Brentano über Gewissheit und Evidenz
Recherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Kurzcharakteristik Franz Brentanos
(1838-1917) Wissenschaftsansatz und Psychologie.
Wolfgang Stegmüller beginnt seine Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie
mit Franz Brentano und widmet ihm unter dem Titel Philosophie der Evidenz
beachtliche 46 Seiten (S.2-48), darin 14 Seiten Würdigung, woran man
ersehen kann, für wie bedeutend er den Lehrer Husserls einschätzt.
Für mich ist er insofern interessant, als Brentano beansprucht, eine
Psychologie vom empirischen Standpunkte (3 Bde., erstmals 1874 veröffentlicht)
auf den Weg gebracht zu haben - immerhin in der Pionier- und Blütezeit
der deutschen wissenschaftlichen Psychologie (Ebbinghaus, Herbart, Fechner,
Külpe, Lotze, Wundt [erstes psychologisches Labor 1879 in Leipzig]).
Die Zuwendung zum Bewusstsein und Erleben und seine deskriptive Psychologie
sind auch als programmatische Ideen teilweise heute noch interessant, wenn
man sie tatsächlich empirisch
bearbeitet, wozu jeder Mensch täglich ca. 16 Stunden Gelegenheit hat.
Das Empirische bei Brentano ist vor allem Programm
und Intention, was richtige empirische wissenschaftliche Arbeit ist, scheint
er nicht gewusst oder zumindest nicht für forschungsrelevant gehalten
zu haben. Brentano selbst scheint keinerlei empirische Untersuchungen durchgeführt
zu haben wie leider üblich bei den PhilosophInnen. Das ist insofern
rätselhaft, weil sein zentraler Ansatz ja das Bewusstsein ist, das
er bei sich täglich 16 Stunden studieren konnte. Seine Psychologie
der Erlebnisklassen ist auch extrem dürftig, wenn er nur 3 Erlebensklassen,
nämlich Vorstellungen, Urteile und emotionelle Phänomene unterscheidet
(>Überblick Bewusstseinsinhalte;
Anmerkung
zu Brentano). Besonders wissenschaftlich fragwürdig sind generelle
Behauptungen (Allsätze), deren hypothetischer Charakter nicht deutlich
gemacht wird und die auch nicht bewiesen oder beweisartig begründet
werden, wie etwa alles Bewusstseinserleben sei intentional, zeige also
eine Absicht des bewusst Erlebenden. Solche Hypothesen ergeben sich vielleicht
nach einer langen Reihe empirischen Untersuchungen bei vielen Menschen
zu ihrem Bewusstseinserleben, aber sie einfach zu behaupten, hat weder
mit empirischer
Psychologie noch mit Wissenschaft
und wissenschaftlichem Arbeiten
etwas zu tun. Erstaunlich war für mich auch, dass Brentano, noch dazu
als Aristoteleskenner, die Grundregeln
Begriffe nicht einzuhalten wusste.
|
welche ihre Gedanken untereinander austauschen wollen, etwas voneinander verstehen; denn wie könnte denn, wenn dies nicht stattfindet, ein gegenseitiger Gedankenaustausch (...) möglich sein? Es muß also jedes Wort (...) bekannt sein und etwas, und zwar eins und nicht mehreres, bezeichnen; hat es mehrere Bedeutungen, so muß man erklären, in welcher von diesen man das Wort gebraucht. ..." Aus: Aristoteles (384-322) Metaphysik. 11. Buch, 5 Kap., S. 244 (Rowohlts Klassiker 1966) |
Leider verstehen viele Philosophen, Juristen, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler auch nach 2300 Jahren Aristoteles immer noch nicht, wie Wissenschaft elementar funktionieren muss: Wer wichtige Begriffe gebraucht, muss sie beim ersten Gebrauch (Grundregeln Begriffe) klar und verständlich erklären und vor allem auch referenzieren können, sonst bleibt alles Schwall und Rauch (sch^3-Syndrom). Wer über irgendeinen Sachverhalt etwas sagen und herausfinden will, der muss zunächst erklären, wie er diesen Sachverhalt begrifflich fasst, auch wenn dies manchmal nicht einfach ist. Wer also über Gewissheit etwas sagen und herausfinden will, der muss zunächst erklären, was er unter "Gewissheit" verstehen will. Das ist zwar nicht einfach, aber wenn die Philosophie eine Wissenschaft wäre und und die PhilosophInnen Aristoteles ernst nehmen würden, dann hätten sie das in ihrer 2300jährigen Geschichte längst zustande bringen müssen. Im übrigen sind informative Prädikationen mit Beispielen und Gegenbeispielen immer möglich, wenn keine vollständige oder richtige Definition gelingt (Beispiel Gewissheit und Evidenz). |
Aktuell sind folgende Themen in den Werken bearbeitet:
Der Gewissheitsbegriff in den beiden
ersten Bänden Psychologie vom empirischen Standpunkte.
Der Gewissheitsbegriff in der Deskriptiven
Psychologie.
Evidenz
in Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt.
Evidenz
in Brentanos Wahrheit und Evidenz.
Zusammenfassung-Brentano-1874:
Das Buch (2 Bde., eigentlich zwei Teile) enthält 6 Fundstellen zu
"Gewissheit" und 170 Fundstellen zu "gewiss". Brentano benutzt den Ausdruck
Gewissheit zum ersten Mal auf S. 11, wo er den Bewusstseinsinhalten
der inneren Wahrnehmung, ein Begriff, der auch nicht näher erklärt
wird, der unmittelbaren Einsicht
vollste Gewissheit zuschreibt,
ohne dies näher zu erklären oder zu begründen, auch nicht
durch Fußnote, Querverweis, Anmerkung oder Literaturhinweis und schon
gar nicht durch operationale Beispiele. Es handelt sich also um eine -
nach Brentano allerdings unbezweifelbare - Behauptung. Die Sachverhalte
liegen aber nicht so einfach, wie insbesondere jede PsychotherapeutIn weiß.
Das Innere ist oft sehr schwer zu erfassen (>Focusing).
In S.182 behauptet Brentano ohne weitere
Belege, also fragwürdig, die innere Wahrnehmung - als Quelle vollster
Gewissheit - sei der äußeren überlegen. Aus S.292
ergibt sich Brentanos quantitative Auffassung, wenn er von einem grösseren
oder geringeren Maass von Gewissheit spricht, wie auch die Fundstelle
S.329
noch einmal bestätigt. S.314 bringt
ein Zitat Lotzes, in dem dieser Gewissheit verwendet. Die Gewissheit und
damit die Evidenz Brentanos stehen auf sehr schwachen empirischen Füßen
und beruhen vor allem auf Meinen
und Behaupten.
Anmerkung: In der Deskriptiven
Psychologie kommt Gewißheit nur einmal, S.73, vor. Der
Begriff wird nicht näher erläutert, auch nicht durch Querverweis,
Fußnote, Anmerkung oder Literaturhinweis, und damit wohl als allgemeinverständlicher
Grundbegriff verwendet, der keiner näheren Erklärung oder Begründung
bedarf.
Gewiss wird im Sinne von wahr, richtig, zutreffend
oder verstärkend verwendet, wobei die
begrifflichen Unterschiede von Brentano nicht thematisiert werden.
Die Brentanoveröffentlichungen erscheinen teilweise wirr und sind
schwierig zu durchschauen. Eigentlich gibt es keine zwei Bände, sondern
zwei Teile des ersten Bandes (1. Teil Kapitel 1-4, 2. Teil Kapitel 5-9).
Der Gewissheitsbegriff in der Deskriptiven
Psychologie
__
Zusammenfassung-Brentano-Deskriptive-Psychologie:
Gewiß hat 40 Fundstellen, Gewißheit hat nur eine Fundstelle
S.73. Gewißheit wird nicht näher erläutert, auch
nicht durch Querverweis, Fußnote, Anmerkung oder Literaturhinweis,
und damit wohl als allgemeinverständlicher Grundbegriff verwendet,
der keiner näheren Erklärung oder Begründung bedarf. Gewiss
wird im Sinne von wahr, richtig, zutreffend oder verstärkend gebraucht,
wobei ich eine Differenzierung dieser wichtigen Begriffe bei Brentano bislang
nicht finden konnte.
__
S.73: "Bei einem so interessanten Gebiete ist auch eine bloße
Wahrscheinlichkeitserkenntnis, wenn sie wenig oder keine Aussicht hätte,
je volle Gewißheit zu werden,
von Wert."
Kommentar: Gewißheit wird nicht näher
erläutert, auch nicht durch Querverweis, Fußnote, Anmerkung
oder Literaturhinweis, und damit wohl als allgemeinverständlicher
Grundbegriff verwendet, der keiner näheren Erklärung oder Begründung
bedarf. Gewiss wird im Sinne von wahr, richtig, zutreffend oder verstärkend
gebraucht, wobei ich eine Differenzierung dieser wichtigen Begriffe bei
Brentano bislang nicht finden konnte.
Auch wenn Brentanos empirische Psychologie nur Programm ist, so ist
doch ein auch heute noch sehr interessantes Programm. Allein die 35 Seiten
über das Bemerken sind eine ungewöhnliche und umfangreiche
Monographie über eine Grundfunktion des Bewusstseins, die ich sonst
nirgendwo gefunden habe. Ich möchte daher das Inhaltsverzeichnis dieses
bemerkenswerten ;-) Buches auflisten:
Einleitung der Herausgeber IX
Vorwort der Herausgeber XXIII
_____________ Franz Brentano
_________ Deskriptive Psychologie
Erster Teil. Die Aufgabe der Psychognosie 1
I. Psychognosie und Genetische Psychologie 1
II. Elemente des Bewußtseins 10
A. Einheit, nicht Einfachheit des Bewußtseins
10
B. Ablösbare und Distinktionelle Teile
12
C. Ein fiktives Beispiel 14
D. Distinktionelle Teile im eigentlichen Sinne
20
III. Das richtige Verfahren des Psychognosts 28
A. Einleitung 28
B. Das Erleben 29
C. Das Bemerken 31
D. Das Fixieren 65
E. Induktive Verallgemeinerung
71
F. Deduktive Verwertung
74
G. Psychognosie als Vorbedingung der
Genetischen
Psychologie 76
Zweiter Teil: Übersicht über die Psychognosie
79
I. Die Bestandteile des menschlichen Bewußtseins
79
II. Psychische Akte 83
A. Einleitung 83
B. Zwei Hauptklassen der psychischen Akte:
Fundmentale und Supraponierte Akte
84
C. Die Natur der fundamentalen psychischen Akte 84
D. Die primären Objekte der fundamentalen
psychischen Akte 88
III. Der allgemeine Charakter der Sensationen 104
A. Räumlichkeit 104
Anhang I. Innere Wahrnehmung 121
Anhang II. Deskriptive Psychologie oder
beschreibende Phänomenologie 129
Anhang III. Vom Inhalt der Empfindungen 134
Anhang IV. Psychognostische Skizze 146
I. Einleitung 146
II. Von den seelischen Beziehungen 147
Anhang V. Psychognostische Skizze.
Andere Bearbeitung 154
I. Psychognosie 154
II. Psychologie 156
Anhang VI. Perzipieren, Apperzipieren, deutlich
Apperzipieren, kopulativ Apperzipieren,
transzendent Apperzipieren 162
Anmerkungen der Herausgeber 165
Namen- und Sachverzeichnis 178
Definition Bemerken
S.33, Punkt 9: "9. Vor allem müssen wir sorgen, daß wir
uns genau klar halten, worauf die Untersuchung abzielt. Wir fragen nach
Bedingungen des Bemerkens und verstehen dabei unter dem Bemerken ein inneres
Wahrnehmen, und zwar ein explizites Wahrnehmen von solchem, was implizite
in der Wahrnehmung unseres Bewußtseins beschlossen war."
Widersprüchliche Angaben zum Irren und täuschen beim Bemerken
S.31: "... Und ein irriges Bemerken gibt es so wenig, als überhaupt
die innere Wahrnehmung je von der Evidenz entblößt ist. ..."
S.45: "Nur freilich kann es dann auch (einzelne Male) vorkommen, daß
einer sich einbildet zu bemerken, ohne es wahrhaft dazugebracht zu haben,
wie ja schon mancher behauptete, bemerkt zu haben, was gar nicht vorhanden
war, oder was zwar vorhanden sein mag, aber von ihm so wenig bemerkt werden
konnte, als es je von einem andern bemerkt werden wird.
Doch davon und wie dies geschehen könne, später."
Zusammenfassung-Evidenz-PeS-1924: Das Werk, die ersten vier Kapitel der Erstausgabe von 1874, hat 33 Fundstellen mit Evidenz, die ersten 9 und die letzten 4 sind vom Herausgeber, so dass für Brentano 20 verbleiben. Der Begriff Evidenz wird das erste Mal S.28 gebraucht: "Anderes gilt von den Phänomenen der inneren Wahrnehmung. Diese sind wahr in sich selbst. Wie sie erscheinen — dafür bürgt die Evidenz, mit der sie wahrgenommen werden —, so sind sie auch in Wirklichkeit." Die wissenschaftliche Grundregel, wichtige Begriffe beim ersten Gebrauch zu erklären, wird von Brentano hier nicht eingehalten. Bei der Vielfalt und dem Durcheinander, das sich um den Evidenzbegriff in der Geistesgeschichte rankt, darf er aber davon nicht ausgehen. Er hätte sich mit dem Begriff ausführlich auseinandersetzen müssen.
Fundstellen Evidenz im Text der ersten vier Kapitel
S.28: "Anderes gilt von den Phänomenen der inneren Wahrnehmung. Diese sind wahr in sich selbst. Wie sie erscheinen — dafür bürgt die Evidenz, mit der sie wahrgenommen werden —, so sind sie auch in Wirklichkeit."
S.120: "... Allein ihrer Ansicht widersprach die Tatsache, daß
die gleichen Phänomene in der gleichen Weise oft nach der Amputation
des Gliedes erscheinen. Andere argumentierten daher vielmehr umgekehrt
skeptisch gegen die Evidenz der inneren Wahrnehmung.
Alles löst sich, wenn man zwischen dem Schmerze in dem Sinne, in welchem
der Namen: die scheinbare Beschaffenheit eines Teiles unseres Leibes bezeichnet,
und zwischen dem Gefühle des Schmerzes, das sich an seine Empfindung
knüpft, zu unterscheiden gelernt hat. Hat man aber dieses getan, so
wird man nicht mehr geneigt sein zu behaupten, daß dem Gefühle
des sinnlichen Schmerzes, den man bei einer Verletzung empfindet, keine
Vorstellung zugrunde liege."
S.128f: "§ 6. Eine weitere gemeinsame Eigentümlichkeit
aller psychischen Phänomene ist die, daß sie nur in innerem
Bewußtsein wahrgenommen werden, während bei den physischen nur
äußere Wahrnehmung möglich ist. Dieses unterscheidende
Merkmal hebt Hamilton hervor. FN*)
Es könnte einer glauben, mit einer solchen
Bestimmung sei wenig gesagt, da es vielmehr das Naturgemäße
scheine, daß man umgekehrt den Akt nach dem Objekt, also die innere
Wahrnehmung im Gegensatze zu jeder anderen als Wahrnehmung psychischer
Phänomene bestimme. Allein die innere Wahrnehmung hat, abgesehen von
der Besonderheit ihres Objektes, auch noch anderes, was sie auszeichnet;
namentlich jene unmittelbare, untrügliche Evidenz,
die unter allen Erkenntnissen der Erfahrungsgegenstände ihr allein
zukommt. Wenn wir also sagen, die psychischen Phänomene seien diejenigen,
welche durch innere Wahrnehmung erfaßt werden, so ist damit gesagt,
daß ihre Wahrnehmung unmittelbar evident
sei.
Ja noch mehr! Die innere Wahrnehmung ist nicht bloß
die einzige unmittelbar evidente; sie
ist eigentlich die einzige Wahrnehmung im eigentlichen Sinne des Wortes.
Haben wir doch gesehen, daß die Phänomene der sogenannten äußeren
Wahrnehmung auch auf dem Wege mittelbarer Begründung sich keineswegs
als wahr und wirklich erweisen lassen; ja daß der, welcher vertrauend
sie für das nahm, wofür sie sich boten, durch den Zusammenhang
der Erscheinungen des Irrtums überführt wird. Die sogenannte
äußere Wahrnehmung ist also streng genommen nicht eine Wahrnehmung;
und die psychischen Phänomene können somit als diejenigen bezeichnet
werden, in Betreff deren allein eine Wahrnehmung im eigentlichen Sinne
des Wortes möglich ist."
S.132f: "... Wenn Bain
beifügt: „wir kennen die Berührungsempfindung von Eisen, aber
es ist nicht möglich, daß wir die Berührungsempfindung
als etwas für sich, abgesehen von der Berührungsempfindung, [>132]
kennen": so gebraucht er das Wort Berührungsempfindung zuerst offenbar
im Sinne des Empfundenen, dann im Sinne des Empfindenden. Das sind verschiedene
Begriffe, wenn auch der Namen derselbe ist. Und somit würde nur der,
welcher durch die Äquivokation sich täuschen ließe, das
von Bain verlangte Zugeständnis unmittelbarer
Evidenz machen können."
S.137: "... Die Behauptung war aber nicht ohne Widerspruch geblieben,
und erst spätere Untersuchungen können über sie entscheiden;
nur daß die psychischen Phänomene wirklich sämtlich ausdehnungslos
erscheinen, konnte schon jetzt festgestellt werden. FN19) Wir fanden demnächst
als unterscheidende Eigentümlichkeit aller psychischen Phänomene
die i n t e n t i o n a l e
I n e x i s t e n z, die Beziehung auf etwas als Objekt; FN20) keine
von den physischen Erscheinungen zeigt etwas ähnliches. Weiter bestimmten
wir die psychischen Phänomene als den ausschließlichen Gegenstand
der inneren Wahrnehmung; sie allein werden darum mit
unmittelbarer
Evidenz wahrgenommen; ja sie allein werden wahrgenommen
im strengen Sinne des Wortes. Und hieran knüpfte sich die weitere
Bestimmung; daß sie allein Phänomene seien, denen außer
der intentionalen auch wirkliche Existenz zukomme. FN21) Endlich
hoben wir als unterscheidend hervor, daß die psychischen Phänomene,
die jemand wahrnimmt, ihm trotz aller Mannigfaltigkeit immer als Einheit
erscheinen, während die physischen Phänomene, die er etwa gleichzeitig
wahrnimmt, nicht in derselben Weise alle als Teilphänomene eines einzigen
Phänomens sich darbieten."
Zusammenfassung-Evidenz-1930: Der Text von 1930 Wahrheit und Evidenz, S.122-164, enthält 79 Treffer "Evidenz" ohne Treffer beim Herausgeber, Titel und Inhaltsverzeichnis. Evidenz wird S. 125 zum ersten Mal verwendet, aber nicht erklärt, es gibt auch keinen Querverweis, keine Fußnote, Anmerkung oder Literaturhinweis. Die wissenschaftliche Grundregel, wichtige Begriffe beim ersten Gebrauch zu erklären, wird von Brentano hier nicht eingehalten. Vermutlich setzt Brentano an dieser Stelle die Kenntnis seines oder des Evidenzbegriffes voraus. Auch S.135, 10 Seiten nach dem ersten Gebrauch, bleibt der Begriffsinhalt von Evidenz im Dunklen. S.137 werden zwei neue Spezifikationen, scheinbare und wirkliche Evidenz eingeführt, aber so wenig erklärt, wie der Grundbegriff selbst. S.141: Der Evidenzbegriff ist nach wie vor ungeklärt und in diesem Zusammenhang besonders unverständlich. S.142-2: Hier wird empfohlen, um weiter zu kommen, evidente und nicht evidente Urteile vergleichend einander gegenüber zu stellen. Das klingst sehr vernünftig, aber warum tut Brentano das nicht, sondern belässt es beim Programmentwurf? Erneut wird von wirklicher Evidenz gesprochen.
Evidenz im Sachregister
Evidenz, eine Differenz des Urteils,
nicht des Vorstellens 62.
—, ob ein Akzidens des Urteils
82, 145, 191, 216.
—, mittelbare und unmittelbare
148.
—, die unmittelbare, affirmative, auf
die innere Wahrnehmung beschränkt 149f.
— und Allgemeingültigkeit
XVI, XXIV, 64, 150.
— und Deutlichkeit 149.
— der apriorischen Urteile nennt man Einsicht 144.
— evidente Urteile können einander nicht
widersprechen XVI, XX, 64, 132, 157.
— schließt Irrtum aus 144.
— evidente Vermutungen im Sinne MEINONGS, d. h.
unmittelbar evidente, aber nicht sichere Urteile
sind
eine absurde Annahme 69, 145.
— und Wahrheit: das evidente Urteil ist nicht nur als wahr,
sondern als logisch gerechtfertigt charakterisiert
115.
—, so urteilen, wie ein evident Urteilender urteilen würde,
heißt wahr urteilen 139. (Vgl.
Wahrheit.)
—, Typen evidenter Urteile 214.
— und Wahrscheinlichkeit 145.
—, ihr Wesen ist nur durch Beispiele evidenter Urteile zu
verdeutlichen 143.
—, verfehlte Deutungen bei DESCARTES 62, 68, HUME 61,
SIGWART 63, 67, DINGLER 186, HUSSERL
XIII.
—, nicht = unwiderstehlicher Drang, so zu urteilen XX, 141 f.
— kein Gefühl XII, XX, 63, 186.
— als Regel des richtigen Urteils IX, XIV, 167.
—, Täuschungen über Evidenz XII.
Fundstellen im Text S. 122-164
BEv1930-S.125: "... Der Psychologist aber fehlt dadurch, daß er
die
Evidenz der Urteile mit einer Naturgesetzlichkeit
verwechselt, welche zu einer vollen oder angenäherten Allgemeinheit
für eine gewisse Spezies führt FN159). Er weiß zwischen
„soll" und „muß" nicht zu unterscheiden und arbeitet infolge davon
einem Subjektivismus in die Hände. Nichts Ähnliches kann aber
von demjenigen gesagt werden, welcher sich weigert, außer den Dingen
auch noch das Sein und Nichtsein von Dingen als Gegenstände von Anerkennung
und Verwerfung gelten zu lassen. Von denen, welche ein Ding anerkennen
oder leugnen, sagt er ja, daß nicht alle es blind, sondern manche
mit
Evidenz tun, und daß dann
jede Möglichkeit eines Irrtums sowie auch jede Möglichkeit ausgeschlossen
ist, daß ein anderer, der entgegengesetzt urteilt, sich nicht im
Irrtum befindet FN160). Nach ihm gibt es ja zwar kein Sein des A und kein
Nichtsein des A, wohl aber urteilt auch er, daß A ist oder nicht
ist, und daß darum von zweien, die beide A anerkennen, nicht der
eine richtig, der andere unrichtig urteilen könne. Und daß ebenso
Gleiches für zwei, die A verwerfen, gelten müsse."
Kommentar-BEv1930-S.125: Evidenz wird nicht erklärt,
es gibt auch keinen Querverweise, keine Fußnote, Anmerkung oder Literaturhinweis.
Die Grundregel,
wichtige Begriffe beim ersten Gebrauch zu erklären, wird von Brentano
hier nicht eingehalten. Vermutlich setzt Brentano an dieser Stelle die
Kenntnis seines Evidenzbegriffes voraus.
S.135f: "9. Man müßte die neue Definition der Wahrheit darum
anders interpretieren, indem man den Ausdruck Regel des Denkens auf ein
Urteil bezöge, welches mit Evidenz
über die betreffende Sache und mit dem betreffenden Temporalmodus
urteilt, und sagen, auch die blindlings gefällten Urteile, welche
inhaltlich mit einem evidenten Urteil
übereinstimmten, seien wahr, sowenig man sie auch
Erkenntnisse nennen könnte. Gewiß ist es die Evidenz,
ohne die uns jedes Urteil über die Wahrheit einer Behauptung unmöglich
wäre. Aber wer etwas mit Evidenz [>136]
urteilt, erkennt die Wahrheit dieses Urteils nicht durch Vergleich eines
blinden Urteils mit einem evidenten."
Kommentar-BEv1930-S.135f: Auch hier, 10 Seiten nach
dem ersten Gebrauch, bleibt der Begriffsinhalt von Evidenz im Dunklen.
S.137: "... Die wahre Garantie für die Wahrheit eines Urteils liegt
in der Evidenz, die es entweder unmittelbar
besitzt oder mittels des Beweises durch die Verbindung
mit anderen Urteilen, welche unmittelbar evident sind, erlangt.
Man kann gewisse Klassen von evidenten
Urteilen unterscheiden und in den bei der Schwäche des menschlichen
Geistes nur allzu häufigen Fällen, daß scheinbare
Evidenz mit wirklicher
verwechselt wird, durch den Blick auf die Eigentümlichkeit jeder dieser
Klassen, die man wie eine Art Regel benützt, sich die Orientierung
erleichtern FN176)."
Kommentar-BEv1930-S.137: Hier werden zwei neue Spezifikationen,
scheinbare und wirkliche Evidenz eingeführt, beide aber so wenig erklärt,
wie der Grundbegriff selbst.
S.141: "... Bekannt ist sein Ausspruch: quod clare et distincte percipio
verum est [R.S.: was ich klar und deutlich als wahr wahrnehme]. Wenn hier
das „percipere" [R.S.: wahrnehmen] im Sinn von urteilen und das „clare
et distincte" [R.S.: klar und deutlich] im Sinn von einleuchtend genommen
wird, so finden wir uns vor einem idem per idem [das gleiche für das
gleiche], das uns in keiner Weise fördert, wenn aber in anderem Sinn,
dann scheint das „percipere" der Evidenz
negativer Urteile und das „clare et distincte" den Fällen nicht Rechnung
zu tragen, wo wir ein Vielteiliges, ohne es durch Analyse in seine Teile
aufzulösen, sondern ganz konfus, aber nicht unrichtig denken und uns
dieses Denkens bewußt sind, wie z. B. wenn wir uns bewußt sind,
einen Vokal oder einen aus sehr vielen Haupt- und Nebentönen zusammengesetzten
Klang zu hören FN187). So scheint uns denn hier nichts als jenes Bewußtsein
eines unwiderstehlichen Dranges als unterscheidendes Merkmal übriggelassen,
und manche wie jüngst noch MACH sprechen, als wenn in der Tat die
Evidenz
mit diesem Drang ganz zusammenfiele. ..."
Kommentar-BEv1930-S.141: Der Evidenzbegriff ist
nach wie vor ungeklärt und in diesem Zusammenhang besonders unverständlich.
S.142-1: "... PASCAL, der auch die Evidenz
als einen unwiderstehlichen natürlichen Drang zu einer gewissen Weise
des Urteilens zu fassen scheint, wenigstens wo es sich um unmittelbare
Urteile handelt, kommt darum zu der skeptischen Überlegung, daß,
solange man nicht wisse, wer der Urheber unserer Natur sei, das Vertrauen
auf das angebliche unmittelbar einleuchtende Urteil aller Verlässigkeit
entbehre."
Kommentar-BEv1930-S.142-1: Evidenz als unwiderstehlicher
Drang nach Pascal, deren Verlässlichkeit vom Wissen um den Urheber
der menschlichen Natur abhänge.
S.142-2f: "7. Es ist also unverkennbar, daß die Evidenz
eines Urteils nicht einfach mit einem unwiderstehlichen Drang, der zu ihm
nötigt, zu identifizieren ist. Wie anders werden [>143] wir aber dann
ihren Begriff fassen? — Die richtige Methode wird hier keine andere sein
als in vielen anderen Fällen, wo es sich um ein einfaches Merkmal
handelt. Wir werden die Aufgabe zu lösen haben, indem wir auf eine
Mehrheit von evidenten Urteilen hinblicken
und ihnen andere, welchen diese auszeichnende Eigentümlichkeit fehlt,
vergleichend gegenüber stellen. So machen wir uns ja auch, was rot
oder nicht rot ist, und was farbig oder nicht farbig ist, klar. Der Fall,
den DESCARTES ins Auge faßte, war ein Fall wirklicher
Evidenz und ein sehr mannigfaltiger. Er war der der Selbstwahrnehmung
als denkend, glaubend, leugnend, sich freuend, trauernd usw. Dennoch hätte
er sich nicht auf ihn beschränken, sondern diesen Fällen solche
von evidenter apodiktischer Erkenntnis,
wie sie in Axiomen vorliegt, zu fernerer Illustration zur Seite setzen
sollen. Dadurch würde er es einem jeden möglich gemacht haben,
vergleichend das gemeinsame Merkmal der Evidenz
zu unterscheiden, welches dann keiner weiteren Verdeutlichung durch zusammengesetzte
Attribute bedurft hätte. Ja, ohne sie wäre man, nach
dem, was wir oben dargelegt, besser gefahren als mit jenem „clare et distincte
percipio"."
Kommentar-BEv1930-S.142-2: Hier wird empfohlen,
um weiter zu kommen, evidente und nicht evidente Urteile vergleichend einander
gegenüber zu stellen. Das klingst sehr vernünftig, aber warum
macht Brentano das nicht, sondern belässt es beim Programmentwurf,
obwohl er genau das (nicht gemacht haben bei Descartes) kritisiert? Erneut
wird von wirklicher Evidenz gesprochen.
Vorwort des Herausgebers III
Einleitung des Herausgebers VII
I. Über die Anordnung des Buches und seine Teile.
II. Psychologismus und Phänomenologismus.
III. Was ist Wahrheit?
Erste Abteilung: Die frühere Lehre.
1. Über den Begriff der Wahrheit. (Vortrag, gehalten in der Wiener
Philosophischen Gesellschaft am 27. März 1889) 3
2. Das Seiende im Sinne des Wahren. (Fragment Abfassungszeit nicht
nach 1902) 30
3. Die Grundeinteilung der psychischen Phänomene bei Descartes.
(Aus den Anmerkungen zum Ursprung sittlicher Erkenntnis 1889)
33
4. Windelbands Irrtum hinsichtlich der Grundeinteilung der psychischen
Phänomene (1889) 38
5. Zur Kritik von Sigwarts Theorien vom existentialen und negativen
Urteil (1889) 44
6. Von der Evidenz (die „clara et distincta perceptio" bei Descartes;
Sigwarts Lehre von der Evidenz und seine „Postulate" (1889))
61
Zweite Abteilung: Der Übergang zur neuen Lehre.
1. Grammatikalische Abstrakta als sprachliche Fiktionen. (Aus einem
Briefe an Anton Marty vom März 1901) 73
2. Der Name existierend und seine Äquivokationen (September 1904)
76
3. Sprache (Fragment vom 16. November 1905) 81
Dritte Abteilung: Die neue Lehre, dargestellt in Briefen.
Gegen entia rationis und entia irrealia, sogenannte
ideale und irreale Gegenstände. (Aus Briefen Franz Brentanos)
87
1. Über das sogenannte
„immanente (intentionale) Objekt". (An A. Marty) 7. März 1905
87
2. Ens rationis und ens
irreale (Verstandesding und irreales Wesen). (An A. Marty) 1. März
1906 89
3. Gegen sogenannte Urteilsinhalte,
Sätze an sich, Objektive, Sachverhalte
An A. Marty vom 2. September 1906 91.
An O. Kraus vom 6. September 1909 97
An O. Kraus vom 20. September 1909 99
An O. Kraus vom 29. September 1909 102
An O. Kraus vom 11. Oktober 1909 103
An O. Kraus vom 31. Oktober 1914 105
An O. Kraus vom 8. November 1914 107
An O. Kraus vom 16. November 1914 109
An Franz Hillebrand (Innsbruck) vom 25. Februar 1911 113
An Franz Hillebrand (Innsbruck) vom 21. Mai 1916 115
Vierte Abteilung. Wahrheit und Evidenz (die neue Lehre, dargestellt
in Abhandlungen).
1. Zur Frage der Existenz der Inhalte und von der adaequatio rei et
intellectus (20. November 1914) 121
2. Über den Sinn des Satzes: veritas est adaequatio rei et intellectus
(11. Mai 1915) 131
3. Über den Satz: veritas est adaequatio rei et intellectus (5.
März 1915) 137
4. Gedankengang zur Lehre von der Evidenz (8. Juli 1915)
140
5. Über Evidenz (9. Juli 1915) 144
6. Von der Evidenz (Fragment, 12. Juli 1915) 148
Anhang.
1. Über die Allgemeingültigkeit der Wahrheit und den Grundfehler
einer sogenannten Phänomenologie
(Aus Briefen F. Brentanos an Eduard Husserl) 153
2. Über die Entstehung der irrigen Lehre von den entia irrealia
(nach Aufzeichnungen von Alfred Kastil, Mai 1914) 162
Gewiß werden im Inhaltsverzeichnis § 5, S. 15f.
S.8: "§ 11. Noch ein anderer psychologischer Irrtum, der heute
erneut worden ist und einigen Anhang gewonnen hat, muß hier mit Entschiedenheit
zurückgewiesen werden. Man hat das wahre Verhalten bei der inneren
Selbstwahrnehmung in der Art verkannt, daß man meinte, sie wäre
nicht in der Tätigkeit, die wahrgenommen werde, mitbeschlossen und
wie Aristoteles sagte, (gr. ...) mitgegeben FN 19). Sie
fehle manchmal ganz, und wenn sie vorhanden sei, sei sie nicht eigentlich
gleichzeitig, sondern folge, wie auch sonst die Wirkung der Ursache, in
nächstem Zusammenhang nach. Auch könne sie dann selbst wieder
zu einer Wahrnehmung von ihr, als einer zweiten Wirkung usw. führen.
Mit einer solchen Lehre hebt man das Eigentümliche auf, was die unmittelbare
Evidenz der Selbstwahrnehmung möglich macht. Es fehlt nach ihr die
Identität des Wahrnehmenden und Wahrgenommenen als solchen. Übrigens
war schon im Mittelalter kein geringerer als Thomas von Aquino
FN20) in diesen Irrtum verfallen, indem er, gewiß
unbewußt, hier von der Lehre seines Meisters Aristoteles abfiel."
S.13a: "... die göttliche Allmacht gewiß
dasselbe habe leisten können. ..."
S.13b: "...Gewiß gilt es von
allem unseren Denken, daß es seiner Natur nach ein Leiden FN4) ist,
und vielleicht kann man sogar sagen, daß dieser Charakter ihm allgemein
anhaftet. Und da nun darunter auch solches sich finde, was, wie z. B. Sehen
und Hören, nicht von etwas Psychischem hervorgebracht scheint, so
könnte man sagen, daß hier, indem eine Ursache, ein Außending
als Ursache gesichert erscheint. ..."
S.45: "... Bei der letzteren Leistung hat gewiß
eine allmählich erworbene Disposition wesentlichen Anteil, ähnlich
wie für die Raumanschauung ein Augenmaß sich ausbildet. ..."
S.66: "... So gewiß es also
lokale Beziehungen gibt, gibt es auch absolute lokale Bestimmungen, wenn
wir dieselben auch vielfach durch Beziehung auf als bekannt vorausgesetzte
Positionen charakterisieren, ähnlich wie alle Längen durch Beziehung
auf die bekannte Größe des Meters FN37)."
S.75: "... Man wird dagegen geltend machen, daß ja doch erfahrungsgemäß
kein Tier zählen kann. Es kann aber auch seinen Herrn, obwohl es ihn
von allen anderen unterscheidet, nicht zeichnen und wäre, obwohl es
gewiß
Menschen und Tiere und Pferde und Katzen unterscheiden kann, doch nicht
fähig, eine das eine Geschlecht vom anderen unterscheidende Definition
zu geben. ..."
S.79: "... Fragen wir die Erfahrung, so scheint dieselbe aber durchaus
nicht mit dem, was Nicolaus Cusanus sagt, im Einklang; vielmehr
scheinen die Tiere, so gewiß sie
nicht nur an der Liebe, sondern auch am Haß teilhaben, auch nicht
bloß an der Anerkennung, sondern auch an der Verneinung teilzuhaben.
..."
S.79f: "... Und wenn ein Hund durch alle Zimmer läuft, um seinen
Herrn zu [>80] suchen, und, nachdem er in eines hineingeblickt, es verläßt,
um nun anderwärts zu suchen, so täuschen wir uns gewiß
nicht, wenn wir annehmen, er sei zu dem Urteil gelangt, daß sein
Herr nicht darin sei FN70). ..."
S.81: "... Allein der Fuß kann abgenommen sein, und der Schmerz
wird noch mit Evidenz wahrgenommen, aber gewiß
nicht mit Evidenz im Fuße wahrgenommen, da dieser ja nicht mehr ist.
..."
S.87: "§ 38. Eine andere Frage ist, ob wir die durch Abstraktion
gewonnenen Universalien zu denken vermögen, ohne gleichzeitig eine
sinnliche Anschauung zu haben, aus der sie nicht bloß geschöpft
worden sind, sondern in denen sie fort und fort uns zur Anschauung gebracht
werden. Daß es nicht nötig sei, könnte einer versucht sein,
schon daraus zu folgern, daß wir uns selbst einem allgemeinen Begriffe
nach vorstellen, ohne eine individuell determinierte Anschauung zu besitzen.
Ferner könnte man sich auf die Erfahrung beziehen, da, wenn wir den
Begriff des Dreiecks im allgemeinen denken, keineswegs ein einzelnes Dreieck
gleichzeitig gedacht werden muß, vielmehr niemand fähig ist,
auch mir eine einzige gerade Linie sich anschaulich zu machen, wie er sie
ja auch nicht zu zeichnen vermag, indem immer Unregelmäßigkeiten
nicht fehlen werden. So ist es denn gewiß
auch nicht wahr, daß, wer immer den Begriff eines Hauses im allgemeinen
denkt, sich ein einzelnes Haus, und wäre es auch nur von einer Seite,
mit genau bestimmten Größenverhältnissen der Teile anschaulich
vorstelle. Demnach ist wohl das Gegenteil sicher, und die angeblichen entgegengesetzten
Erfahrungen erledigen sich damit, daß wir, wenn wir ein Haus oder
auch ein Dreieck im allgemeinen denken, es nicht anders als durch eine
Kombination von Attributen tun, von denen dann jedes einzelne aus einer
Anschauung geschöpft ist FN92). Es kommt dazu, daß wir in solchem
Fall den komplizierten Begriff, der dem Namen [>88] assoziiert ist, sehr
gewöhnlich sehr unvollständig denken; es genügt, daß
die nicht wirklich gedachten Momente als bald sich in Gedanken zugesellen,
wenn im Verlauf des Nachdenkens über die Sache ihr aktuelles Denken
erforderlich ist. Recht deutlich wird man sich davon sofort überzeugen,
wenn man beispielsweise sich fragt, ob man, wenn man von Staat oder Kirche
spricht, die ganze Fülle von begrifflichen Momenten wirklich gegenwärtig
habe, welche in ihren Begriffen umschlossen sind FN93). Dies sei hier nur
vorübergehend bemerkt, da es besser ist, die eingehendere Untersuchung
in anderem Zusammenhange zu führen FN94); hier kam es uns nur darauf
an, den Bestand der sog. intelligiblen Gegenstände überhaupt
zu sichern FN95)."
S.90: "§ 4. Und wenn wir die Lehre dieses großen Philosophen
beiseite lassen, so scheint doch das eine gewiß,
daß keiner anzugeben vermag, was ihn selbst als Denkenden individualisiere.
Was er sieht, hört, schmeckt, glaubt, leugnet, wünscht, will,
woran er sich freut, worüber er sich betrübt usw. usw. könnten
ohne Widerspruch beliebig viele andere ebenso zum Objekte haben. Und so
ist denn nichts gewisser, als daß
bei keinem die Selbsterkenntnis eine völlig bestimmte, die individualisierende
Bestimmung einschließende ist. Hier also haben wir es mit einer allgemeinen
Vorstellung zu tun, die ohne Hinblick auf individuelle Anschauliches gegeben
ist FN4)."
S.91: "§ 6. Wir finden also, daß wir wirklich, genau besehen,
nur
Allgemeines zu Denkobjekten haben, ganz im Gegensatz zu dem, was die
Nominalisten behaupten. In der Allgemeinheit aber gibt es noch Gradunterschiede,
und was die äußere, sinnliche Wahrnehmung betrifft, der (nur)
FN8) die Zeitbestimmtheit zur vollen Determination mangelt, so ist sie
gewiß
vor allem der vollen Individualisation nahestehend FN9). Weit mehr entfernt
sich davon unser Denken, wenn es ein Dreieck, einen Kreis, eine ebene Figur,
eine planimetrische Figur, eine Figur, eine Fläche, einen Körper,
eine Linie, einen Punkt, eine Grenze, ein Rotes, ein Farbiges, ein sensibles
Qualitatives u. dgl. denkt. ..."
S.101: "... Die innere Wahrnehmung aber ist infallibel, und darum müßte
in dieser wenigstens so gewiß
als in der Wirklichkeit die zeitliche Bestimmung in der Erscheinung stets
eine andere sein. ..."
Stegmüller, Wolfgang (1965) Kapitel 1 Philosophie der Evidenz: Franz Brentano. In (2-48) Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie. Eine kritische Einführung. Dritte wesentlich erweiterte Auflage. Stuttgart: Kröner.
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