läßt sich hieraus begreifen' wie zuweilen der sinnliche Eindruck, und auch das Gefühl desselben, [>36] oder die Empfindung völlig, stark, lebhaft, deutlich und scharf genug von andern unterschieden seyn können, ohne daß die in uns bestehende Nachempfindung  es auch sey. Es kann die letztere verwirrt und matt seyn, wo die erste Empfindung es nicht ist. Sollte sich dergleichen nicht auch wirklich bey den Kindern eräugnen? Hat nicht vielleicht ihr innerliches Gesichtsorgan noch zu wenig Festigkeit, um Eindrücke, die es wie ein weicher Körper aufnimmt, auch die Zeit durch in sich zu erhalten, als es nöthig ist, um feste Empfindungsbilder zu erlangen? Mir ist dieses nicht unwahrscheinlich, und das, was den Erwachsenen zuweilen unter gewissen Umständen begegnet, bringt jene Muthmaßung fast zur Gewißheit. {>37}
        Die Nachempfindungen sind Modificationen in der Seele, so wie es die Empfindungen sind. Als Nachempfindungen sind sie zurückgebliebene und durch  innere Ursachen und Kräfte fortdaurende Veränderungen. Hierinn sind sie von den sinnlichen Eindrücken unterschieden, als welche Wirkungen von äußern Ursachen sind. Aber sollten jene auch Seelenbeschaffenheiten seyn ? Sind es die Organe, und bey dem Gesicht die Sehenerven, welche durch eine ihnen beywohnende Kraft die empfangenen sinulichen Bewegungen, wie die Saite auf dem Instrument ihre Schwingungen, fortsetzen, und solche der Seele zum Empfinden und Fühlen vorhalten? Wenn es so ist; so wird in  der  Seele die Nachempfindung und die Empfindung selbst einerley seyn. Denn so kann die erstere in der Seele nichts anders, als ein forigesetztes oder wiederholtes Aufnehmen des Eindrucks seyn, wobey sie selbst nur ihre Reaktion gegen das Gehirn, oder ihr Gefühl fortsetzet, ohne in sich durch ihre Selbstthätigkeit etwas zu unterhalten. Oder ist die Nachempfindung, in so ferne sie eine unterhaltene Folge des Eindrucks ist, vielmehr in der Seele? Giebt diese etwa die thätige Kraft dazu her? Oder endlich, [>37] ist sie in beiden zugleich? Das erste ist ein Princip in dem System des Hrn. Bonnets.  Ich setze aber diese Fragen nur her, wie ich es schon vorher mit andern ähnlichen gethan habe, um die Erinnerung zu geben, daß man nicht unmittelbar in die Beobachtungen das psychologische System hineinbringen müsse. Es sey genug, daß es sich so, wie es hier angegeben worden ist, in dem Menschen, dem sehenden Dinge, verhalte.
         Die wieder hervorgezogenen ersten  Empfindungsvorstellungen, die man Phantasmata oder Einbildungen nennet - Wiedervorstellungen kann man sie nennen, wenn es nicht besser wäre, diese letztere Benennung allgemeiner auf alle Arten von wiederhervor? {>38} gebrachten Vorstellungen aus zudehnen, sie mögen Empfindungsvorstellungen seyn, oder nicht. - Die Einbildungen  also sind offenbar nichts anders, als die ersten Nachempfindungen in einem weit schwächern Grade von Licht und Völligkeit, und wir nehmen sie im Schlaf und auch zuweilen im Wachen für Empfindungen an. Aber auch alsdenn zeiget sich doch der erste Unterschied zwischen Empfindungen und Nachempfindungen, wenn sie gleich beide nur wieder erneuert als Einbildungen sich darstellen. Im Schlaf glauben wir zu sehen. Nun ist zwar kein Eindruck von außen auf das Auge vorhanden, und also ist auch keine wahre Nachempfindung da. Aber es ist doch eine Nachbildung, sowohl von der Empfindung, als von der Nachempfindung vorhanden. Es ist nämlich wiederum ein Unterschied vorhanden, zwischen dem ersten Entstehen des sinnlichen Bildes, welches hier ein Wiederhervorbringen ist, wobey wir mit dem Gefühl eben so reagiren, wie bey der wahren Empfindung; und zwischen dem Fortdauren des wiederhervorgebrachten Bildes, womit die Reflexion über das Objekt verbunden ist.
          Am deutlichsten zeiget sich dieses in den sogenannten unächten  äußern  Empfindungen. Das [>38] Auge kann aus innern Ursachen im Körper mit einer gleichen, oder doch jener in der wahren Empfindung nahekommenden Stärke sinnlich gerühret werden, auf eine ähnliche Art, wie es bey der wahren Empfindung durch das hineinfallende Licht geschieht. Es giebt mehrere Ursachen, die solche falsche Empfindungen veranlassen können. [FN3] Aber dennoch ist in diesen Fällen die Empfindung selbst von ihrer Nachempfindung eben so offenbar unterschieden, als sie es bey den ächten Empfindungen ist. {>39} Wer ein Gespenst siehet, wo nichts ist, empfängt einen Eindruck auf das Innere seines Sehwerkzeugs, und nimmt die damit vergesellschaftete Modifikation in der Seele auf, fühlet sie. Bis so weit geht die falsche Empfindung. Nun unterhält sie diesen Eindruck in sich, und empfindet nach. Alsdenn nimmt er sie gewahr, und reflektirt darüber, wie über eine Empfindungsvorstellung eines äußern gegenwärtigen Dinges.
        Die Einbildung eines gesehenen Gegenstandes ist also die wieder erweckte Nachempfindung desselben, in einem schwächern Grade ausgedrückt. Die Einbildungen gehören dabero zu den Empfindungsvorstellungen, oder zu den ursprünglichen Vorstellungen; ob sie gleich nicht mehr die ersten selbst sind, sondern ihre Wiederholungen. Die Stufen der Lebhaftigkeit aber und der Deutlichkeit und Völligkeit in den Einbildungen sind unendlich mannigfaltig: man mag entweder die Einbildungen unter sich vergleichen, oder auf das Verhältniß sehen, worinn die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit einer jeden Einbildung mit der Lebhaftigkeit und Deutlichkeit der Empfindung stehet, zu welcher sie gehöret. Zuweilen sind sie die mattesten Nachbildungen, und enthalten nur einige wenige Züge von der Empfindung. Zu einer andern Zeit sind sie deutlichere Bilder, und so kenntliche Schatten, wie Aeneas in den Elisäischen Feldern antraf. Oefters bestehet fast die ganze Reproduktion mehr in einem Bestreben, eine ehemalige Empfindung wieder hervorzuziehen, als daß sie eine wirklich wiedererweckte Empfindung selbst genennet werden könnte. Oft sind es nur rohe Umzüge der Sachen, oft nur eine oder andere Seite; nur eine oder andere Beschaffenheit, Verhältniß und dergleichen, was bis dahin wieder erneuert wird, daß es wahrgenommen werden kann; zuweilen sind es die stärksten Gemählde, die den Empfindungen nahe kommen, je nachdem die re{>40}producirende Kraft mehr oder weniger auf sie gerichtet und verwendet wird. Da wir dem kürzesten und leichtesten Weg von Natur nachgehen; so geschiehet es, daß anstatt einer Empfindung, die mehrere Anstrengung erfordert, wenn sie reproduciret werden soll, eine andere wieder erneuert wird, welche mit jener vergesellschaftet gewesen ist, und deren Reproduktion leichter und geschwinder geschehen kann. Der Name vertritt die Stelle der Sache. Die Einbildung des Worts ist völlig und lebhaft, aber die begleitende Einbildung der mit dem Wort bezeichneten Sache, ist oft so schwach, daß sie nur ein Ansatz zu der völligen Wiederdarstellung genennt werden kann."

    Fußnoten Tetens zu diesem Abschnitt:
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    FN1    Die Gefühlseindrücke dauren kaum halb so lange, als die Eindrücke auf das Gehör, wie ich aus einigen Versuchen weiß, die ich hierüber angestelltet habe, deren weitere Anzeige hier aber nicht her gehöret.
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    FN2   Scherffer, diff. de coloribus accidentalibus diss. Vindob. 1761. § XVII. Die vom Hrn. Von Büffon so genannten  zufälligen  Farben, oder die bloß erscheinende Farben gehören zwar nicht alle, aber doch größtentheils hieher.
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    FN3  Man sehe des Hrn. Von Unzers Physiologie der thierischen Körper, § 148, 378.
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    Johann Nicolaus Tetens (1736-1807)
    In Tetenbüll (Südschleswig) am 16.9.1736 geboren, am 15. oder 19.8.1087 in Kopenhagen gestorben. Studium in Rostock - da Promotion 1760 - und Kopenhagen. Nach (1) 1763 Prof. an der Bützower Akademie (Leiter des Pädagogikums). Nach (3) Direktor des Pädagogikums vonm 1765-1770. (3) weist Tetens ab 1763 auch als ordentl. Prof. für Physik aus. 1776 Prof. für Philosophie und Mathematik in Kiel. 1789 Eintritt in den Verwaltungsdienst in Kopenhagen, 1791 Etatsrat am Finanzkollegium. Strebt nach einer Analyse der Seele, die auf Erfahrungen beruht. Postuliert drei seelische Grundfunktionen: vorstellen, wollen und fühlen. Bekämpft die immer wieder mal "moderne" Gleichsetzung von Seele und Gehirnvorgängen und die reine Assoziationspsychologie. Gilt als Vorläufer Kants. Max Dessoir charakterisiert ihn als "antimaterialistischen Empiriker mit kritizistischen Neigungen".
        Der Große Brockhaus von 1957, Bd. 11, S. 466,  meint: "Tetens hat dem Begriff des Gefühls in der Psychologie seine heutige Bedeutung gegeben." Hehlmann, Philos. Wörterbuch, (16.A. 1961, S. 575f) kennzeichnet Ttetens' Grund-Position, "daß in der Selbstbeobachtung der Ausgangspunkt der Psychologie liegt und daß am Anfang der Psychologie die empirische Zergliederung des Seelenlebens stehen muß, dagegen erst am Ende eine metaphysische Zusammenfassung zulässig sei.". Mit der Erörterung zur Grundkraft ("Urkraft") der Seele - in der auch die Selbstorganisationsidee aufscheint -  nimmt Tetens lange vor Freud dessen Libidobegriff auf sinnvollere und verallgemeinerte Weise vorweg ohne dessen merkwürdige, ja falsche Sexualisierung. In der Bestimmung kommt er nach eigenem Bekunden nicht weit, seine Untersuchung endet in der vagen Erkenntnis, daß die "Grundkraft den Keim des Fühlens doch in sich enthalte" [724], {737}. Bemerkenswert ist sein grundsätzlicher Zugang zu den Seelenkräften: "Die Kräfte können wir nur durch ihre Wirkungen, welche sie hervorbringen, von uns erkannt und durch diese charakterisiert werden" [719] {733}.
        Bereits frühzeitg arbeitet Tetens Objekt- und Metaebene des Bewußtseins heraus, wenn er etwa ausführt [45] {46}: "Man ist sich nicht bewußt, daß man sich einer Sache bewußt sey".
        Johann Nicolaus Tetens war nach seinen Interessen und seiner Perspektive ein echter integrativer Geist und für alle Arten von Anwendungen sehr aufgeschlossen. Sein Veröffentlichungsspektrum ist außergewöhnlich, hier einige Kostproben:
        Ethik ("Geschichte der Toleranz", 1786).
        Finanz- und Versicherungsmathematik ("Einleitung zur Berechnung der Leibrenten und Anwartschaften, die vom Leben und Tode einer oder mehrerer Personen abhangen; mit Tabellen zum praktischen Gebrauch", 1785-86 ; "Arithmetisches Problem, betreffend die Anwendung der Abbezahlungsfonds", 1791),
        Finanzwissenschaft ("Abhandlung von öffentlichen Kredit und Nationalschulden", 1790; "Anmerkungen zu D. Price's Schrift über die englische Nationalschuld". 1786).
        Geopsychologie ("Gedanken über die Wirkungen des Klima auf die Denkungsart des Menschen", 1757).
        Geographie ("Über C.E.L. Versuche und Vorschläge, betreffend die Theorien der Navigation, um sie vollkommener und ihre Anwendung auf See sicherer zu machen", 1795)
        Meteorologie ("Einige Beobachtungen über die Beschaffenheit der Winde", 1764; "Über den Einfluß des Mondes auf die Witterung", 1774).
        Lebenspraxis ("Über die beste Sicherung seiner Person bey einem Gewitter", 1774). Tetens scheint auch als erster  den Begriff Strom im Zusammenhang mit dem Blitz verwendet zu haben: [1].
        Mathematik ("Ein Schreiben über die Eigenschaften der Zahl", 1765; "Über die Abhängigkeit des Endlichen vom Unendlichen", 1783; "Der polynomische Lehrsatz, das wichtigste Theorem der ganzen Analysis", 1787 u. 1796 ).
        Medizin ("Von der Gesundheit der Oerter", 1764; "Von der Einpropfung der Blattern", 1766; "Schreiben eines Naturforschers über die Magnetkuren", 1775).
        Pädagogik (in mehreren Schriften und Vorträgen).
        Physik  und Technik ("Von einen Mecklenburgischen magnetischen Stahle", 1764; "Von einem einschlagenden Blitze", 1768).
        Psychologie und Philosophie ( "Über die menschliche Natur und ihre Entwicklung", 1776).
        Sprachwissenschaft ("Über die Grundsätze und den Nutzen der Etymologie", 1765; "Über den Ursprung der Sprache und Schrift", 1772).
        Stadtentwicklung ("Was wird erfordert zu einer völlig zweckmässigen Brandanstalt in größeren Städten? Eine Preisfrage", 1795)
        Quellen: (1)  Ziegenfuss & Jung: Philosophenlexikon. (2) Allgemeine Deutsche Biographie. (3)  Meusel: Das gelehrte Deutschland, Bd. 8.


    Terzen. Alter Ausdruck für ein Zeitmaß, das schwierig zu recherchieren ist. Ein Nachfrage in der Newsgroup Physik am 10.9.4 führte zu folgender Deutung von Thomas Schmidt (herzlichen Dank): "Eine Terz müsste eine sechzigstel Sekunde sein. Die Stunde wird zunächst in Minuten unterteilt: "pars minuta" = der verminderte Teil. Die Minute dann in Sekunden: "pars minuta secunda" = der zweite verminderte Teil = der zweimal verminderte Teil. Und die Sekunde in Terzen: "pars minuta tertia" = der dritte verminderte Teil = der dreimal verminderte Teil. Weitere Unterteilungen liefern dann bei Bedarf die Quart, die Quinte etc. Hat in diesem Zusammenhang nichts zu tun mit den gleichnamigen Frequenzintervallen."
        Die Deutung fand ich inzwischen bestätigt von (fett RS): Grotefend, Hermann (1898 ff). Taschenbuch der Zeitrechnung. Hannover: Hahnsche Buchhandlung. In der 12. Auflage von 1982 heißt es auf S. 24: "Die Stundenteilung der älteren Zeit ist, soweit sie bei Schriftstellern vorkommt, 1 Stunde = 4 puncta (quadrantes) = 40 momenta = 480 uncie. Die neuere Teilung ist ist in 60 Minuten (auch scrupula prima, ostenda) zu je 60 Sekunden (scrupula secunda) zu je 60 Tertien (scrupula tertia). Ältere Computisten hatten den Tag in 60 minuta diei geteilt, diese wieder in ebensoviel Tages-Sekunden und Tages-Tertien."
        Die Nachempfindungenmessungen Tetens spielen sich demnach im 1/10-1/20 Sekundenbereich ab. Da muß er schon ziemlich genau gestoppt haben. Zur Beurteilung dieser Ergebnisse fehlt mir aber bislang noch eine genaue Versuchsbeschreibung. Wer etwas weiß, bitte mitteilen: sekretariat@sgipt.org.
        Thomas Schmidt wurde am 15.9.4 erneut fündig und teilte seine Recherchen in Newsgroup de.sci.physik mit. J.S.T Gehlers 'Physicalisches Wörterbuch' berichtet (Ausschnitt; Scanfehler 'Lust' ;-) statt 'Luft' korrigiert): "Bey neuern Versuchen über die Geschwindigkeit des Schalles in atmosphärischer Luft, hat man mit Vortheil von Tertienuhren Gebrauch gemacht. An solchen Uhren läuft z. B. ein Zeiger in einer Secunde um, und bemerkt auf der in 60 Theile getheilten Scheibe des Zifferblatts Tertien. Zugleich ist ein Drücker angebracht, mit dem man in jedem Augenblicke das stillstehende Uhrwerk loslassen, oder das gehende hemmen kann, um die Zahl der Tertien, bey der der Zeiger stehen blieb, in der Ruhe zu bemerken.
        Schon 1778 beobachteten die Herren Kästner und Mayer auf der Sternwarte zu Göttingen mit einer Tertienuhr von Herrn Klindworth die Geschwindigkeit des Schalls aus einer Entfernung, deren Größe aus einer gemessenen Standlinie berechnet war. Sie fanden
    bey starkem Winde aus Norden, der dem Schalle entgegen gieng, in einer Secunde 1034—1037 pariser Fuß." (Mehr an der Fundstelle).
        Thomas Schmidt deutet: "Andererseits kann man einzelne Zehntelsekunden (freilich keine einzelnen Terzen) mit etwas Übung auch durch geistiges Mitzählen messen. Die Astronomen jener Zeit hatten meines Wissens auf dem Observatorium Uhren, welche hörbare Sekundenschläge gaben. Zeitmessungen wurden aber damals schon auf Sekundenbruchteile gemacht. Ich nehme an, dass man dazu im Geiste einfach im Takt mitzählte, z.B. "NULLeinszweidreivierfünfsechssiebenachtneunNULLeinszwei...". Ich verwende jedenfalls diese Mitzählmethode gelegentlich, um zwei Uhren zu vergleichen."



    Änderungen
    16.09.04    Einarbeitung der neuen Recherchen (15.9.4 ) zu Tertienuhren von Thomas Schmidt (Newsgroup de.sci.physik).


    Querverweise
    Kurze geschichtlicher Abriß der ADEIS-Bewegung.
    Zeitlich geordnete Geschichte der Psychotherapie, Gesetze und Verordnungen in Deutschland mit einigen geschichtlichen und inhaltlichen Hintergrund-, Rahmen und Begleitdaten aus allgemeiner und integrativer (schulen- und methodenuebergreifender) Perspektive.


    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Geschichte der Psychologie. Erste psychologische Messungen bei Nachempfindungen durch J.N. Tetens um 1770?  Internet Publikation - General and Integrative Psychotherapy   IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/wisms/geswis/psychol/tetens0.htm
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