Staats- und Gesellschaftsreform unter den Herausforderungen
der Globalisierung
nach Helmut Schmidt (Bundeskanzler
1974-1982)
Ein Buchhhinweis von Rudolf Sponsel, Erlangen
Querverweise
Bewertung: Ein sehr wichtiges und wertvolles politisches Buch, das die sieben simultan notwendigen Therapien klar und deutlich aufzeigt, die Deutschland dringend und schnell braucht, wenn es nicht weiterhin bis in die Regionalliga der Welt absteigen will. Obwohl schon vor über sechs Jahren formuliert, sind das Buch und seine Empfehlungen aktueller denn je. Ein paar kritische Fragen über dieses Buch hinaus bleiben allerdings offen: Helmut Schmidt ist als Bundeskanzler der Jahre 1974-1982 auch mitverantwortlich für die Mißgestaltung und die hemmungslose Schuldenwirtschaft dieser Amigo-Republik. Er räumt in seinem Buch zwar auch einige persönliche Fehler ein, die grundlegenden Fehlleistungen der PolitikerInnen und des hollywooddemokratischen Systems Deutschland AG werden aber nicht konsequent genug aufgezeigt. |
Das Buch, basierend auf Vorträgen, die 1997 in der
Heinrich Heine Universität Düsseldorf gehalten wurden, ist nach
den drei Vorträgen in drei Hauptteile gegliedert: Zunächst werden
im ersten Teil vier Hauptphänomene der Globalisierung beschrieben:
Ausgehend von diesem globalen Szenario analysiert
Helmut Schmidt die Situation in Deutschland und kommt für mich zu
drastischen Diagnosen des Zustandes dieser Republik, wobei er optimistisch
bleibt, wenn die richtigen Struktur-Reformen rechtzeitig und nachhaltig
auf den Weg gebracht werden. Deutschland krankt demnach an einer Vielzahl
grundlegender Probleme, die alle zusammen richtig angepackt werden müssen,
wenn Deutschland seinen Wohlstand und internationalen Status behalten will.
Insgesamt sieht Helmut Schmidt sieben notwendige und simultan
zu verabreichende Therapien für den kranken Wohlstandskoloß
Deutschland (S. 102f):
"Ich habe aufgezeigt, daß und warum
ein massives Keynes'sches deficit
spending unter den heutigen Bedingungen globaler wirtschaftlicher Verflechtung
wirkungslos bleiben muß. Sodann habe ich für sieben Felder der
Fehlentwicklung die wichtigsten Therapien vor Augen geführt: die Wiederherstellung
der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen durch weitgehende Streichungen
in den 84000 Paragraphen der Bundesgesetze und Bundesrechtsverordnungen;
der Abbau von Staatsaufgaben, insbesondere auch von konsumorientierten
Subventionen; die Beseitigung von steuerlichen Ausnahmen, Schlupflöchern
und Oasen, die Herstellung von Steuerdurchsichtig- [102] keit und sodann
Steuersenkung; die Wiederherstellung von Flexibilität im Arbeitsmarkt;
die Wiederherstellung von Solidarität zwischen Arbeitgebern, Arbeitnehmern
und Staat; die Erneuerung, nicht aber die Beseitigung der sozialen Sicherungssysteme.
Der wichtigste Punkt ist dabei für mich, wie erwähnt, die Notwendigkeit einer großen Gesamtanstrengung von Bund und Ländern und Unternehmungen auf den Feldern von Forschung und Entwicklung. Und ich will dazu wiederholen: Wenn wir unsere strukturelle Arbeitslosigkeit überwinden wollen, dann sind viele Therapien und Korrekturen zugleich notwendig. Aber die wichtigste Operation dient der Aufgabe, uns zu Leistungen und zu Produktionen zu befähigen, welche die neuen aufstrebenden Teilnehmer an der Weltvvirtschaft einstweilen selbst noch nicht erbringen können - einstweilen! Mit anderen Worten: Produkte und zugleich rentable Arbeitsplätze schaffen, von denen nicht befürchtet werden muß, daß auch sie morgen schon abwandern in billiger produzierende Länder, die neuerdings an der Weltwirtschaft teilnehmen. Neue Leistungen, neue Produkte sind nur zu erhoffen im Zuge einer großen Gesamtanstrengung von Staat und Gesellschaft in Richtung auf [103] Forschung, auf Anwendung, auf Erfindung und auf Entwicklung. Dazu gehört wissenschaftliche Neugier. Man braucht auch Zivilcourage, man braucht Beharrlichkeit, zum Beispiel im Falle von Fehlschlägen. Man braucht natürlich mehr Geld als bisher für die Forschung. Ich füge hinzu: Daß der Staat und daß die Unternehmen den Forschungsaufwand in Deutschland insgesamt haben schrumpfen lassen in diesem Jahrzehnt, ist das Gegenteil von dem, was bei uns notwendig wäre! Man braucht auch eine auf Innovation orientierte hilfreiche öffentliche Meinung - eine auf Innovation orientierte öffentliche Meinung, die wir gegenwärtig nicht haben. Die kläglichen deutschen Ängste gegenüber allem, was neu ist, müssen wir überwinden. Dies ist eine gemeinsame Aufgabe der diesen Staat tragenden politischen Parteien, ihrer Kanzler und Kanzlerkandidaten, ihrer Minister, ihrer Abgeordneten. Es ist ebenso eine Aufgabe der Unternehmen und ihrer Führer - und ihrer Verbände und der Gewerkschaften. Es ist nicht zuletzt eine Aufgabe auch der Wissenschaftler und der Menschen in den Forschungseinrichtungen, mindestens insoweit, als Wissenschaft und Forschung vom Steuerzahler finanziert werden. Mindestens insoweit, wie wir alle gemeinsam als [104] Steuerzahler Forschung bezahlen, haben die Wissenschaftler und die Forscher uns gegenüber, der Öffentlichkeit gegenüber, eine Bringschuld: Sie haben die moralische oder sagen wir die mitbürgerliche Pflicht, uns gemeinverständlich zu sagen, was sie tun, ihre Ergebnisse, auch ihre zukünftigen Erwartungen darzulegen. Sie haben die moralische, die mitbürgerliche Pflicht, den Angstneurosen in unserer Gesellschaft entgegenzutreten, den prinzipiellen Angstneurosen gegenüber allen Forschungen und allen Neuerungen. Dort, wo ungerechtfertigte Ängste grassieren, müssen wir diesen Ängsten entgegentreten durch geduldige Aufklärung. Wir müssen ihnen den Boden entziehen." |
"Ich nenne als erstes die Notwendigkeit der Deregulierung, der Ausdünnung der Gesetze. Wir Bürger unseres Staates haben uns leider daran gewöhnt, daß wir durch ein für uns undurch- [69] schaubar gewordenes öffentliches Recht an vielen Ecken und Kanten eingeengt sind. Neulich wollte ich das meiner Frau und mir seit 39 Jahren gehörige kleine Sommerhäuschen am Brahmsee in Schleswig-Holstein statt der Asbestplatten, mit denen es von außen verkleidet war, und statt des Asbestdaches endlich mit anständigen Ziegelsteinen umkleiden und mit anständigen Dachpfannen. Es stellte sich heraus, daß ich dazu eine Baugenehmigung brauchte; die Zeichnung mußte in dreifacher Ausfertigung eingereicht werden, es mußte ein Gutachten eines Statikers eingeholt werden, der Nachbar mußte in dreifacher Ausfertigung bestätigen, daß er mit dem neuen Anblick einverstanden sein würde. Schließlich hat die Behörde alles genehmigt, sie hat keine Schwierigkeiten gemacht. Es hat nur viel Geld und Zeit gekostet - und hat mir die Augen geöffnet über den Blödsinn im Baugesetzbuch.
Das Baugesetzbuch hat 1731 Seiten, bedruckt nur mit Paragraphen. Oder das Umweltschutzgesetzbuch: 600 Seiten auf Dünndruckpapier - nur Paragraphen. Auf die Paragraphen des Steuerrechts, des Sozialrechts, des Arbeitsrechts will ich noch kommen. Alles will in Deutschland in endlosen Paragraphen geregelt sein - sonst sind wir nicht glücklich. [70]
Mein Friseur ist neulich in Rente gegangen. Eine junge Friseuse hat den Laden übernommen. Sie mußte von Gesetzes wegen Mitglied der Innung und Mitglied der Handwerkskammer werden und ihre Beiträge bezahlen. Wozu eigentlich? Wenn sie mir die Haare falsch schneidet, gehe ich nicht wieder hin. Deshalb braucht sie doch nicht beaufsichtigt zu werden!
Ich habe einmal einem tüchtigen Hauptschüler, der Elektroniker ist und der sich selbständig machen wollte, mit einem kleinen Kredit geholfen. Nach ein paar Jahren traf ich ihn wieder und habe ihn gefragt: »Wie geht's Dir denn?« Da hat er mir erzählt, was er produziert. Ich frage darauf: »Wieviel Leute beschäftigst Du inzwischen?« »Leute beschäftigen?« sagt er, »das mache ich allein, meine Frau führt die Bücher.« Er hat Angst davor, daß er, sowie er jemanden einstellt, es mit tausend Vorschriften zu tun hat, die er nicht durchschauen kann, die er gar nicht kennen kann.
Nehmen wir alle diese Zwangsmitgliedschaften in Industrie- und Handelskammern, obendrüber thront der Deutsche Industrie- und Handelstag und macht große Wirtschaftspolitik und große Steuerpolitik - alles im Namen derjenigen, die Zwangsmitglieder seiner Kammern sind. Das ist Fortsetzung des Mittelalters. [71]
Oder schauen wir auf die Dauer der Gerichtsverfahren in Deutschland. Ich rede nicht von den Strafverfahren, ich rede vom Zivilverfahren vor dem Amtsgericht, ich rede vom Arbeitsgericht. Sie sind beide ziemlich entwertet in Deutschland; früher war ein Amtsrichter eine bedeutende Figur, heute schämt er sich zu sagen, daß er am Amtsgericht tätig ist. Jedes zweite Verfahren geht in die nächste Instanz; und jede Instanz pinselt ganz sorgfältig ihre Begründung, in der Hoffnung, möglichst zu vereiteln, daß ihr Urteil in der nächsten Instanz aufgehoben wird. Wir haben uns auf der Grundlage unserer Gesetze ein Gerichtswesen geschaffen, das ich am besten dadurch charakterisieren kann, daß ich davon berichte, wie meine Vaterstadt Hamburg - keine zwei Millionen Menschen ebenso viele hauptamtliche Richter beamtet beschäftigen muß wie ganz England zusammen! Und das dürfte in Düsseldorf und anderswo ähnlich sein. Das ist aber nicht die Schuld der Regierenden in Düsseldorf oder in Hamburg. Das ist unser aller Schuld, genauer gesagt die Schuld von fünfzig Jahren Gesetzgebung in Bonn seit 1948/49. Und es waren Demokraten, die alle Gesetze gemacht haben!
Da gibt es in Bonn ein Arbeitsgremium,
das nennt sich »Schlanker Staat«, das hat jetzt seinen [72]
Abschlußbericht, 600 Seiten, vorgelegt. Zufällig
ist mir gleichzeitig damit eine Rechtsverordnung des Bundesministers für
Ernährung, Landwirtschaft und Forsten in die Hand gekommen, sie steht
im Bundesgesetzblatt, Teil 1, Nr. 74. Die Verordnung beginnt: »Artikel
1: Die Pflanzenbeschauverordnung vom 10. Mai 1989 (Bundesgesetzblatt 1,
S. 905), zuletzt geändert durch Verordnung vom 21. Februar 1996 (Bundesgesetzblatt
1, S. 232), wird wie folgt geändert: in 6, Absatz 3, Satz 2 wird die
Angabe >durch Aufdruck oder Stempeln< durch die Angabe ersetzt >durch
Aufdrucken oder Stempeln<.«
Derartigen Schwachsinn, gedruckt im Bundesgesetzblatt, kann man dort tausendfältig wiederfinden. Und nicht dieser eine arme Bundesminister, der den Unfug unterschrieben hat, sondern alle Minister - auch alle meiner Regierung vor fünfzehn oder zwanzig Jahren - denken immer wieder, alles müsse in Deutschland geregelt werden.
Neulich habe ich den Bundesjustizminister fragen lassen, wie viele Paragraphen von Bundes wegen in Deutschland gelten. Antwort: ungefähr 84000. Aber genau könne man es nicht sagen, denn jede Woche kämen neue hinzu. Aber gezählt wurden hier nur die Paragraphen der Bundesge- [73] setze und der Bundesrechtsverordnungen - nicht etwa TA Luft oder TA Wasser oder die Durchführungserlasse des Finanz-Ministers oder des Ernährungsministers usw. Es gibt niemanden in Deutschland, der das ganze Dickicht durchschauen kann. Wenn man sich die Gesetzentwürfe anguckt, dann steht auf jedem neuen Gesetzentwurf ausdrücklich vorne drauf: Alternativen gibt es nicht.
Ich denke, derjenige, der Paragraphen aufhebt, erwirbt sich ein Verdienst; umgekehrt: Wer neue Paragraphen dazufügt, wer neue Metastasen schafft, der müßte eigentlich öffentlich bloßgestellt werden, eigentlich müßte er geprügelt werden. Als ich auf die Notwendigkeit von Verkehrsregeln im internationalen Finanzverkehr hingewiesen habe, ist hoffentlich niemand auf die Idee gekommen, ich sei ein Anhänger des Prinzips, generell alles zu regulieren. Im Gegenteil: Was wir brauchen in Deutschland, ist, daß wir uns mehr verlassen auf die Eigenverantwortung der Person. Die eigene Verantwortung zum Beispiel des Bauherrn Schmidt, der sein Sommerhäuschen am Brahmsee modernisieren wollte. Warum mußte vorher eine Genehmigungsbehörde mitwirken? In vielen Fällen sind die Genehmigungsbehörden Verhinderungsbehörden! Soll doch der Archi- [74] tekt oder der Bauherr oder der Handwerker, der den Dachstuhl nicht anständig aufsetzt, im Falle eines Schadens zum Schadensersatz herangezogen werden. Und soll er sich doch deswegen eine Haftpflichtversicherung anschaffen. Weswegen müssen wir dafür soundso viele Beamten beschäftigen? Wir beschäftigen diese Beamten mit ziemlich unproduktiver Tätigkeit. Vor allem aber lähmen wir die Initiative der privaten Bürger. Wir brauchen dringend eine umfassende Ausdünnung unserer Gesetze, eine lange Liste von Streichungen und Vereinfachungen!"
Helmut Schmidt: "* 23.12.1918 Hamburg. Seit 1946 Mitglied der >SPD; 1953-1962 und 1965-1987 Abgeordneter des >Bundestages; 1958-1984 im SPD-Parteivorstand; 1961-1965 Innensenator von Hamburg; 1968-1984 stellvertretender Parteivorsitzender; 1969-1972 Verteidigungs-, 1972 Wirtschafts- und Finanz-, 1972-1974 Finanzminister; setzte nach dem Rücktritt >Brandts 1974-1982 als Bundeskanzler einer SPD/7FDP-Koalition die Ostpolitik seines Vorgängers fort; als Anhänger der Marktwirtschaft und Verfechter der Verteidigungspolitik der >NATO geriet S. mehrfach in Gegensatz zu seiner Partei. S.s Politik trug zur Überwindung der Erdölkrise in den westlichen Industriestaaten auch international wesentlich bei (1975 erster Weltwirtschaftsgipfel, 1979 Europäisches Währungssystem [EWS]); 1982 wurde S. nach Ausstieg der FDP aus der Koalition durch konstruktives Misstrauensvotum (Wahl >Kohls) gestürzt; seit 1983 Mitherausgeber der Wochenzeitung "Die Zeit". AM". Quelle: Ploetz (o.J.). Lexikon der Weltgeschichte. Frechen: Komet, S. 413.
Biographisches und Reden: http://www.hdg.de/lemo/jahreschronik/biografien/SchmidtHelmut/
In seinem Buch "Macht und
Leben" hat Valery Giscard D'Estaing auch ein Kapitel über seinen Freund
Helmut Schmidt (108-140) geschrieben.
Das Buch enthält in einem Anhang eine
Schilderung des Botschafters über die Zustände in Teheran (Iran)
zur Zeit der Revolution des Sturzes des Schahs.
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