Sexueller Mißbrauch in der Psychoanalyse und Analytischen Psychotherapie
Einführung in das Problemfeld
(1) In der Entwicklung der Psychoanalyse ging es teilweise "hoch" her. Private Kontakte, freundschaftliche, geschäftliche, familiäre und erotisch-sexuelle Beziehungen waren bald an der Tagesordnung. Die sog. Abstinenzregel - wonach die TherapeutIn keine freundschaftlichen, familiären, geschäftlichen oder gar erotisch-sexuellen und allgemein keine therapiefremden Kontakte mit ihrer PatientIn eingehen darf - entwickelte sich erst spät und wird seit Bestehen der Psychoanalyse durch keine wissenschaftliche und fachliche Öffentlichkeit angemessen kontrolliert.
Sexueller Mißbrauch von PatientInnen kommt leider in allen Psychotherapieschulen vor und ist natürlich kein Negativprivileg psychoanalytisch orientierter Therapien.
Aber das psychoanalytische Arrangement ("setting") erscheint doch außerordentlich gefährlich für die Entwicklung emotionaler Abhängigkeit, Infantilisierung, die künstliche Erzeugung von sog. Übertragungsliebe und ihrer unheilvoller Auswirkung auf die eigene Partnerschafts-Beziehung, Ehe und Familie. Wir fragen uns, ob die PatientInnen richtig und vollständig aufgeklärt werden, welche Risiken sie in Psychoanalysen und analytischen Psychotherapien in Bezug auf ihre Selbständigkeit, freie Selbstbestimmung und die Funktionsfähigkeit und Integrität ihrer intimen und sehr persönlichen Beziehungen eingehen.
Ein entsprechendes Problembewußtsein soll eben diese
Internet Publikation - ohne Beschränkung auf psychoanalytisch orientierte
Therapien - erzeugen, fördern und aufrechterhalten helfen.
Ein Blick in die Geschichte der Psychoanalyse könnte solchen Fatalismus bestätigen. Wer über Liebe, Erotik, Sexualität in der Analyse, zwischen Analytiker und Patientin - teils auch, wenngleich weniger häufig: zwischen Analytikerin und Patient - handeln will, muß wohl bei der chronique scandaleuse von Krutzenbichler und Essers (1991) beginnen. Da gibt es die (am besten dokumentierte) Beziehung zwischen Jung und Sabina Spielrein2 (Carotenuto). Ferenczi ist in eine Beziehung mit Gisella und Elena Palos, Mutter und Tochter, verwickelt. Wilhelm Reich "verliebt sich 'des öfteren' in seine Patientinnen, bricht dann die Analyse ab, 'um außerhalb der Analyse ein normales Liebesverhältnis zu beginnen' " (ebd., S. 103). Später heiratet er seine Patientin Annie Pink. Groddeck hat ein Verhältnis zu einer Patientin, Stekel mit mehreren (ebd.). Victor Tausk verliebt sich in eine 16 lahre jüngere Patientin, geht eine Beziehung zu ihr ein. "Kurz vor der Eheschließung erschießt sich Tausk" (ebd., S. 104). Aichhorn hat eine Liebesbeziehung mit seiner Lehranalysandin Margaret Mahler. Jones zahlt "einer seiner Patientinnen 500 Dollar, 'um zu verhindern, daß sie ihn öffentlich der Verführung bezichtigte' " (S. 104f.). Zu seiner Analysandin Joan Riviere, die später zu Freud in Analyse ging, hatte er anscheinend keine sexuelle Beziehung, doch Freud kritisiert in einem Brief an Jones, es "war sicherlich ein technischer Fehler gewesen, sich mit ihr anzufreunden, bevor die Analyse abgeschlossen war" (Gay, zit. n. ebd., S. 105). "Otto Rank und Rene Allendy... gehen beide mit ihrer Analysandin Anais Nin eine sexuelle Beziehung ein. Der ungarische Analytiker Sándor Radó heiratet seine Analysandin Emmy" (ebd., S. 104). Schultz-Hencke "nimmt die Frau seines Berliner Kollegen Gustav Bally wegen Eheschwierigkeiten in Analyse, in deren Verlauf sie sich scheiden läßt". Schultz-Hencke überrascht sie noch während der Analyse mit einem Antrag. "Beide heiraten; die Ehe wird später geschieden" (ebd., S. 105). Diese Liste mehr oder weniger prominenter Analytiker, die mit ihren Analysandinnen etwas anfingen bzw. die Analysandinnen mit ihnen - wir lassen das bewußt offen - ließe sich über Krutzenbichler und Essers hinaus bis in die Gegenwart fortsetzen." "bis in die Gegenwart fortsetzen" ist eine bemerkenswert mutige, aber auch beunruhigende Aussage eines Insiders. |
"Eine
junge Psychologin - sie wird sich in ihrem Buch Anonyma
nennen - möchte, nachdem sie ihr Diplom gemacht hat, Analytikerin
werden. Sie beschreibt sich vor der Analyse als kontaktfreudig und gesellig,
sie geht viel aus und tanzt gern. Nach der Zulassung zur psychoanalytischen
Ausbildung sucht sie sich einen Lehranalytiker. Sie genießt die analytischen
Flitterwochen, die Nähe und die Intimität in der Analyse und
zum Analytiker. Zu dieser Zeit schreibt sie: »Er (der Analytiker)
wurde für mich der wichtigste Mann auf der Welt; mir schien als wäre
er es, 'der Mann meines Lebens' ... Und so war die Analyse zum Mittelpunkt
meines Lebens geworden".
Einen ersten Einbruch erlebt sie, als sie die Ehefrau des Analytikers sieht. Sie ist verletzt und irritiert, wünscht sich aber weiterhin Nähe und Liebe, auch Triangulierung, indem sie merkt, daß sie zu dritt sein möchte: Sie als Kind mit Vater und Mutter. Der reale Vater hatte die Familie verlassen, als sie ein Jahr alt war. Eines Tages erzählt sie ihm einen Traum: Sie sieht seinen Wagen auf einem Parkplatz stehen, niemand ist drinnen. Durch die Scheiben sieht sie ein rosa Hemd von ihm, das ihr schon immer gut gefallen hat. Sie nimmt es an sich, vergräbt ihr Gesicht darin, atmet seinen Duft, läuft dann schnell fort, um mit ihrer Beute allein zu sei. Der Analytiker deutet: "Ich weiß, daß Sie sich schon eine ganze Weile mit meinem Penis beschäftigen." Sie erschrickt heftig, dreht sich um, sieht ihn an und schreibt: "Es knistert zwischen uns, eine nur schwer zu ertragende, angenehme Spannung." Nach jener Stunde verabschieden sich beide eher kühl und distanzierter als sonst. In der Folgezeit phantasiert sie über eine sexuelle Beziehung mit dem Analytiker, onaniert mit Phantasien an ihn und berichtet darüber in der Analyse. Er reagiert nicht. Sie beschäftigt sich mit seiner Familie, phantasiert, ein kleines Mädchen zu sein und reist in seinen Heimatort. Gleichzeitig zieht sie sich zunehmend von ihren Bekannten und Freunden zurück. Im dritten Analysejahr, dem "Jahr der Leidenschaft", wie sie es nennt, lauert sie auf Beweise seiner Liebe. Sie entwickelt den Plan, den Raum zwischen ihnen zu überwinden, kriecht schließlich in einer Analysestunde am Boden auf ihn zu, redet über das Näherkommen, berührt ihn kurz und geht wieder auf die Couch zurück. Der Analytiker sagt nichts, sie hat Schuldgefühle, weil sie meint, den analytischen Pakt gebrochen zu haben. Die darauf folgende Sitzung beginnt wie gewohnt. Sie legt sich hin und versucht, sich an die vergangene Stunde zu erinnern, wird aber durch eine Frage des Analytikers unterbrochen. Er sagt: »Glauben Sie nicht, daß ich dahinkommen kann, wo Sie sind?" Sie sagt: »Nein.« Er sagt: »Sie glauben das nicht?« Wieder antwortet sie: »Nein.« Seine Antwort: »Aber natürlich!« Er steht auf, geht zu ihr auf die Conch, nimmt sie in die Arme, es kommt zum Geschlechtsverkehr, sie ist zunächst erstarrt und erschreckt. Man trennt sich wie immer nach genau 45 Minuten und wie gewohnt: »Au revoir Madame, au revoir Monsieur.« In der folgenden Stunde will sie den Analytiker umarmen, er weist sie aber zurück und schickt sie auf die Couch. Den Rest dieses Dramas nur in ein paar Sätzen: Die sexuellen Beziehungen gehen weiter, zuerst auf der Couch, später in einem, so glaubt sie, speziell für sie eingerichteten Nebenzimmer. Sie ist zunächst glücklich und phantasiert ein Leben mit ihm. In langen Pausen zwischen den intimen Kontakten geht die Analyse weiter, sie ist darüber verunsichert und verwirrt. Die Beziehung zu ihrem langjährigen Freund außerhalb der Analyse scheitert. Die Analyse gerät schließlich in eine Sackgasse: Sie erlebt zunehmend psychosomatische Dekompensationen z. T. mit subjektiv lebensbedrohlichem Charakter. Sie entwickelt einen Medikamentenabusus, trinkt auch vermehrt Alkohol, und so geht die Analyse langsam zu Ende. Sie wartet allerdings immer noch auf eine reale Beziehung zu ihm. Dementsprechend trifft sie ihn auch nach der Analyse immer wieder, wobei aber immer er Zeitpunkt und Ort der Treffen bestimmt. In diesen kurzen Episoden kommt es zu sexuellen Intimitäten, er bleibt jedoch unerreichbar für sie. Aus der ursprünglich lebensfrohen jungen Frau ist eine schwer ängstliche, von Panikattacken und Isolierung gequälte Frau geworden, die später in einer zweiten Therapie versucht, ihr Analyseschicksal aufzuarbeiten. Dabei hatte sie lange Zeit große Angst vor der Übertragung, und dementsprechend beherrschten Mißtrauen und Ängstlichkeit lange Zeit das Klima in dieser Zweittherapie." |
(2) Zu Freud's Zeiten herrschte hier ein ziemliches Durcheinander. Freud war so etwas wie ein Familienpatriarch, er analysierte sogar die eigene Tochter und seine Abstinenzregel wurde ständig verletzt, auch von ihm selbst. Das Eingehen von Liebesbeziehungen aus der Psychoanalyse heraus war an der Tagesordnung und historisch betrachtet wurden solche durch die Analyse hervorgebrachten Liebesbeziehungen auch meist nicht als sexueller Mißbrauch angesehen. Es waren teilweise ganz "normale Betriebsunfälle" "einer höchst gefährlichen Methode" (trefflicher Buchtitel von Kerr zur Jung-Spielrein-Freud Affäre), der die Psychoanalyse in ihrer affektinduzierenden Wirksamkeit auf den Punkt bringt.
(3) Was in Psychoanalysen und analytischen Psychotherapien an Abhängigkeit und vielfältigem Mißbrauch wirklich geschieht, entzieht sich weitgehend wissenschaftlicher, berufsethischer, rechtlicher und fach-öffentlicher Kontrolle. Damit soll nun Schluß gemacht werden. Durch diese Internet-Veröffentlichung soll mit dazu beigetragen werden, daß die Therapiebeziehungen, Abhängigkeit, Indoktrinationen und Einflußnahmen, Machtmißbrauch, sexueller Mißbrauch und Risiken, die Grau- und Grenzzonen transparent gemacht werden. Hierbei ist es wichtig, bei den GründerInnen und PionierInnen zu beginnen. Die psychoanalytische "Chronique scandaleuse" hat insofern eine besondere Bedeutung, weil sich hieraus der Verdacht und die Befürchtung ergibt, daß der Mißbrauch in der Psychoanalyse eine lange Tradition hat. Und wir wissen aus der Mißbrauchsforschung, daß solche Traditionen "vererbt", genauer sozialistionsbedingt weitergegeben werden können nach dem Muster: die Opfer haben eine überzufällige Wahrscheinlichkeit, selbst wiederum zu TäterInnen zu werden. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür liefert der Fall C. G. Jung, der selbst mißbraucht wurde in seiner Kindheit und später selbst wenig Gelegenheiten ausgelassen haben soll.
(4) Die Berufs- und Fachverbände haben meist sehr nachlässig, hilflos und abwieglerisch reagiert. Opfer wurden als Einzelfälle dargestellt, diskriminiert oder pathologisiert und so oft noch ein zweites oder drittes Mal bestraft. Diese Situation hat sich in Deutschland erst seit 1998 grundlegend geändert, als der § 174, 2 in das Strafgesetzbuch eingeführt wurde: seither steht das Eingehen einer sexuellen Beziehung in der Therapie für die TherapeutIn unter Strafe, ganz egal, welche Verführungskünste eine PatientIn an den Tag legt. Die TherapeutIn hat zu widerstehen, es ist ihre Pflicht.
(5) Bei aller Kritik ist mehreres zu berücksichtigen: 5.1) Mißbrauchende TherapeutInnen sind in der Mehrheit wahrscheinlich nicht schwer persönlichkeitsgestört, es sind eher "Menschen wie du und ich", was das Problem aber noch brisanter macht, weil es sozusagen fast jeden treffen kann: Ausrutscher, Versuchung, Verführung, Einsamkeit, unzulängliche eigene Liebesversorgung sind z. B. Faktoren. Es gibt aber auch hartgesottene, uneinsichtige, rücksichtslose TäterInnen bei denen zweifellos lebenslängliches Berufsverbot angezeigt ist. 5.2) Aber auch mißbrauchende TherapeutInnen können durchaus vielen Menschen schon geholfen haben oder helfen, sie sind nicht zwingend schlechte TherapeutInnen, weil sie berufsethisch und inzwischen auch strafrechtlich bedeutsam falsch gehandelt haben oder handeln. 5.3) Bedeutung und Qualität ihrer wissenschaftlichen Arbeit und Leistung hat meist mit dem Mißbrauch nichts zu tun, wie auch die Geschichte C. G. Jung's lehrt. 5.4) Da hier zunächst die Psychoanalyse und Analytische Psychotherapie abgehandelt werden, soll nicht der Eindruck entstehen, die anderen Therapieschulen wären besser und dort würde sexueller Mißbrauch nicht vorkommen. Allerdings ergeben sich rein aus dem analytischen setting (Liegen, Regression, Projektion, extreme Dominanz der AnalytikerIn, Induktion von Bindung und Abhängigkeit) und den Behandlungsgepflogenheiten ganz besondere Gefahrenquellen, die es in den meisten anderen Therapieschulen so oder in diesem Ausmaß nicht gibt. Es ist daher an der Zeit, die "höchst gefährliche Methode" der Psychoanalyse (Kerr) einer öffentlichen und besonders fachöffentlichen Kritik zuzuführen.
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