Psychologie und Psychopathologie des Geldes 2
Themenheft Geld - Zeitschrift für Sozialökonomie
Wie der Herr, so das G'scherr (Sprichwort)
Frei verwendbar mit Angabe der
Quelle R. Sponsel IP-GIPT (12/06) Ausführlich.
Ein Literaturhinweis mit Leseproben von Rudolf Sponsel, Erlangen
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Zeitschrift für Sozialökonomie
131.Folge
38J. Dez 2001
aus dem Verlag für Sozialökonomie
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Nach dem Vorwort kommt eine origineller Vorspann, der dem Inhaltsverzeichnis nicht zu entnehmen ist:
Der kleine Prinz und der Geschäftsmann
"Die großen Leute haben eine Vorliebe für Zahlen. Wenn ihr
ihnen von einem neuen Freund erzählt, befragen sie euch nie über
das Wesentliche. Sie fragen euch nie: Wie ist der Klang seiner Stimme?
Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er Schmetterlinge? Sie fragen
euch: Wie alt ist er? ... Wieviel verdient sein Vater? Dann erst glauben
sie ihn zu kennen.
Der Geschäftsmann: 'Das macht also fünfhunderteinemillion
sechshundert- zweiundzwanzigtausendsiebenhunderteinunddreißig.'
Der kleine Prinz: 'Fünfhundert Millionen wovon?'
Der Geschäftsmann: Wie? Du bist immer noch da? Fünfhunderteinemillion
von ... Ich weiß nicht mehr, ich habe so viel Arbeit. Ich bin ein
ernsthafter Mann, ich gebe mich nicht mit Kindereien ab. Zwei und fünf
ist sieben...'
Der kleine Prinz: 'Millionen wovon?'
Der Geschäftsmann: 'Millionen von diesen kleinen Dingern, die
man manchmal am Himmel sieht.... Kleine goldene Dinger, die glänzen,
die Sterne.'
Der kleine Prinz: 'Und was machst du mit diesen Sternen?'
Der Geschäftsmann: 'Nichts. Ich besitze sie.'
Der kleine Prinz: 'Und was hast du davon, die Sterne zu besitzen?'
Der Geschäftsmann: 'Das macht mich reich.'
Der kleine Prinz: 'Und was hast du von dem Reichsein?'
Der Geschäftsmann: 'Weitere Sterne kaufen, wenn jemand welche
findet.'
Der kleine Prinz: Wie kann man die Sterne besitzen?'
Der Geschäftsmann: 'Wem gehören sie? Ich weiß nicht.
Niemandem. ... Ich kann die Sterne in die Bank legen.'
Der kleine Prinz: Was soll das heißen?'
Der Geschäftsmann: 'Das heißt, dass ich die Zahl meiner
Sterne auf ein kleines Papier schreibe. Und dann sperre ich dieses Papier
in eine Schublade.'
Die großen Leute beten die Zahlen an. ...
Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendetwas kennenzulernen. Sie kaufen
alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für
Freunde gibt, haben die Leute keine Freunde mehr. ... Hier ist mein Geheimnis.
Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche
ist für die Augen unsichtbar.
'Die Leute', sagte der kleine Prinz, 'schieben sich
in die Schnellzüge; aber sie wissen gar nicht, wohin sie fahren wollen.
Nachher regen sie sich auf und drehen sich im Kreis. ... Dabei kann man
das, was sie suchen, in einer einzigen Rose oder in einem bißchen
Wasser finden. Aber die Augen sind blind. Man muss mit dem Herzen suchen.'"
Aus: Antoine de Saint-Exupéry. Der kleine Prinz, Düsseldorf: Rauch Verlag 1950 und 1998, Seiten 17, 43-47, 57, 67, 70, 77 und 79.
"Mit dem Thema Geld und insbesondere mit der Wirkung des Geldes auf
den Menschen sind wir alle täglich konfrontiert. Wer kennt nicht solche
Sätze wie diese: "Hätte ich Geld, dann sähe mein Leben anders
aus." - "Geld allein macht nicht glücklich, aber es beruhigt." - "Geld
ist Macht." - "Geld ist Sicherheit." - "Geld macht stark." - "Geld bedeutet
Unabhängigkeit." - "Was Geld bringt ist gut." Es ließen sich
noch viele solcher verinnerlichten Glaubenssätze beifügen.
Anhand einiger Erfahrungen mit Frauen, Männern
und Jugendlichen aus meiner täglichen Seminararbeit möchte ich
zeigen, welche persönliche und gesellschaftliche Wirkung der Fokus
auf Geld haben kann. Und ich stelle die These auf, dass ein mit sich selbst
zufriedener Mensch der Verführung Geld nicht erliegt. Es geht dabei
nicht um eine sekundäre Zufriedenheit, die dann eintritt, wenn ein
Mensch durch Selbstaufgabe so nützlich geworden ist, dass er dafür
Anerkennung und Geld bekommt und sich dann vordergründig zufrieden
gibt. Es geht vielmehr um einen Menschen, der weiss wofür er lebt
und tut, was ihm aus dem Herzen heraus wichtig erscheint, der seiner inneren
Lebendigkeit zu folgen vermag und sich gerade darum mit anderen Menschen
verbunden fühlt. Dieser mit sich selbst zufriedene Mensch ist nicht
käuflich. Kein Geld, kein Bonus, keine noch so hohe Abfindung wird
ihm diese innere Zufriedenheit je ersetzen können. Dieser Mensch ist
couragiert, verdrängt seine Empathie nicht und hat die Kraft für
Werte einzustehen, die ihm wichtig sind. Das macht sein Leben nicht unbedingt
einfacher, aber reicher - reicher nicht im Sinne von Vermögen, sondern
von innerem Reichtum, der unabhängig ist vom Geld. Geld ist niemals
der Ursprung von tiefer, nachhaltiger und echter Zufriedenheit, obwohl
uns das täglich von der Werbung der Banken und Versicherungen suggeriert
wird. "Bei uns muss Ihr Geld arbeiten", heisst es da zum Beispiel. Dass
das Geld nicht von sich aus arbeitet, sondern Menschen genötigt werden,
ihr ganzes Streben einzig der Geldvermehrung zu widmen, ungeachtet des
Preises, den diese dafür zu zahlen haben, steht natürlich nicht
in der Werbung.
Die daraus resultierenden persönlichen Folgen
begegnen mir fast täglich in Beratungsgesprächen. Banker, Manager,
Unternehmer, Verkäufer, Lehrer, Ärzte, Verwaltungsangestellte,
Versicherungsspezialisten, Familienväter - sie alle erweisen sich
vielfach als finanziell gut situiert, aber innerlich vollkommen ausgehöhlt.
Ihre wohlklingenden Funktionen haben sie zu funktionierenden Robotern gemacht;
sie haben Entscheidungen zu treffen, die sie im Grunde nicht vertreten
können und die eine Umprogrammierung ihrer menschlichen Gefühle
bedeuten. Und auch immer mehr Frauen glauben, nur als besserer Mann Karriere
machen zu können. Sie opfern ihre kraftvolle Weiblichkeit, ihr inneres
Wissen, ihr Mitgefühl, ihre natürliche Schönheit einem Massenwahn,
der das Geld zum globalen Gott erkoren hat. Diesem Geldgott huldigt bald
die ganze Menschheit. Er begründet die neue Welt-Religion, der Mensch,
Tier und die ganze Natur zu opfern sind. Von "unvermeidbaren Marktopfern"
ist dann die Rede. Die Losung heisst: "Investieren Sie! Machen Sie mehr
aus Ihrem Geld! Werden Sie der Größte! Wir helfen Ihnen dabei.
Wir versichern Sie, wir sind Ihre Partner! Ihr Geld ist uns heilig." So
tönen die Lockrufe der Gewaltigen unserer Zeit.
Schamlos werden tiefe emotionale Bedürfnisse
angesprochen und in alles, was Geld bringt, hineinprojiziert. Geld und
Macht werden zu Glücksbringern schlechthin. Dafür sorgen u.a.
auch die dieserart wettbewerbstauglich geschulten Betriebspsychologen und
Kommunikationsspezialisten in Leitbildern, in Medienauftritten und in Werbeschriften
ganz vorzüglich. So investieren wir in Versicherungen und Aktien,
in Besitz und Funktion und in Beziehungen, die uns in dieser rein materiellen
Hinsicht dienen könnten. Aber irgendwann - egal ob reich oder arm
- lei-[S.4]den wir an Depressionen, an Angst und Misstrauen, an Beziehungslosigkeit,
an Krankheiten aus unsäglichem Druck - lauter Opfergaben an das Phantom
Geld, an das Phantom des kapitalistischen Marktes. Täglich berichten
mir Frauen und Männer von ihrem Leiden unter dem sinnleeren Leistungsstress,
der nicht nur sie selbst, sondern ihre Familien zerstört und wahre
Freundschaften nahezu unmöglich macht. Sie berichten von Angst- und
Panikattacken, von Hoffnungslosigkeit, von Sinnlosigkeit, von Tabletten-,
Alkohol- und Sexsucht. Und sie haben keine Vorstellung mehr davon, wie
sie aus diesem Teufelskreis jemals herausfinden könnten. Sie fühlen
sich vom sog. Marktzwang tief beherrscht. Obwohl die meisten von ihnen
nach aussen hin sehr erfolgreich und zum Teil hoch angesehen sind, fühlen
sie sich innerlich verlassen und leer, zurechtgebogen von ebenso Verlassenen
und konkurrenztauglich Zurechtgebogenen. Immer mehr Leute berichten mir,
wie sie sich selbst nicht mehr im Spiegel betrachten können, weil
sie sich für unethische Dinge einspannen lassen. Um sich von diesen
unangenehmen Gefühlen zu befreien, spenden sie dann oftmals Geld an
karitative Organisationen und merken irgendwann, dass ihr schleichendes
schlechtes Gewissen größer ist als jede Geldspende.
Darum möchte ich meine These wiederholen, dass
ein mit sich selbst zufriedener Mensch der Verführung durch das Geld
nicht so leicht erliegt. Ebensowenig erliegt er Manipulationen, die ihn
von sich selbst entfremden."
Leseprobe aus Bärbel Kerber: Geld - reine Gefühlssache
Aus S. 9-11
"Nach einer Anzahl von Fallstudien kamen Herb Goldberg, Psychologieprofessor in Los Angeles, und sein Kollege Robert Lewis zu dem Schluss, dass es vor allem folgende Bedürfnisse sind, die wir mit Hilfe von Geld zu stillen versuchen:
Sicherheit:
Für manche Menschen ist Geld gleichbedeutend mit Sicherheit. Es gibt
ihnen das Gefühl, die Welt mit all ihren Gefahren und Unwägbarkeiten
im Griff zu haben. Ohne Geld fühlen sie sich ausgeliefert und verletzbar.
Sie werden beherrscht von dem Glauben "Solange ich nur genügend Geld
habe, kann ich selbst dann überleben, wenn alle mich im Stich lassen."
Wer so denkt, spart lieber, als dass er Geld ausgibt. Typische Vertreter
sind zwanghafte Sparer, knausrige Menschen, Schnäppchenjäger,
aber auch fanatische Sammler von Dingen.
Wer Geld als "emotionale Rettungsweste" betrachtet,
hat häufig eine tiefverwurzelte Angst, verlassen zu werden; ihm fehlt
Urvertrauen. Zum Beispiel, weil die Eltern sehr streng und distanziert
waren, kein Gefühl von Sicherheit und Schutz vermitteln konnten. Wer
sich als Kind nicht auf seine Eltern verlassen konnte, setzt später
Geld an die Stelle von Menschen als potenzielle Quelle der Sicherheit und
Geborgenheit.
Macht: Menschen, für die Geld Macht bedeutet, benützen es, um sich Einfluss, Herrschaft und Kontrolle zu erkaufen. Geld und die Macht, die es mit sich bringt, sind für sie ein Weg, um der Angst und Frustration zu begegnen, die entstanden, als sie als Kind erkannten, wie hilflos und abhängig sind. Machtorientierte Menschen reagieren auf ihre in der Kindheit erfahrene Hilflosigkeit mit Wut anstatt mit Angst - sie greifen an. Andere Menschen sollen dazu gezwungen werden, ihnen die Stange zu halten. Mit Hilfe von Geld manipulieren sie - notfalls mit unerlaubten Mitteln -, sie versuchen, andere von sich abhängig zu machen, sie zu bestechen und zu kontrollieren.
Liebe: Hier ersetzen Geld und Geschenke Emotionen und Liebe. Wer Geld benützt, um sich Liebe und Zuneigung zu kaufen, hat dies selbst oft auch als Kind so erfahren. Es gab Kekse oder Spielzeug anstelle von Zuwendung. Vielleicht wollten sich die Eltern auch von Schuldgefühlen freikaufen, weil es ihnen an Zeit für ihre Sprösslinge mangelte. Für die Kinder verschmelzen dadurch Liebe, Geld, Zeit und Schuld "zu einer unauflöslichen Einheit", warnt der amerikanische Soziologe Lewis Yablonsky. Weil das Bedürfnis nach wahrer Zuneigung ungestillt bleibt, entsteht das Gefühl, nicht nur ungeliebt, sondern auch nicht liebenswert zu sein. Krampfhaft wird dann versucht, mit Hilfe von Geld etwas dagegen zu tun, sich zum Beispiel mit großzügigen Geschenken Freunde zu machen. Die Gefahr, dass diese 'Großzügigkeit' ausgenutzt wird, nehmen diese Menschen dabei in Kauf. Sie sind es auch, die der Bedienung im Restaurant oder dem Frisör ein unangemessen hohes Trinkgeld geben oder nur der Verkäuferin zuliebe den Pullover kaufen, um im Gegenzug ein Lächeln oder ein freundliches Wort zu erhalten.
Freiheit: Geld wird als Mittel betrachtet, sich Zeit zu kaufen, um tun können, was man will. Für diese Menschen ist das Wichtigste, dass sie ihren eigenen Interessen nachgehen können. Geld per se hat für sie wenig Wert. Neun-bis-Fünf-Jobs sind ihnen zuwider; sie arbeiten lieber für weniger Geld in Berufen, in denen sie unabhängiger sind. Wer ein starkes Bedürfnis nach Autonomie und Freiheit hat, machte meist in der Kindheit die Erfahrung, dass die Eltern keine Zeit für ihn hatten. Wann immer er Hilfe und Unterstützung suchte, wurde er weggeschickt; die Eltern sollten möglichst nicht belästigt werden. Abhängig zu sein bedeutet folglich für diese Menschen, sich Schmerz und Schmach auszusetzen. Deshalb wollen sie vermeiden, dass man sie zur Seite schiebt oder ihnen sagt, was sie zu tun haben. "Alle Kinder lernen ihre Einstellungen zum Geld von ihren Eltern, ob ihnen das bewusst ist oder nicht", erklärt auch der Geldexperte Lewis Yablonsky. Erwachsene, die danach befragt wurden, welche Botschaften sie von ihren Eltern mit auf den Weg bekamen, antworteten beispielsweise: "Meine Mutter sagte, nur arme Leute kämen in den Himmel." - "Mein Vater sagte, nur Kriminelle seien reich." - "Meine Eltern sagten, es sei ein Geheimnis, wie man zu Geld kommt, dass aber keiner in unserer Familie dieses Geheimnis kenne." - "Die Tatsache, dass Erwachsene sich so gut an die Äußerungen erinnern können, zeigt die Macht der frühen Sozialisation", bemerken Argyle und Furnham. "Der erste Kontakt von Kindern mit Geld geschieht in ziemlich frühem Alter, indem sie ihre Eltern beim Kaufen und Verkaufen beobachten, indem sie Taschengeld erhalten und so weiter." Die Eltern haben es also mit in der Hand, welche Rolle Geld im Leben ihrer Kinder später spielt.
Misslingt es den Eltern regelmäßig, einen Finanzplan einzuhalten, oder müssen sie permanent einen Überziehungskredit in Anspruch nehmen, weil das Geld bis zum Monatsende nicht reicht, dann ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass ihre Kinder später mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Machen sich Vater und Mutter ständig Sorgen um die Familienfinanzen, ist damit zu rechnen, dass man selbst auch ängstlich in Gelddingen wird. "Kinder lernen viel mehr durch das Beobachten als durch Vorträge und Anweisungen", meint hierzu Fred Waddell von der amerikanischen Universität Auburn, ein Spezialist für Geldmanagement. In Familientherapien kann häufig beobachtet werden, wie gerade in Sachen Finanzen emotionale Muster unbewusst von Generation zu Generation übertragen werden. Doch es sind nicht nur die Verhaltensmuster, die wir von den Eltern übernehmen. Auch ihre Wertvorstellungen in bezug auf Geld machen wir uns zu eigen, also "das Ausmaß, mit dem Eltern Besitztümer mehr wertschätzen als Freunde, Status mehr als Leistung, Gewinnen mehr als den Wettbewerb an sich, materielle Objekte mehr als Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit, und nicht zuletzt das Ausmaß, in dem die Eltern finanzielle Erwägungen ihr Leben dominieren lassen", erklärt Psychologieprofessor Leonard Jacobsen von der Universität Miami. Wenn Geld auf der Werteskala der Eltern höher steht als Mitmenschlichkeit, Familie und Freundschaft, wenn die Eltern schuften, nur um einen gewissen Wohlstand zu erreichen, dann entsteht bei den Kindern der Eindruck, Gegenstände seien wertvoller als man selbst und andere Menschen."
Leseprobe aus Ingrid Suprayan: Geld als Droge?
Aus S. 13-14
"Die Medien verbreiten zuweilen Statistiken über die reichsten Reichen der Welt oder die Gehälter von Topmanagern. Demnach erhalten beispielsweise die Vorstandsmitglieder der Deutschen Bank Jahresgehälter von durchschnittlich 15,5 Mio DM. Wie sollen es diese Menschen jemals schaffen, so viel Geld auch nur ansatzweise auszugeben? Obendrein haben Sie nichts Wichtigeres zu tun als diese Gelder möglichst 'günstig' anzulegen, auf dass sie sich weiter vermehren. Ein paar Millionen in eine Stiftung einzubringen, mag gut gemeint sein - schließlich sind Millionäre im allgemeinen feinsinnige Menschen -, aber dies wirkt sich vor allem steuermindernd aus. Angesichts der auch von erfahrenen Spekulanten wie George Soros zugegebenen Unwägbarkeiten des Auf und Ab an den Börsen erscheint es mir rätselhaft, wie man gar auf den Gedanken kommen kann, solche Luftbuchungen für die Altersvorsorge zu verwenden. Dabei dürften völlig irrationale Motive eine Rolle spielen.
Könnte es sich bei all dem um Suchterscheinungen handeln? Ich wage einfach mal die These: Geld ist die Droge mit dem höchsten Suchtpotenzial und der gefährlichsten Beschaffungskriminalität. Letztere tritt uns ja allenthalben in der Zerstörung natürlicher und gesellschaftlicher Ressourcen entgegen. Erkenntnisse über die Sucht - auch über nicht stoffgebundene Suchtmittel - und ihre Begleiterscheinungen können diese These erhärten.
1. Zwanghaftes Benutzen einer Substanz oder Verhaltensweise, die nicht wirklich hilft.
2. Der/die Abhängige beeinträchtigt und schädigt sein/ihr eigenes Leben.
3. Die Sucht führt zur Entfremdung von sich selbst, von anderen und von der Welt.
4. Sucht unterscheidet sich von Gewohnheit u.a. dadurch, dass keine freie Entscheidung mehr möglich ist, das Verhalten zu ändern.
5. Das ganze Glück scheint daran zu hängen, dass der/die Süchtige das Suchtmittel bekommen kann.
6. Die Sucht wird verleugnet.
7. Jegliche Eigenverantwortung für die Sucht wird abgeschoben.
Diese Merkmale von Sucht finden sich auch in unserem Umgang mit Geld wieder. Zu denken wäre dabei an den häufigen Charakter des Konsums als Ersatzhandlung zum Ausgleich einer inneren Leere. Das Leben insgesamt wird massiv geschädigt. Die Entfremdung von sich, von anderen und von der Welt zeigt sich u.a. im Zockertum an den Börsen. 'Sachzwänge' engen den freien Umgang mit Geld und Vermögen mit der Folge ein, dass das Bewusstsein der eigenen Verantwortung für den Umgang mit Geld verloren geht. Und die allgemeine Tabuisierung des Geldes zeigt, wie sehr unsere Abhängigkeit von der Droge Geld verleugnet wird.
Dagobert Duck als Verkörperung der Geldsucht
Die These vom Geld als Suchtmittel lässt sich noch weiter untermauern. Suchtmittelabhängigkeit ist eine Form der Eigenmedikation, eine Krücke. Das zeigt sich
1. in der Illusion von Hilfe. Wir können uns alles kaufen. Doch was brauchen wir eigentlich, was nicht käuflich ist?
2. Dahinter liegende Ängste werden verleugnet. Suchen wir nicht im Anhäufen von Geld und Vermögen Sicherheit als eine Bastion gegen unsere Ängste?
3. Nach einem Absenken der Suchtmittelmenge tritt eine Verschlimmerung der Symptome ein. In Extremfällen kommt es nach Fehlspekulationen zu Selbsttötungen.
4. Bei Süchten muss in der Regel die Dosis des Suchtmittels von Zeit zu Zeit erhöht werden, weil sonst die Wirkung nachlässt. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Wachstumsideologie als Ausdrucksform einer wirtschaftlichen Suchtkrankheit.
5. Der buchstäblich in seinem Geld schwimmende Dagobert Duck zeigt die psychische und physische Abhängigkeit der Gesellschaft und der Einzelnen vom nächsten 'Schuss' in Gestalt eines Kaufes oder einer Zinsgutschrift oder einer Nachricht über die Höhe der zu erwartenden Wachstumsrate. Die Reaktionen auf die gegenwärtige sog. "Wachstumspause" gleichen der Angst von Drogenabhängigen vor einem Ausbleiben ihres Stoffnachschubs."
Aus S. 19-20
"Wir wissen heute, daß Marx und seine Fortsetzer sich die Sache allzu einfach vorgestellt haben. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die Enteignung der Kapitalisten und die Organisation von Wirtschaft und Kultur in einem angeblich "proletarischen Staat" war in keiner Weise so segensreich, wie es sich die Väter des Sozialismus vorgestellt haben. Inzwischen sind die hauptsächlichen kommunistischen Staaten in sich zusammengebrochen und haben ein ökonomisches, soziales und kulturelles Chaos hinterlassen, das die neue Aufbauarbeit von Jahrzehnten erfordern wird. Also müssen wir dieses Thema mit neuen Gesichtspunkten angehen. Die Kritik der Psychoanalytiker an der "Dreckwelt des Geldes" und der Marxisten an der menschlichen Selbstentfremdung unter der Geldherrschaft des Kapitalismus soll dabei nicht unbedingt über Bord geworfen werden. Aber wir stehen vor der Aufgabe, das Problem "Geld, Kultur, Humanität und menschliche Psyche" unter anderen Aspekten durchzudenken. Die Libido-Theorie des Geldes und die Ökonomieanalyse des Marxismus allein reichen nicht aus. Wir werden in der Folge den "Geldkomplex" im Lichte der Individualpsychologie Alfred Adlers (1870-1937) betrachten. Diese Lehre entstand als das erste Konkurrenzsystem der Psychoanalyse, indem Adler die Phänomene des gesunden und kranken Seelenlebens unter den Kriterien der Angst, des Minderwertigkeitsgefühls und des kompensierenden Geltungsstrebens, des Machtwillens und des Gemeinschaftsgefühls untersuchte. Dabei kam er zu anderen Wertungen und Ergebnissen als Sigmund Freud, bei dem Adler fast ein Jahrzehnt (von 1902 bis 1911) in die Schule gegangen war.
Die Individualpsychologie geht von einem anderen Menschenbild aus als die Psychoanalyse. Für sie ist der Mensch mit einem naturgegebenen Unzulänglichkeitsgefühl behaftet, das er überall auszugleichen versucht. Von Nietzsche hat Adler übernommen, daß das menschliche Seelenleben dauernd danach strebt, ein Gefühl des Eigenwerts aufrechtzuerhalten. Bei günstiger Sozialisierung werden Selbstwert und Selbstachtung durch soziale Beitragsleistung ermöglicht, was eine sehr tragfähige Kompensation ist. Unter unguten Bedingungen jedoch entartet dieses Kompensationsstreben zu asozialen Überlegenheitsbedürfnissen, wobei Macht und Herrschaft über andere die Stimme der eigenen Angst und Unsicherheit übertönen sollen.
Zum fast besessenen Herrschaftsstreben wird der Mensch vor allem innerhalb der kranken Kultur verleitet. Können aber kulturelle und gesellschaftliche Lebensformen in ähnlicher Weise neurotisch oder gar psychotisch sein wie einzelne Individuen? In seiner berühmten Schrift "Das Unbehagen in der Kultur" (1931) hat Freud diese Vermutung durchaus bejaht. Er meinte, daß der Kulturprozeß ebenso sehr entarten könne wie die Entwicklung von Einzelmenschen. Und er sagte voraus, daß sich die Tiefenpsychologie dereinst intensiv mit dieser "Kulturneurose" befassen und vielleicht auch Vorschläge einer Kulturtherapie formulieren werde. Erich Fromm hat in seinem Buch "The Sane Society" (Der moderne Mensch und seine Zukunft, 1960) bedeutende Ansätze zu einer Diagnostik und Therapie der Gesamtkultur vorgelegt.
Psychoanalytiker und Individualpsychologen kamen darin überein, im Kapitalismus eine Gesellschaftsneurose zu diagnostizieren. Dasselbe war auch beim Faschismus der Fall. Beim Kommunismus war man sich zunächst nicht einig, da es den Bolschewiken gelang, einen Teil der Intellektuellen zu verblenden, wobei man die Unmenschlichkeiten des Stalinismus als notwendige Vorstadien für den Aufbau der idealen Zukunft hinstellte. Inzwischen sind aber fast alle Verteidiger des Bolschewismus sehr kleinlaut geworden und werden es kaum wagen, diesen als "im Prinzip humanistisch" zu propagieren.
In der seelisch kranken Kultur wird nach Adler fast jedermann dazu inspiriert, seine seelisch- geistigen Zielsetzungen auf Selbsterhöhung unter Beeinträchtigung anderer auszurichten. Wir sind alle vom Bazillus der Machtgier infi-[20]ziert, und das erkennen wir nicht nur in den Disparatheiten des individuellen Lebens, sondern auch in kollektiven Tragödien wie einer egoistischen Wirtschaft, nationaler, religiöser und rassischer Überheblichkeit, Aufrüstung und Krieg und mangelhafter Zusammenarbeit in großen und kleinen Dimensionen.
Strebt ein Menschenkind aus der Minussituation seiner frühen Jahre heraus, dann wird es sich in unserer Kultur bzw. Unkultur auf Überlegenheit in Form von Status, Besitz, Rang und Machtbefugnis orientieren. Auch Geld ist ganz entschieden eine Konkretisierung von Herrschaft und Macht. Daher ist schon die Psyche des Kindes vom Besitzdenken fasziniert, und die anderen Entwicklungsmöglichkeiten wie Liebe, gegenseitige Hilfe, allmenschliche Solidarität und Entfaltung der eigenen Person fallen flach. Dadurch wird man aber nur zu einer Karikatur des Menschseins, indem man die Fülle der menschlichen Möglichkeiten und Kompetenzen außer Acht läßt.
Geld ist Macht, und Mangel an Geld ist Ohnmacht. Daher sagt Goethe mit Recht: "Gesunder Mensch ohne Geld ist halb krank." Und im Riesentempel unserer Welt, wo die Götzen Besitz, Prestige, Reichtum und Herrschaft angebetet werden, fallen alle auf den Bauch, um sich vor diesen göttlichen Instanzen zu demütigen und zu prostituieren. Wie schlimm dieser Zustand ist, wird von dem großen englischen Schriftsteller George Orwell (1903-1950), dem Verfasser der negativen Utopie 1984, in seinem Roman "Die Wonnen der Aspidistra" durch eine Persiflage des ersten Korinther- Briefes von Paulus prachtvoll demonstriert. Es heißt in diesem Text:
"Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete und hätte des Geldes nicht, so wäre ich ein tönend Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte und wüßte alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, so daß ich Berge versetzte, und hätte des Geldes nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen und hätte des Geldes nicht, so wäre mir's nichts nutze. Das Geld ist langmütig und freundlich; das Geld eifert nicht, das Geld treibt nicht Mutwillen, es blähet sich nicht. Es stellet sich nicht ungebärdig, es suchet nicht das Seine, es läßt sich nicht erbittern, es rechnet das Böse nicht zu. Es freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, es freuet sich aber der Wahrheit. Es verträgt alles, es glaubet alles, es hoffet alles, es duldet alles ... Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung und Geld, diese drei; aber das Geld ist das größte unter ihnen."
In ähnlicher Weise hat der US-amerikanische Theologe und Psychoanalytiker Norman O. Brown in seinem sehr originellen Buch über Zukunft im Zeichen des Eros (1959) geschrieben:
"Wenn es je eine Psychoanalyse des Geldes geben soll, so muß sie von der Hypothese ausgehen, daß der Geldkomplex im wesentlichen die Struktur der Religion hat - oder, wenn man will, die Verneinung der Religion, also des Dämonischen. Die psychoanalytische Geldtheorie muß von der Voraussetzung ausgehen, daß Geld - nach Shakespeare - der 'sichtbare Gott' oder nach Luther 'der Gott dieser Welt' sei."
Es vereinigen sich also Psychoanalyse, Individualpsychologie und ein humanistisch gesehener Marxismus (mit Anlehnung an ähnliche Auffassungen von Peter Kropotkin, Gustav Landauer und Martin Buber) darin, die Menschen seit dem ausgehenden Mittelalter des Götzendienstes zu verdächtigen. Es ist unglaublich, wie das Geld- und Besitzdenken die Menschlichkeit überall und immer vor die Hunde gehen läßt. Für Geld kann man schier alles kaufen. Die Sklaverei wurde zwar vor ca. 150 Jahren nominell abgeschafft, aber sie existiert als Geldsklaverei in der ganzen Welt, wo mehr als ein Drittel der Menschheit gerade mit dem Existenzminimum auskommen muß und teilweise hungert und verhungert.
Und indes die Armut noch in keiner Weise in den Schranken gehalten wird, informiert uns die kapitalistische Presse schamlos, wie viele Milliarden Dollar etwa die reichsten Männer der Erde besitzen. Es wird groß getönt, daß z.B. Bill Gates angeblich 160 Milliarden Dollar auf seinen Konten hat, während "ärmere Milliardäre" vielleicht nur über 100 Milliarden Dollar verfügen können."
Aus S. 32-33
"Der heutige Umgang mit den Archetypen
Zusammenfassend und abschließend möchte ich den Blick auf die möglichen Konsequenzen richten, die sich aus der Bewusstmachung dieser Archetypen für uns heute ergeben. Zum einen wäre es sinnvoll, die Einsicht in das Zyklische der Natur, der äußeren wie auch der seelischen Natur zu verstärken. Diese Mythen zeigen uns, wie stark sich unser Leben in Zyklen bewegt. Wir kommen um diese Zyklen nicht herum, selbst wenn wir versuchen, linear vorzugehen. Wir können dies auch in der Ökonomie, in der Wirtschaftsentwicklung beobachten. Obwohl immer wieder versucht wird, ein lineares Wachstum herzustellen: Es gelingt einfach nicht. Es kann nicht gelingen, weil die Natur Zyklen benötigt. Nur in Zyklen kann das Leben fortbestehen.
Eine Ideologie des Mangels und des Hortens aber ignoriert das Zyklische der Psyche, das Zyklische des Unbewussten. Von den Zyklen, die dennoch - aus dem Unbewussten heraus - auftreten, fühlen wir uns dann regelrecht überfallen und überrumpelt.
König Midas und die Erfindung des positiven Denkens
Hierzu passt der Mythos von König Midas: "König Midas und die Erfindung des positiven Denkens". König Midas hatte die Erfüllung eines Wunsches offen und er wünschte sich, das alles, was er berührte, zu Gold wurde. Der Wunsch wurde ihm erfüllt. Alles, was er berührte, wurde zu Gold, und dadurch wurde Midas vollkommen handlungsunfähig. Doch er hatte Glück, der Wunsch und seine Erfüllung konnten wieder rückgängig gemacht werden. Auch Midas hatte mit seinem Wunsch das Zyklische der Natur ignoriert. Das gleiche erleben wir beim sogenannten "positiven Denken". Auch dabei werden alle Schattenseiten, alles Dunkle, verdrängt, und alles, was einem widerfährt, wird "positiv" gedeutet. Der Leitspruch lautet "Mir geht es jeden Tag in jeder Hinsicht besser". Alles wird - linear - zu Gold. Und das funktioniert sogar - zunächst. Wie jedoch Langzeituntersuchungen zeigen, werden auf-[33]fallend viele Menschen, die positives Denken anwenden, nach einiger Zeit schwer krank. Die dunkle, "negative" Seite, die weggedrängt wurde, kommt durch die Hintertür wieder herein.
Das zyklische Leben und der "runde Tisch" der Gottheiten
Die Mythen zeigen uns die Notwendigkeit, einen Teil des Lebens in der "Oberwelt" zu verbringen. Und sie zeigen uns auch, wie notwendig es ist, den Anteil der "Unterwelt" zu sehen, uns in die "Unterwelt" zu begeben, auch dorthin Energie und Libido abzugeben.
An dieser Stelle sei auch der "Obolus" erwähnt: Wer in die Unterwelt, den Hades, gelangen will, muss dem Fährmann Charon für die Überfahrt über den Styx einen Obolus, eine Münze geben. Auch und gerade in der Unterwelt, im Unbewussten, im Reich des Hades und des Pluto befindet sich der "Reichtum".
Wichtig ist es für uns heute, uns daran zu erinnern, dass Geld ursprünglich das Symbol der Erde war, vergegenständlichte Libido, Lebensenergie. Und nur, wenn wir uns auf die Erde und ihre Zyklen einlassen, wie auch auf die seelische "Unterwelt", unser Unbewusstes, dann können wir wieder den Zugang zu dieser Lebensenergie bekommen.
Letztlich geht es darum, Kore/Persephone und Demeter mit Hilfe des Hermes wieder in Kontakt zu bringen. Wir brauchen Hermes. Wir brauchen eine Seite in uns, die sich einlässt auf das Herstellen von Verbindungen, darauf zu sehen, welche Vielfalt existiert. Eine Vielfalt, die nicht geordnet ist, sondern die oft auch chaotisch sein kann. Es geht darum, diese vielfältigen Archetypen, diese Gottheiten in uns zu sehen, auch wenn einige davon unserem Verstand absolut unangenehm sind. Der Verstand kann mit einigen dieser Archetypen überhaupt nichts anfangen. Sie gehören jedoch zu unserer Psyche dazu. Die Möglichkeit ihrer Wiederentdeckung hat viel mit Körperlichkeit zu tun hat. Nur über den Kopf, nur über das Denken gelingt uns dies nicht, weil es zu einseitig apollinisch wäre. Wir brauchen, um diese Seiten zu entdecken, das Element Erde. Das zeigt sich zum Beispiel auch in den Tarotkarten, wo die "Münzen" für das Element Erde stehen. Das Element Erde ist das Materielle und es ist auch das Sinnliche. Wir brauchen daher die Wiederentdeckung des Körpers, mit dessen Hilfe wir auch diese tieferen Schichten unserer Seele wieder zugänglich machen können.
Den Tempel unter Dionysos und Apollon aufzuteilen, das ist es, was uns hilft, unsere vollständige Natur zu leben. Die logische Seite, das bewußte Ich, aber auch die Seite, die sich auf Körper, auf Chaos, auf das Weibliche, auf die verschiedenen ungeordneten Aspekte des Lebendigen einlässt, so wie sie auch in den verschiedenen Aspekten der Großen Göttin auftreten: Beides gehört gleichermaßen zu uns.
Wir können Möglichkeiten entwickeln, einen "Rat der Göttinnen und Götter" einzurichten. D.h. wir können uns bewusst machen, welche unterschiedlichen Kräfte und Strömungen in unserer Psyche existieren. Wie der Protagonist in dem Spielfilm "RobbyKallePaul" können wir uns die Frage stellen: "Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?" Dazu müssen wir zunächst unser Ich wahrnehmen, uns unsere Komplexe bewusst machen und uns dann einlassen auf die Grenzüberschreitung, auf das Loslassen und auf die Archetypen unseres Unbewussten. Dann können diese Archetypen, diese Kräfte einen "runden Tisch" bilden und sinnvoll zusammenwirken."
Aus S. 38-39 und S. 44-46
3 Gibt es Berührungen der Psychologie mit den Problemfeldern des Bodens und des Geldes ?
Damit dürfte der gegenwärtige Stand psychologischer Überlegungen innerhalb der Geld- und Bodenreformbewegung kurz skizziert sein. Wo könnte es nun Möglichkeiten geben, mit solchen Überlegungen in einen Dialog mit der allgemeinen Psychologie oder zumindest mit der Sozial- und Wirtschaftspsychologie einzutreten?
3.1 Allgemeine Psychologie
Der "Geschichte der Psychologie" von Helmut Lück zufolge war die Entstehung der allgemeinen Psychologie zur Zeit der ersten Industrialisierung im 19. Jahrhundert sehr stark vom naturwissenschaftlich- technischen Zeitgeist geprägt. Einflüsse übten damals die englischen und französischen Positivisten wie David Hume, Auguste Comte, John St. Mill und Herbert Spencer aus, die bei ihrem Bemühen um ein Verständnis der Welt nicht mehr von 'Spekulationen' der mittelalterlichen Theologie ausgingen, sondern von positiven, d.h. tatsächlich gegebenen und empirisch nachweisbaren Realitäten. Beeinflusst wurde die Psychologie anfangs auch von Darwins Evolutionstheorie, von der in den Zeiten des Kolonialismus aufgekommenen Völkerkunde und Völkerpsychologie und von Gustave Le Bons Beobachtungen der Vermassung des menschlichen Lebens im Zeichen der industriellen Massenproduktion. Schließlich waren die ersten Psychologen bestrebt, an die medizinische Sinnesphysiologie anzuknüpfen und seelische Prozesse nach dem Vorbild der Physik als "Psychophysik" zu verstehen.
Von diesem naturwissenschaftlichen Fundament ausgehend suchte vor allem Wilhelm Wundt als Begründer der "Leipziger Schule" einen Zugang zum Verständnis der Seele durch erfahrbare Sinneseindrücke statt durch die Metaphysik. Auf physiologischen und experimentellen Wegen wollte Wundt das menschliche Bewußtsein in kleinste 'Teile' zerlegen und ergründen, wie Reize auf das Bewußtsein wirken. Mit der "Würzburger Schule", die mit der Erforschung des Denkens [39] und Lernens durch Selbstbeobachtung begann, schlug das Pendel der Entwicklung von der Natur- zu einer geisteswissenschaftlichen Grundhaltung um. Noch mehr als sie reagierte die Gestalt- bzw. Ganzheitspsychologie auf Wundts Zergliederung der Seele mit dem Argument, dass das Ganze mehr als die Summe der Teile bilde. Nicht 'Teile', sondern ganzheitlich-komplexe Strukturen seien als 'Gestalten' die Grundbausteine sowohl des Denkens und Lernens als auch der Gefühle. Mit ihrer Betrachtung von Leib und Seele als Einheit ist die Gestaltpsychologie auch zu einer Wegbereiterin der späteren Psychosomatik geworden. Und es hat sich aus ihr durch Kurt Lewin auch noch die Feldtheorie entwickelt, in der es zusätzlich zum seelischen Innenleben von Individuen um ihre äußeren Lebensumfelder ging. Lewin untersuchte besonders den "erlebnismäßig strukturierten Raum" von Großstädten mit ihrer Wohnungsnot, mit ihren sozialen Konflikten und mit den Problemen von jüdischen und anderen Minderheiten. [A29]
Parallel zur Erforschung des Bewußtseins und der äußeren Lebensumfelder durch die akademische Psychologie wandten sich in einem gewissen Spannungsverhältnis zu ihr verschiedene Schulen der Tiefenpsychologie dem Unbewußten in der menschlichen Seele zu. Als erster entwickelte der als Arzt naturwissenschaftlich ausgebildete Sigmund Freud seine Psychoanalyse zur Erklärung der Triebkonstitution, insbesondere der Sexualität, sowie der Mechanismen zur Verdrängung und Sublimierung von Triebenergien. Zwei seiner Mitarbeiter, die beiden Ärzte Alfred Adler und Carl Gustav Jung, trennten sich von Freud u.a. wegen differierender Ansichten über die Sexualität und begründeten eigene Denkschulen. Adler behandelte vielfach die Berufskrankheiten von Menschen aus den mittleren und unteren Schichten, wobei ihre seelischen Gleichgewichtsstörungen für ihn auch Spiegelbilder der ungleichgewichtigen Verhältnisse in der Wirtschaft darstellten. In seiner Individualpsychologie betrachtete er die Menschen als unteilbare Individuen und suchte nach gesprächstherapeutischen Formen einer ganzheitlichen Behandlung von Minderwertigkeitsgefühlen und Neurosen. Zur Unterstützung des menschlichen Strebens nach dem eigenen Lebensglück und der eigenen Vervollkommnung sowie nach der Integration in die Gemeinschaft der Menschen unterstützte Adler auch schulreformerische Bestrebungen und die Einrichtung von Erziehungsberatungsstellen. Ausgehend von der Überlegung, dass das individuelle Unbewußte in einem kollektiven Unbewußten eingebettet ist, beschäftigte sich C.G. Jung sodann mit Religionen, Mythen und Märchen, um darüber und auch über die Deutung von Träumen Zugänge zu den "Archetypen" als Urbildern unterschiedlicher seelischer Energien in den Tiefenschichten des Unbewußten und zu ihren Schatten zu finden. Im diametralen Gegensatz dazu fassten die Behavioristen die Psychologie wieder als eine experimentelle Naturwissenschaft auf, die auf spekulative Introspektionen verzichten müsse. Im Anschluss an Pawlows Tierpsychologie erforschten sie Reiz- Reaktions- Schemen, um daraus zur Nutzanwendung in der Erziehung Verfahren der Konditionierung und Kontrolle menschlichen Verhaltens zu entwickeln.
Im Laufe der Zeit verschwammen die Konturen der einzelnen psychologischen Denkschulen aufgrund ihrer wechselseitigen Beeinflussung. Ihre jeweiligen leitenden Gedanken flossen infolgedessen in vielfältigen Mischungen in die Teildisziplinen der Psychologie ein (Psychodiagnostik, Persönlichkeits- und Entwicklungspsychologie, Kognitionspsychologie, Pädagogische und Klinische Psychologie sowie Sozial- und Wirtschaftspsychologie)." Als Reaktion auf die Dominanz des Behaviorismus und auch in Abgrenzung zur Psychoanalyse entstand sodann als "Dritte Kraft" die Humanistische Psychologie, die den "erlebenden Menschen" mit seiner Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, mit seiner Kreativität und seinen Wünschen nach Anerkennung und Selbstverwirklichung in einem erfüllten Leben in den Mittelpunkt stellte. Und als "Vierte Kraft" entstand schließlich noch die "Transpersonale Psychologie", welche die Humanistische Psychologie mit fließenden Übergängen zur Esoterik interkulturell erweitert, indem sie östliche Religionen und Yoga, den Zen-Buddhismus und den Sufismus einbezieht. [A31]
... Und aus S. 44-46
Wie die (Sozial-)Medizin hat auch die Allgemeine Psychologie einschließlich der Sozialpsychologie mit ihrem breiten Spektrum von Therapieformen für Individuen und Gruppen unterschiedlichen Alters die Aufgabe, Menschen mit seelischen Störungen wie Ängsten, Depressionen und Süchten usw. [A63] dabei zu helfen, diese Leiden zu verringern oder so damit leben zu lernen, so dass sie in der Lage sind ihren Alltag einigermaßen zu bewältigen. Das ist angesichts der vorerst noch nicht grundlegend veränderbaren Wirtschaftsstrukturen auch durchaus notwendig. Es wäre sogar inhuman, solche Erste- Hilfe- Leistungen an den Unfallorten innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen zu unterlassen.
Aber eine seelische Gesundheit der Individuen und der Gesellschaft lässt sich damit allein - wie James Hillman erkennt - nicht erreichen: "Wir haben einhundert Jahre Psychoanalyse hinter uns - und die Menschen werden immer sensibler und der Welt geht es immer schlechter. ... Man geht nach innen, um die Seele zu finden; man erkundet seine Gefühle und seine Träume. Man hat dies ein wenig ausgedehnt auf Familiensysteme und Bürogruppen. ... Was übergangen wird, ist der immer schlechter werdende Zustand der Welt. Warum hat die Psychotherapie dies nicht bemerkt? Weil sich die Psychotherapie nur mit jener 'inneren' Seele beschäftigt, indem sie die Seele aus der Welt herausnimmt und nicht erkennt, dass die Seele auch in der Welt ist. Die Gebäude sind krank, die Institutionen sind krank, das Geldsystem ist krank, die Schulen und die Straßen - die Krankheit ist draußen. ... Die Mode ist doch heute in der Psychotherapie das 'innere Kind'. ... Die Psychotherapie unterstützt den Niedergang der Welt, indem sie die innere Seele betont und die äußere Seele ignoriert. Sie beharrt blind auf ihrem Glauben, dass sie die äußere Welt heilt, indem sie die Menschen bessert. ... Der Kindarchetypus ist aber seiner Natur nach apolitisch und machtlos; er hat keinen Zusammenhang mit der politischen Welt. ... Dies ist eine Katastrophe für unsere politische Welt, für unsere Demokratie. ... Die Welt ist also krank; und dadurch beginnen wir, die Welt wieder mit mehr Hochachtung zu behandeln. ... Vielleicht sollten wir uns mit dem Gedanken anfreunden, dass wir nicht so sehr von der Vergangenheit als vielmehr durch die aktuelle Situation 'unserer Arbeit', 'unseres Geldes', 'unserer Regierung' missbraucht werden. ... Das Sprechzimmer könnte zu einer revolutionären Zelle werden, wenn die Therapie unsere Schwierigkeiten mehr in der Gegenwart ansiedeln und unsere Aufmerksamkeit mehr auf die Wett statt nur nach innen richten würde. [A64]
Über die Hilfen zur alltäglichen Daseinsbewältigung hinausgehend
wäre es auch eine Aufgabe der Psychologie, zur Reform der krankhaften
und krankmachenden gesellschaftlichen Strukturen beizutragen und damit
die Heilung der ganzen Gesellschaft zu fördern, auch wenn Sparmaßnahmen
im Gesundheitswesen der Psychologie sowie den therapeutischen Praxen und
Kliniken den Spielraum für politische Bildungsarbeit, Utopien und
Träume immer mehr einengen. Notwendig wäre eine neue, nicht mehr
vom Marxismus geprägte kritische Psychologie [A65] mit einer vorwiegend
gestalt- und tiefenpsychologischen Sozial- und Wirtschaftspsychologie -
gleichsam als Brücke zu einer Tiefenökonomie,
Die Entwicklung einer solchen Tiefenökonomie wird vermutlich
noch längere Zeit in Anspruch nehmen. Die mit ihr verbundenen Schwierigkeiten
wurden schon deutlich, als sowohl die "Internationale Gesellschaft für
Tiefenpsychologie" als auch die "Internationale Erich- Fromm- Gesellschaft"
im Vorfeld der Tagung "Das Geld (tabu) und die menschliche Seele" bedauerten,
dass sich in ihnen niemand mit dieser Thematik beschäftige. [A66]
In Anlehnung an Sigmund Freuds Psychoanalyse gibt es aber bereits eine "Psychoanalytische Theorie des Geldes", in der Wolfgang Harsch die von Freud beschriebene unbewusste Beziehung zwischen dem Geld und dem Kot aufgreift. [A67] Davon ausgehend erläutert Harsch den starken Einfluss dieser Beziehung auf die menschliche Entwicklung von der ökonomisch einseitigen frühen Mutter- Kind- Beziehung bis hin zur Beziehung zwischen Erwachsenen, die ökonomisch ausgeglichen sein sollte, die aber in Wirklichkeit - wie sich zuweilen schon am Umgang von Kindern und Jugendlichen mit ihrem Taschengeld beobachten lässt - vielfältig gestört ist. Harsch verweist auf Wechselwirkungen zwischen seelischen Entwicklungsstörungen wie Habgier und Neid oder die Neigung zu übermäßigem Konsum und den Ungleichgewichten des Gebens und Nehmens in der Wirtschaft und ungleichgewichtigen Gläubiger- Schuldner- Beziehungen. Sie könnten das Verständnis des Hortens von Geld einerseits und andererseits des Strebens nach einer Geldvermehrung durch den Zins und Zinseszins erleichtern. Aufschlussreich wäre auch eine Betrachtung der Rolle der Psyche bei der Verwendung von Geld als Tauschmittel oder als Wertaufbewahrungsmittel. Ohne antisemitische Vorurteile untersucht Harsch "psychoanalytische Aspekte des Wucher- und Kaufmannskapitals" und der industriellen Kapitalakkumulation. Seine "These, dass Kapitalwachstum, -vermehrung und -gewinn unbewusst auf das infantile Wachstum mit Hilfe und auf Kosten der Mutter zurückgeht" [A68], legt die Frage nahe, ob es einen Zusammenhang mit der von Lietaer angenommenen Verdrängung des Archetyps der Großen Mutter im patriarchalen Kapitalismus geben könnte. Schließlich nähert sich Harsch der Kritik von Keynes an dem soziale Bezüge auflösenden "antisozialen Fetisch der Liquidität" und der von Gesell angeregten Vorstellung von Keynes, dass die weitere Kapitalakkumulation durch die Einführung von künstlichen Durchhaltekosten des Geldes gebremst werden könnte, bis das Kapitalrentnertum infolge gegen Null sinkender Zinsen einen "sanften Tod" stirbt. An [46] dieser Stelle, wo die bisherige kapitalistisch deformierte Marktwirtschaft (zumindest erst einmal gedanklich) in eine nachkapitalistische Marktwirtschaft übergehen könnte, bricht Harschs psychoanalytische Geldtheorie leider ab, so dass es eine Aufgabe für die Zukunft bleibt, die Parallelität einer ökonomischen und seelischen Gesundung der ganzen Gesellschaft näher zu untersuchen.
Dieser Gesell-Keynesschen Vorstellung eines mit Hilfe von 'künstlichen Durchhaltekosten' neutralisierten Geldes und gegen Null sinkenden Zinsniveaus hat sich auch der Theologe und Psychotherapeut Eugen Drewermann angenähert. Drewermann aktualisiert die biblische Aussage, dass die Menschen Schaden an ihrer Seele erleiden, wenn der Götze Mammon als ein Gegengott 'die ganze Welt gewinnt'." Niemand könne gleichzeitig "zwei Herren dienen - nicht Gott und dem Mammon" (Mt 6.24) und Reiche würden nicht durch das Nadelör in das Himmelreich gelangen. (Mk 10. 17-27) Auf der Grundlage einer theologisch-politischen Auslegung von Jesu Klage über die zur "Räuberhöhle" verkommene Welt und von der "Tempelreinigung" stellt Drewermann sodann im Blick auf unsere Welt die Frage: "Freiheit vom Zins. Die Lösung des Gordischen Knotens?" [A71] Er sagt nicht gleich, dass sich der Götze Mammon auf diese Weise entthronen ließe, regt aber dennoch zu weiterführenden Gedanken darüber an, wie das Geld - wenn es denn bei sinkendem Zinsniveau neutralisiert würde - auch seine den menschlichen Charakter verformende Kraft einbüßen könnte. Jedenfalls erscheint es vielversprechend, Drewermanns Ausführungen über die drei Ebenen des Einzelnen, der Sozialpsychologie und des Geldes und über die Zusammengehörigkeit von Prophetie und Therapie aufzugreifen und die Therapie in ihren Formen der Einzel- und Gruppentherapie um eine "Sozialtherapie" [A72] in Gestalt einer Geld- und Bodenreform als sozialer Regulationstherapie zu erweitern.
Mit dem Grundkonflikt zwischen Gott und dem Mammon hat sich auch bereits Goethe in seiner "Faust"-Dichtung beschäftigt. Während der erste Teil des "Faust" ein großes Drama der Liebe darstellt und mit dem Tode Gretchens tragisch endet, ist der zweite Teil - wie Hans Christoph Binswanger in seinem Buch "Geld und Magie" herausgearbeitet hat - ein großes Drama der geldorientierten und dabei seelenfernen neuzeitlichen Wirtschaft. Als Prototyp der Moderne erhebt sich Faust zum "Herrn der Zeit" und verpfändet in der Wette mit Mephistopheles nicht etwa seine Seele - denn was gilt ihm noch das Heil seiner Seele ? -, sondern die Unendlichkeit der Zeit im Sinne des unbegrenzten Fortschritts und des unbegrenzten Wachstums der Geldvermögen und der realen Wirtschaft. [A73]
Nach alledem dürfte es vielfältige Möglichkeiten geben,
in Zukunft entsprechend der Vielfalt der Strömungen innerhalb der
Psychologie sich dem Problemfeld des Bodens und des Geldes aus ganz unterschiedlichen
Blickwinkeln anzunähern. Gerade diese Vielfalt könnte hilfreich
sein, wenn es darum geht, ohne absolut gesetzte Einseitigkeiten näher
zu erforschen, wie sich eine gemeinschaftliche Verantwortung für die
Erde und ein in den ewigen Kreislauf des Stirb und Werde allen Lebens eingeordnetes
Geld sich auf Liebe, Partnerschaft und Sexualität auswirken könnten,
wie sie Egoismus und Altruismus, Wettbewerb und Kooperation in eine Balance
bringen könnten und wie sie auch mithelfen könnten, unsere eigene
Sterblichkeit unverkrampfter anzunehmen statt weiterhin dem Kult der ewigen
Jugend zu folgen. Zuguterletzt dürfte die Lösung des Geld- und
Bodenproblems bei weitem nicht nur eine Frage der 'richtigen' Theorien
sein, sondern neben der kognitiven Intelligenz auch noch sehr viel
emotionale Intelligenz erfordern."
Aus S. 58-62
4.0 Konkrete Wege aus einer kranken Gesellschaft (nach "Haben oder Sein", 1976)
Im Schlußkapitel von "Haben oder Sein" macht Fromm - ähnlich wie in seiner früheren Schrift "The Sane Society" sehr konkrete Vorschläge für "Wege aus einer kranken Gesellschaft". Die Thesen dieser letzten Fassung seiner konstruktiven Gesellschaftskritik (GA II, 395-414) möchte ich abschließend vollständig zitieren und kommentieren. Allgemein schickt Fromm voraus: "Wenn Wirtschaft und Politik der menschlichen Entwicklung untergeordnet werden sollen, dann muß das Modell der neuen Gesellschaft auf die Erfordernisse des nicht-entfremdeten, am Sein orientierten Individuums ausgerichtet werden" (395).
1. "Der erste entscheidende Schritt auf dieses Ziel hin ist die Ausrichtung der Produktion auf einen 'gesunden und vernünftigen Konsum" (395).
Diese These ist gegenwärtig besonders aktuell, da es vor allem um die Umstellung der Landwirtschaft im Namen der Verbraucher geht. Wir befinden uns derzeit noch in einem Teufelskreis zwischen unzureichender Information der Verbraucher (z.B. über den Gesundheitswert ökologischer Produkte) und umgekehrt (z.B. durch Subventionen) manipulierter Rückmeldung des Verbrauchers an die Erzeuger über das Kaufverhalten. An sich wäre das aufgeklärte Kaufverhalten eine ständige demokratische Abstimmung mit dem Einkaufskorb.
2. "Gesunder und vernünftiger Konsum ist nur möglich, wenn wir das Recht der Aktionäre und Konzernleitungen, über ihre Produktion ausschließlich vom Standpunkt des Profits und Wachstums zu entscheiden, drastisch einschränken. (Solche Änderungen könnten durch Gesetze herbeigeführt werden, ohne daß die Verfassungen der westlichen Demokratien geändert werden müßten. (...) Worauf es ankommt, ist die Macht, die Richtung der Produktion zu bestimmen, nicht der Kapitalbesitz als solcher" (397).
Fromms Ansatz ist hier - bei aller humanistischen Radikalität - ein reformistischer, sozusagen systemimmanenter. Es ist dieser Reformismus, der ihm auch von den Frankfurtern, vor allem von Adorno mit seiner von Marx ererbten "kalten Negativität" zum Vorwurf gemacht wurde. Wird das Wesen des Kapitalismus erkannt, wenn man meint, ihn zähmen oder "zivilisieren" zu können? Wenn der entscheidende Mechanismus der Selbstvermehrung der Geldvermögen durch Zins und Zinseszins nicht angetastet wird? Hat nicht der "rheinische Kapitalismus" (der gegenüber dem neoliberal verschärften angelsächsischen Modell mildere Kapitalismus kontinentaleuropäischer und japanischer Prägung) mit seiner sozialen Marktwirtschaft hier schon das Menschenmögliche getan - ohne die Unmenschlichkeit und Disfunktionalität des Kapitalismus auf Dauer abstellen zu können?
3. "Um eine am Sein orientierte Gesellschaft aufzubauen, müssen alle Mitglieder sowohl ihre ökonomischen als auch ihre politischen Funktionen aktiv wahrnehmen. Das heißt, daß wir uns von der Existenzweise des Habens nur befreien können, wenn es gelingt, die industrielle und politische Mitbestimmungsdemokratie (participatory democracy) voll zu verwirklichen" (399).
Frage: Ist unsere gegenwärtige Parteien-Dmokratie, jedenfalls sofern wir über die Mitbestimmung der Betriebsebene hinausblicken, überhaupt grundsätzlich, strukturell, in der Lage, den nach Partizipation suchenden Menschen gerecht zu werden? Ich sehe eine Spartendemokratie" ", genauer eine systemische Viergliederung der Institutionen, vor allem der Parlamente, nach (4) Grundwerten, (3) Kultur, (2) Politik im engeren Sinne und (1) Wirtschaft als unabdingbare Voraussetzung für sachliche Parteiungen und damit für eine wirklich partizipative Demokratie.
4. "Die aktive Mitbestimmung im politischen Leben erfordert maximale Dezentralisierung von Wirtschaft und Politik" (401).
Der gegenwärtige, offenbar unaufhaltsame Trend ist Globalisierung, damit Schaffung noch umfassenderer Wirtschafts- und Politikstrukturen. Dezentralisierung wäre realisierbar als Ernstnehmen des sogenannten Subsidiaritätsprinzips, nicht als Abbau der globalen Strukturen. Soziologen wie Roland Robertson und Ulrich Beck verwenden für diese erstrebenswerte Gegenläufigkeit von Globalisierung und Lokalisierung neuerdings den Ausdruck "Glokalisierung". [A12] Auch im Bezug auf Globalisierung und Glokalisierung sind allerdings die Ebenen von Wirtschaft, Politik Kultur und Grundwerten ganz verschieden zu behandeln." Das kulturelle Leben muß seine regionale und national(sprachlich)e Eigenart behalten um nicht weiter einer grausamen Nivellierung zu verfallen. Auch auf der politischen Ebene ist ein Weltstaat nicht erstrebenswert, wohl aber sind effektive, durchsetzbare Rechtsregeln einer Weltföderation vonnöten, um den global agierenden Wirtschaftsmächten Paroli, d.h. eine demokratische Kontrolle, bieten zu können.
5. "Aktive und verantwortungsvolle Mitbestimmung ist nur möglich, wenn das bürokratische durch ein humanistisches Management ersetzt wird" (402).
Fromm macht hier wunderbare Ausführungen über Bürokratie. Die Pflichterfüllung eines Eichmann gilt ihm als das zur Perversion vollendete Musterbeispiel des Bürokraten. "Der bürokratische Geist ist unvereinbar mit dem Prinzip aktiver Mitbestimmung des einzelnen. Die künftigen Sozialwissenschaftler werden neue unbürokratische Verwaltungsmethoden vorschlagen müssen, die durch stärkeres Eingehen auf Menschen und Situationen und nicht durch starre Anwendung von Regeln gekennzeichnet sind" (403). Meines Erachtens sind es gerade durchdachte Strukturen - nicht eine eingebildete Spontaneität des Draufloswurstelns-, die unbürokratisches, menschliches Verhalten ermöglichen, ähnlich wie gute und klare Verkehrsregeln partnerschaftliches Verhalten im Verkehr eher ermöglichen als Chaos. Bürokratie macht sich gerade dann breit, wenn die Makrostrukturen als sinnlos und uneffektiv oder weit weg empfunden werden. Auch wurde die administrative Exekutive (Verwaltung) bisher nicht als vierte Gewalt neben politischer Exekutive, Legislative und Judikative erkannt, die einer besonderen demokratischen Kontrolle bedarf. [60]
6. "In der kommerziellen und politischen Werbung sind alle Methoden der Gehirnwäsche zu verbieten" (403).
Solche Verbote dürfen aber nicht als punktuelle Maßnahmen erlassen werden, wenn nicht die Freiheit von Publizistik und Selbstdarstellung in Frage gestellt werden soll. Dergleichen geht nur über die Einrichtung eines Grundwerte- Parlamentes, das nicht ad hoc, sondern generell Vorgaben für die kulturelle Sphäre macht. Eine punktuelle Beschneidung der Werbung riecht, wie alle Einzelmaßnahmen, nach Moralismus. Es geht um ein allgemeines Neubedenken von Grundwertedurchsetzung auf demokratischem Wege, um eine Art von "demokratischer Theokratie", um das gewagte Wort, das normalerweise geschichtlich Überholtes bezeichnet, zu benutzen.
7. "Die Kluft zwischen reichen und den armen Nationen muß geschlossen werden" (404).
Seit Erich Fromm dies schrieb, ist diese Kluft nochmals enorm gewachsen. Also geht es anstelle von Postulaten und Appellen darum, den Systemfehler des Kapitalismus effektiv abzustellen. Auch und gerade "humanistisches" Postulieren und Appellieren, wie es um institutionelle Systemveränderung geht, dient der Verzögerung und dem Aufschub. (Dies war unter anderem Marxens Einwand gegen die "utopischen" Sozialisten seiner Zeit.)
8. "Viele Übel der heutigen kapitalistischen und kommunistischen Gesellschaften wären durch die Garantie eines jährlichen Mindesteinkommens zu beseitigen" (405).
Einverstanden, doch dazu würde ein anderes Geld- und Besteuerungssystem" sowie die Umkehrung der Arbeits- Sachkosten- Schere", die besten, wahrscheinlich unerläßlichen Voraussetzungen darstellen.
9. "Die Frauen sind von der patriarchalischen Herrschaft zu befreien" (406).
Wiederum einverstanden. Doch warum gelingt es der weiblichen Mehrheit nicht, die patriarchalische Herrschaft nach mehr als hundert Jahren Demokratie (in den USA zumindest) abzuwerfen? Weil die Demokratie nicht eigentlich funktioniert! Die "politische Klasse" (welch ein Mißstand in einer Demokratie!) gibt vor, wir könnten uns in puncto Demokratie auf dem Erreichten ausruhen. Erst wenn die Allround- Parteien ihren Charakter als Ringsum- Rundschlag- Truppen verlieren, indem gemäß der Viergliederung transparente, bereichsspezifische Interessengruppen für jeden der großen Bereiche des öffentlichen Lebens gebildet werden, dann haben nicht nur Argumente, sondern auch Wert-Gefühle, und wegen beider (nicht nur wegen der Gefühle!) haben dann auch Frauen Lust und Chancen bei der Teilnahme an der Gestaltung des Gemeinwesens.
10. "Ein Oberster Kulturrat ist ins Leben zu rufen, der die Aufgabe hat, die Regierung, die Politiker und die Bürger in allen Angelegenheiten, die Wissen und Kenntnis erfordern, zu beraten" (407).
Auch dieser Gedanke eines "Kulturrats" ist richtungweisend. Er muß aber Teil eines umfassenderen neuen Institutionengefüges sein. Erstens sind "Grundwerte" (der Weltanschauung, Ethik, Religion) von kulturellen Werten (der pädagodischen Bildung, der Wissenschaft, der Publizistik und der Kunst) zu unterscheiden, zweitens müssen diese beiden Ebenen zueinander wie zu Politik (rechtliche Machtausübung) und Wirtschaft in geordenten, sachgemäßen Bezug gesetzt werden. Das läuft wiederum auf das Konzept einer Viergliederung des Institutionensystems, vor allem des Parlamentes hinaus.
Wir erleben zur Zeit, wie der Bundeskanzler durch die Einberufung eines "Ethikrates" sowie eines "Nachhaltigkeitsrates" die Republik zu einer Art von parteioligarchischer "Räterepublik" ausgestaltet. Das hat wohl mit der dunkel erfaßten Notwendigkeit einer Wertediskussion zu tun, sonst aber nichts mit der hier intendierten Weiterentwicklung der Demokratie in Richtung wirklicher Partizipation durch Differenzierung der Systemebenen. Fromm denkt auch hier in die richtige Richtung, doch demokratietheoretisch nicht zu Ende.
11. "Ein wirksames System zur Verbreitung von objektiven Informationen ist zu etablieren" (408).
Die rechtlichen Rahmenbedingungen für objektivitätsorientierte und von ökonomischen Zwängen befreite Publizistik - ohne Einschränkung der berühmten, heute eher vorgeblichen Pressefreiheit - wären Sache eines Kulturparlamentes. Weder die Regierung noch das jetzige Parteien-Parlament ist zu solcher Gesetzgebung als einer demokratisch Legitimierten in der Lage.
12. "Die wissenschaftliche Grundlagenforschung ist von der Frage der industriellen und militärischen Anwendung zu trennen" (409).
Die ganze Freiheit der Wissenschaft muß dringend auf eine neue demokratische Basis gestellt werden. Der entscheidende Schritt dazu ist die Einrichtung eines eigens gewählten Kulturparlaments mit eigens dafür verantwortlichen "Experten" (nicht allein im Sinne von wissenschaftlichen Spezialisten, sondern von lebensnahsachkundigen Bürgern). Die von Fromm postulierte Trennung von industriellen und militärischen Zwecken ist in der Unterscheidung der Kompetenzen Grundwerteparlament, Kulturparlament, politischem Parlament und Wirtschaftsparlament eingeschlossen.
13. "Eine unabdingbare Voraussetzung einer neuen Gesellschaft ist die atomare Abrüstung" (410).
Hierin haben wir - besonders dank Gorbatschow - mit dem Ende des Kalten Krieges enorme Fortschritte gemacht. Die vollständige Abschaffung des weiterbestehenden atomaren Bedrohungspotentials dürfte an die Schaffung effizienter weltstaatlicher Rechtsstrukturen, also mit der von Kant über Jaspers bis etwa heute von Otfried Höffe [A17] postulierten Weltförderation gebunden sein.
Auf Weltebene wie auf europäischer Ebene können die Dinge jedoch nur vernunftgemäß funktonieren, wenn wir Grundwerte (Weltanschauung, Ethik, Religion), Kultur, Politik im engeren Sinn von Sicherheits- und Außenpolitik usw., sowie Wirtschaft in eine institutionell geordnete Beziehung setzen, und zwar im wesentlichen in die umgekehrte zur jetzigen, scheinbar "naturwüchsig" von der Wirtschaft (mit einem derzeit noch gerechtigkeitswidrigen Geldsystem) dominierten Beziehung.
Ich bin - kurz gesagt - mit fast allem einverstanden, was Fromm sagt, und finde es immer wieder anregend und lehrreich, ihn zu lesen. Das Problem liegt in dem, was Fromm nicht sagt und was er von seinem sozialpsychologischen Standpunkt nicht zu sehen vermag, zumal selbst Politologen, Soziologen und Sozialphilosophen konkret weiterführende Vorschläge zur Wirtschaft wie zur Demokratie der Zukunft schuldig bleiben. Erstens eine nicht-individuumsbezogene, systemische Kapitalismus- Analyse, (worin er hinter Marx zurückbleibt): der systemische Zwang des Geldes, gegen den psychologische Postulate wie "Seins- statt Habenorientierung" machtlos sind. Die Institution des zinsträchtigen Geldes beruht nicht auf subjektiven Haltungen (wie etwa Habgier), genausowenig wie Privateigentum an Grund und Boden, das zweite große Thema der Geld- und Bodenreformbewegung, oder die private Verfügung über Produktionsmittel, von der viele Lohnabhängige abhängig sind. Fromms treffende soziale Reformvorschläge dürfen zweitens nicht über die Notwendigkeit einer ganz grundsätzlichen Demokratiereform hinwegtäuschen, vielleicht hinwegtrösten.
Die Aporie der humanistischen Sozialpsychologie besteht darin: Die Enthumanisierung durch die "Megamaschine" unserer dem Menschen entfremdeten Habens-Gesellschaft wird von verallgemeinerten menschlichen Haltungen her angegangen, aber Humanisierung ist nicht allein vom individuell- psychologischen Standpunkt aus möglich. Wohl auch nicht durch eine sozialpsychologische Verallgemeinerung, eine Wechselwirkung von ökonomischer Schicksalsgemeinschaft und Ideen/ Idealen, einem Praktischwerden von Fromms Methode. Wenn es nach dem heute riesengroßen, aus weltweitem Leid und mehr oder weniger stiller Verzweiflung gespeisten Potential an gutem Willen ginge, hätten wir längst eine humane Wirtschaft und eine Demokratie, die ihren Namen verdient.
Was heute nottut, ist die theoretisch-praktische Bündelung dieser großen Veränderungssehnsucht durch konstruktiv systemische Kritik der Megamaschine in Theorie und Praxis, wie sie die 68er Bewegung schuldig blieb, die ja wesentlich durch Fromms früheren Kollegen vom Frankfurter Institut für Sozialforschung ausgelöst wurde. Konstruktive Revolution muß der Inhalt der heutigen Aufklärungsbewegung sein.
Vom Einzelnen als solchen sind dabei (als notwendige, nicht hinreichende
Bedingung der Veränderung) vor allem zwei Haltungen des alles entscheidenden
Übergangs vom Einzelnen zur Allgemeinheit gefordert:
Hierin liegt m. E. der sozialpsychologische Hauptbeitrag Erich Fromms
zur friedlichen, konstruktiven Revolution, die inzwischen weltweit leise
begonnen hat. "Diese oder jene Reform vorzuschlagen, ohne das System von
Grund auf zu erneuern, ist auf lange Sicht gesehen sinnlos, denn solchen
Vorschlägen fehlt die mitreißende Kraft einer starken Motivation"
(GA II, 413)."
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