Methodik
im familienrechtspsychologischen Gutachten
Hypothesengeleitete
Methodik: Theorie, Praxis, Probleme
Umsetzung
der Fragestellung in Arbeitshypothesen
Hinsichtlich
der Begutachtungsmethodik bei Glaubhaftigkeitsbegutachtungen hat es am
30.07.1999 ein bedeutungsvolles höchstrichterliches Urteil durch den
BGH gegeben. Besondere Bedeutung kommt in diesem Urteil aufgrund der forensisch-psychologischen
Gutachten von K. Fiedler und M. Steller
einerseits dem Prinzip des "hypothesengeleiteten Vorgehens" zu und andererseits
dem Prinzip, einen Beweissachverhalt so lange zu negieren (die Aussage
ist unwahr), bis diese Negation mit den Fakten nicht mehr in Einklang zu
bringen ist. Für die familien-rechtspsychologische Situation stellen
sich hier zwei Fragen, zunächst die grundsätzliche: Darf man
wirklich korrekt schließen, falls die Fakten nicht mit der Unwahrheit
der Aussage in Einklang zu bringen sind, daß dann auf die Wahrheit
der Aussage geschlossen werden darf?
Meines Erachtens ist diese Schlußfolgerung sowohl aus methodologischen
Gründen als auch aus empirischen außerordentlich fragwürdig.
Erstens wird hier ein einfaches - konstruktiv schon immer umstrittenes
- tertium non datur zugrunde gelegt: was nicht hinreichend unwahr = falsch
ist, muß hinreichend wahr sein. Zweitens wird der Realität von
Ermittlungsergebnissen, wonach es meist eine Reihe von Gründen, die
für die Hypothesen H1, H2, ...., Hn sprechen, ebenso gibt wie eine
Reihe von Gründen, die gegen die Hypothesen H1, H2, ..., Hn, sprechen,
die also mehrdeutig oder nicht entscheidbar sind, zu wenig Rechnung getragen.
Wichtiger Querweis: Zu den grundlegenden Problemen der Einzelfallproblematik und dem Versagen der Universitäten - wobei die Forensik noch tendenziell am weitesten entwickelt ist - siehe bitte: Grundzüge einer idiographischen Wissenschaftstheorie. |
Und die spezielle: Darf man die methodischen Grundsätze
von aussagepsychologischen Gutachten einfach auf familienrechtspsychologische
übertragen? Ich meine: Nein. Wohlwollend und mit der Methodologie
und der Realität im Einklang interpretiert, wird gesagt, daß
man nicht nur eine Hypothese prüfen darf (H ist wahr), sondern wenigstens
die Alternativhypothese (H ist nicht wahr) erörtern muß und
hierbei die konservative Regel - zum Schutz Beschuldigter oder Betroffener
- beachtet: im Zweifel gegen die Behauptung.
Während es im aussagepsychologischen Verfahren um die subjektive Wahrheit
realerlebnis- begründeter Aussagen geht, geht es im familiengerichtlichen
Verfahren um das Kindeswohl, das auf dem Hintergrund der vom Gesetz, von
der Rechtsprechung und den Fachwissenschaften vorgegebenen Kriterien als
Generalkriterium vorgegeben ist. Jede Kindeswohlsituation ist letztlich
und genau betrachtet, eine individuell einmalige. Von daher erscheint eine
hypothesenorientierte Sichtweise, die so tut, als ob es sich hier um ein
quasi-objektives Experiment handelt, verfehlt. Worauf kann sich also die
Redeweise von einem hypothesengeleiteten Vorgehen im Familienrechtsverfahren
sinnvollerweise beziehen? Betrachtet wir hierzu zunächst die Entscheidungssituation
und ihre Möglichkeiten.
Grundsätzliche Alternativen im Kindeswohl-orientierten Familienverfahren:
Bei Vorgabe von zwei Alternativen A und B:
z. B. Rückführung
zu den Eltern (A) aus der Pflegefamilie (B)
z. B. Verbleib
in der Pflegefamilie (A) statt Rückführung zur Mutter oder zum
Vater (B)
z. B. Residenz
bei der Mutter (A) und nicht beim Vater (B)
z. B. Residenz
beim Vater (A) und nicht bei der Mutter (B)
Im Falle von
drei vorgegebenen Alternativen ergeben sich entsprechend mehr Möglichkeiten.
Grundsätzlich
müssen theoretisch immer noch folgende drei Rest-Alternativen vorgesehen
werden:
Im Falle,
daß sich zwei Kinder z. B. bei einer Pflegefamilie befinden und die
leiblichen Eltern geschieden sind oder scheidungsmotiviert getrennt leben,
ergeben sich folgende theoretischen Alternativen:
Beide Kinder bleiben zusammen, sichere Entscheidung
Beide Kinder
bleiben zusammen, mutmaßlich bessere Entscheidung
Beide Kinder
bleiben zusammen, Residenzzuweisung nicht entscheidbar
Die Alternativen
können auch untereinander gemischt werden. Außerdem können
sie ebenso für eine Geschwistertrennung durchkombiniert werden.
Die Zuweisungen "besser", "nicht so günstig", "nicht entscheidbar" z. B. können und müssen sich hier auf die Kindeswohl-Kriterien (KK) beziehen.
Formal ergibt sich damit folgendes Hypothesenmodell am Beispiel der drei wichtigsten Kindeswohlkriterienkomplexe (Bindungsbeziehungs-Kriterium, Kontinuitäts-Kriterium, Förderungs-Kriterium [Pflege, Betreuung, Versorgung, Erziehung]:
Hierbei müssen wir, wie oben schon ausgeführt, bei den einzelnen Möglichkeiten noch den Grad der Sicherheit, mit dem die jeweilige Alternative gelten kann, unterscheiden. Zum Beispiel kann es sein, daß sich für ein Kind der Fall sehr klar darstellt, während für das andere Kind eine große Unsicherheit besteht.
Im ungünstigsten Fall ist die Informationslage so dürftig und unsicher, daß überhaupt keine hinreichend sichere Empfehlung gegeben werden kann.
Im allgemeinen werden der vergangene Zeitraum, der aktuelle Zeitraum und der voraussichtliche Zeitraum, auf den sich die Entscheidung erstrecken soll und kann, zu berücksichtigen sein.
Liegen bestimmte Beeinträchtigungen, Hindernisse oder Erschwernisse vor, muß zusätzlich geprüft werden, wie solche Beeinträchtigungen, Hindernisse oder Erschwernisse ausgeglichen (kompensiert) oder kontrolliert werden können, zum Beispiel, wenn ein Elternteil, der grundsätzlich sehr wohl in Frage kommt, keine ErsatzbetreuerInnen für den Fall von Abwesenheit (Krankheit, Urlaub, arbeitsbedingt, sonstige Gründe) zur Verfügung hat.
Was soll nun im kindeswohlorientierten Familienverfahren "hypothesengeleitetes Vorgehen" genau heißen?
Nun, das allgemeine
Modell (Paradigma) für eine Hypothese lautet:
|
Anwendung-1: X darf eine Persönlichkeitsstörung (PS) zugesprochen werden, wenn die Kriterien (K) der internationalen Diagnosestandards erfüllt sind. Das beweis- oder hypothesengeleitete Schema besteht dann darin, zu zeigen, daß K vorliegt.
Anwendung-2: Ein Kind hat die Bindungsbeziehung B zu (M[utter] oder V[ater]), wenn die Kriterien BK der Bindungsbeziehung erfüllt sind. Das beweis- oder hypothesengeleitete Schema besteht dann darin, zu zeigen, daß BK (K>M), BK (M>K), BK (K>V), BK (V>K) vorliegt, wobei ">" die Richtung von > nach angibt, weil ja Bindungsbeziehungen nicht unbedingt symmetrisch sind, wie der schon dramataisch erlebt, der unglücklich (einseitig) geliebt hat.
Anwendung-3: Eine Residenz ist geeigneter in Bezug auf die Wahrung der Kontinuität, wenn sie die Kontinuitätskriterien K erfüllt. Das beweis- oder hypothesengeleitete Schema besteht dann darin, zu zeigen, daß K bei A besser als bei B gegeben ist.
Anwendung-4: Ein Elter ist geeigneter hinsichtlich der Erziehung, wenn die Erziehungs-Kriterien - mehr oder besser - erfüllt sind. Das beweis- oder hypothesengeleitete Schema besteht dann darin, zu zeigen, daß die Erziehungs-Kriterien EK bei A mehr als bei B gegeben ist.
Da das Zusammenwirken
der verschiedenen Kriterien wiederum sehr viele Möglichkeiten und
Alternativen zuläßt, muß an dieser Stelle eine differenzierte
Einzelfallbewertung die Beurteilung nachvollziehbar und einsichtig machen.
Im ungünstigsten Fall ist die Informationslage so dürftig und
unsicher, daß überhaupt keine hinreichend sichere Empfehlung
gegeben werden kann.
Nur weil ein Gutachten in Auftrag gegeben wurde, muß es noch kein hinreichend sicheres, klares oder plausibles Ergebnis geben. |
Im allgemeinen
werden der vergangene Zeitraum, der aktuelle Zeitraum und der voraussichtliche
Zeitraum, auf den sich die Entscheidung erstrecken soll und kann, zu berücksichtigen
sein.
Liegen bestimmte
Beeinträchtigungen, Hindernisse oder Erschwernisse vor, muß
zusätzlich geprüft werden, wie solche Beeinträchtigungen,
Hindernisse oder Erschwernisse ausgeglichen (kompensiert) oder kontrolliert
werden können, zum Beispiel, wenn ein Elternteil, der grundsätzlich
sehr wohl in Frage kommt, keine ErsatzbetreuerInnen für den Fall von
Abwesenheit (Krankheit, Urlaub, arbeitsbedingt, sonstige Gründe) zur
Verfügung hat.
Exkurs
Befundtatsachen und Anknüpfungstatsachen: [Lit
FN 02]
Relativierung
für forensisch-psychologische Fragestellungen
Allgemeines zu Sachverhalt und Tatsache:
Sachverhalte, die geschehen sind oder sich ereignen, heißen Tatsachen. Man kann auch sagen: Ein wahrer Sachverhalt repräsentiert eine Tatsache. Sehr klar und schön führt es Erich Döhring (1964) in seinem grundlegenden klassischen Werk "Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß" aus. Das ganze Buch handelt davon, wie sein Titel schon erkennen läßt.
Nach Peters (1967, S. 782f) in Anlehnung an den BGH 18 (107ff) heißen die Tatsachen, auf denen das Sachverständigengutachten aufbaut, Anknüpfungstatsachen. Sie setzen sich zusammen aus Befundtatsachen und den Zusatztatsachen. Befundtatsachen sind solche, die nur der Sachverständige aufgrund seiner Sachkunde erkennen kann. Zusatztatsachen sind solche, die auch das Gericht selbst feststellen kann.
Der Tatsachenbegriff
wird aber der familienrechtspsychologischen Gutachtensituation nicht gerecht,
es sei denn, man faßt den Tatsachenbegriff so weit, daß man
rein subjektive Tatsachen anerkennt, was aber im juristischen Zusammenhang
meist nicht gemeint ist. Die subjektive und oft verzerrte Sicht der Dinge
spielt für die Konflikte im streitigen Familienrechtsverfahren aber
eine so große Rolle, so daß man bei der Planung des Gutachtens
nicht nur von Tatsachen ausgehen sollte, sondern besser von Anknüpfungssachverhalten
ausgeht und durch diese Begriffsschöpfung anfangs offen läßt,
ob die für die Beantwortung der Beweisfragen und die Gutachten-Planung
wichtigen Sachverhalte schon den Status einer Tatsache haben, also objektiv
als wahr anzusehen sind. Nicht selten sind sie es nicht. Oft repräsentieren
für die Begutachtung wichtige Sachverhalte nur subjektive Tatsachen,
d. h. für die Betreffenden ist es subjektiv so oder so, stellt sich
dieses oder jenes so dar, was von der anderen Partei dann wieder ganz anders
gesehen werden kann. Nicht selten will das Gericht ja wissen, ob, wie weit
oder auch wie sicher bestimmte Sachverhalte oder subjektive Ausführungen
die Wirklichkeit wiedergeben, also als Tatsachen angesehen werden können.
Durch die neuen Bestimmungen im Familienrecht seit dem 1.7.1998 hat sich eine neue Situation ergeben. Die Stellung des Kindes wurde erfreulicherweise gestärkt. Das Umgangsrecht ist nun nicht nur als Recht eines Elternteils, sondern auch ausdrücklich als Recht des Kindes auf diesen Umgang niedergelegt. Unter Normalbedingungen zählt das Umgangsrecht zum Kindeswohl dazu. Das Kind und seine bisher wichtigen Bindungsbeziehungs-Personen (Geschwister, Großeltern, Paten, Stiefeltern usw.) haben auch ein Umgangsrecht; aus familienrechts-psychologischer Sicht eine erfreuliche Entwicklung. Die gemeinsame elterliche Sorge ist nunmehr der gesetzliche Regelfall. Und dies gilt - im Gegensatz zum die Wende auslösenden Bundesverfassungsgerichtsurteil [FN 03] - auch gegen den Willen eines Elternteils, wenn es das Kindeswohl erfordert [FN04] . Während die gemeinsame elterliche Sorge beim Bundesverfassungsgerichtsurteil [FN05] noch das Einverständnis beider Eltern erforderlich machte, um eine gemeinsame Sorge zu ermöglichen, so verlangt das Gesetz jetzt „nur" noch, daß die gemeinsame Sorge, die aufgeteilte, das Aufenthaltsbestimmungsrecht oder Umgang (so oder so gestalteter) dem Kindeswohl nicht entgegenstehen dürfe und verlagert damit das Problem bei streitigen Eltern auf die Sachverständigen, die nunmehr zu prüfen haben, welche Streit- und Konfliktformen bei einer gemeinsamen Sorge noch mit dem Kindeswohl verträglich sind und welche nicht. Dies erfordert nunmehr - zusätzlich zu den grundlegenden Kriterien - die besondere Prüfung von:
Allgemeiner
Untersuchungs- und Orientierungsplan nach Kindeswohl-Kriterien