Psychiatrie und Antipsychiatrie
nach David Cooper
Die Ergebnisse antipsychiatrischer Behandlung analog Projekt Villa 21
von Rudolf Sponsel, Erlangen
* Einführung * Existenzialistischer Hintergrund * Begriff der Antipsychiarie nach Cooper * Die antipsychiatrische Evaluationsstudie von Cooper analog Villa 21 * Vergleichstabelle * Methodische Prinzipien analog der Behandlung in Villa 21 * Querverweise *
Vorbemerkung zum Namen:
Beim Antipsychiater David Cooper ist der Vorname wichtig, weil in der jüngeren
Psychiatriegeschichte noch ein J. E. Cooper eine Rolle spielt, ebenfalls
ein Brite - aus Nottingham - der zusammen mit Wing und Sartorius ein wichtiges
Buch "Die Erfassung und Klassifikation psychiatrischer Symptome. Bescheibung
und Glossar des PSE (Present State Examination) - ein Verfahren zur Erhebung
des psychopathologischen Befundes" (dt. 1982, engl. 1974) veröffentlichte.
Von David Cooper wird berichtet, daß er der einzige Antipsychiater gewesen sein soll, der diese Bezeichnung für sich selbst ausdrücklich angenommen haben soll, aber ohne den dogmatischen ARAF-Anspruch eines Thomas Szasz. Mit Ronald D. Laing gilt David Cooper als moderner Wegbereiter einer sehr sozialkritischen, liberalen und psychologischen Psychiatrie, die in einer radikaleren Form die tradionelle Psychiatrie gänzlich in Frage stellte und damit zur Antipsychiatrie wurde. Eine weitere Steigerungsform der Antipsychiatrie zu einer radikal autonomen und fundamentalen Bewegung ergibt sich dann mit Thomas Szasz und der ARAF- Variante von Scientology. |
Doch
David Cooper hat nicht nur eine bestimmte Einstellung und verkündet
nicht nur ein antipsychiatrisches Programm, er hat seinen Ansatz mit der
Villa
21 auch empirisch evaluiert, d.h. einen Erfolgs- und Nutzennachweis
erbracht. Besonders beachtlich ist hierbei, daß seine Ergebnisse
wenigstens genau so gut oder sogar besser sind als die der traditionellen
Psychiatrie (zumindest zu seiner Zeit).
Zu beachten ist hierbei, daß nahezu die gesamte Heilmittel-, Gesundheits- und Psychotherapieforschung elementarer Wissenschafts- und Sachverständigen- Kriterien nicht genügt, was man aber natürlich Cooper nicht einseitig anlasten darf und alle betrifft, sofern sie ihre eigenen Erfolge erforschen, was (Negativ) "Standard" ist. |
Existenzialistischer Hintergrund
David Cooper beginnt sein Buch Psychiatrie
und Antipsychiatrie im Vorwort mit einer Feststellung und tiefgreifend
existenziellen Fragen, eingefühlt in Menschem, die sich (plötzlich)
in der Psychiatrie finden:
"Warum bin ich hier? Wer hat mich hierhergestellt oder weshalb habe ich mich selbst hierhergestellt (und welcher Unterschied besteht zwischen diesen beiden Fragen)? Wer bezahlt mich wofür? Was soll ich tun? Soll ich überhaupt etwas tun? Weshalb soll ich nichts tun? Was ist etwas und was ist nichts? Was ist Leben, was Tod, was ist geistige Gesundheit, was Wahnsinn?" |
"Keinem, der die Institutionen
überlebt, erscheinen die mehr oder weniger zungenfertigen üblichen
Antworten auf diese Fragen angemessen. Die Zweifel gelten sowohl den bestehenden
theoretischen Grundlagen unserer Arbeit als auch den genau umrissenen täglichen
Verrichtungen: Gesten, Handlungen, Feststellungen über andere Menschen.
Noch tiefer reichende Zweifel haben einige von uns veranlaßt, Vorstellungen
und Maßnahmen anzuregen, die den konventionellen als Antithesen gegenüberstehen,
ja, tatsächlich ansatzweise als Antipsychiatrie anzusehen sind."
|
"Die wirkungsvollste Art, den
Möglichkeiten einer solchen antithetischen Disziplin nachzugehen,
scheint mir die Erforschung des wichtigsten Problemkomplexes des betreffenden
Fachgebiets zu sein. Im Falle der Psychiatrie handelt es sich dabei um
jenen Problemkomplex, der als Schizophrenie
bezeichnet wird.
Ich habe in der vorliegenden Monographie versucht,
meinen Blick auf jene Menschen zu richten, die von ihrer menschlichen Umwelt
als Schizophrene bezeichnet werden, und zu ergründen, wie es zu dieser
Bezeichnung kam, wer sie ihnen gab. Was bedeutet sie dem, der ihn so abstempelte,
was dem Abgestempelten? [> 8]
Die Untersuchung gilt einer Form sozialer Invalidisierung,
wobei dieses Wort in doppeltem Sinn verstanden wird. Zunächst wird
ein Mensch nach und nach dazu gebracht, dem Bild der schwerfälligen,
passiven Persönlichkeit eines Kranken oder Patienten zu entsprechen,
obgleich diese Rolle andererseits voraussetzt, daß teilweise die
Illusion von Aktivität - etwa bei der Beschäftigungstherapie,
auf dem Sportplatz usw. - erweckt wird. Vor und während der so verstandenen
Invalidisierung und dialektisch mit ihr verbunden läuft jener Prozeß
ab, durch den nahezu jede Handlung, Außerung und Erfahrung des Betroffenen
systematisch als krankhaft erklärt wird, gemäß den von
seiner Familie und später von anderen in dem Bemühen aufgestellten
Spielregeln, den für sie wichtigen Patienten zu erzeugen. Wir werden
diese »Wichtigkeit« zu analysieren haben.
In den letzten hundert Jahren hat sich die Psychiatrie
nach Ansicht einer wachsenden Zahl von Psychiatern viel zu sehr nach den
entfremdeten Bedürfnissen der Gesellschaft ausgerichtet, innerhalb
derer sie tätig ist. Indem sie das tut, läuft sie ständig
Gefahr, in bester Absicht an jenen Mitgliedern der Gesellschaft Verrat
zu begehen, die als Patienten in die psychiatrische Situation hineingeworfen
wurden. In unserem Lande suchen heute sehr viele Leute aus freien Stücken
Arzte auf, um psychiatrische Hilfe zu erlangen. Größtenteils
suchen diese Menschen in durchaus praktischem Sinne nach Methoden, die
die instand setzen sollen, den massierten gesellschaftlichen Erwartungen
besser und genauer zu entsprechen. Im allgemeinen wird ihnen dabei geholfen,
dieses Ziel zu erreichen. Einige Irregeleitete hingegen gehen zum Psychiater,
um etwas zu finden, das man als eine Art »geistiger Führung«
bezeichnen könnte; sie werden gewöhnlich bald enttäuscht.
Die meisten Menschen jedoch, von denen ich hier
erzählen will, sind von anderen - meistenteils ihren Familien - in
die psychiatrische Situation hineingestoßen worden. Die Tatsache,
daß die Mehrzahl von ihnen derzeit rechtlich gesehen den Status von
freiwilligen und nicht zwangsweise festgehaltenen Patienten hat, ist im
Hinblick auf unsere Beweisführung lediglich von ironischer Bedeutung.
In der Regel handelt es sich um junge Leute, die zum ersten oder zweiten
Mal in einer psychiatrischen Anstalt sind und denen nun der sehr spezifische
Stempel [>9] »schizophren« aufgedrückt wurde. Es sind
die solcherart abgestempelten Menschen, mit denen zwei Drittel der Betten
in den psychiatrischen Anstalten belegt sind, und wir müssen daran
denken, daß nahezu die Hälfte aller Krankenhausbetten in Großbritannien
Betten in psychiatrischen Anstalten sind. Nahezu 1 Prozent der Bevölkerung
kommt zu irgendeinem Zeitpunkt seines Lebens ins Krankenhaus, weil man
einen »schizophrenen Zusammenbruch« diagnostiziert hat, und
der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler
sagte einmal, auf jeden hospitalisierten Schizophrenen kämen zehn,
die sich in Freiheit befinden. Betrachten wir aber die Statistik in dieser
Weise, dann beurteilen wir die Schizophrenie schon im vorhinein als eine
Art tatsächlicher Krankheitseinheit, die manche Leute »haben«.
Und hier begänne bereits der Irrtum.
In unserer Gesellschaft gibt es viele Methoden,
mittels derer gewisse Minderheiten zunächst designiert und dann in
einer ununterbrochenen Folge von Maßnahmen entsprechend behandelt
werden, etwa indem man ihnen mangelnde Eignung unterstellt, sie in bestimmte
Clubs nicht aufnimmt, von gewissen Schulen und gewissen Stellungen ausschließt
etc., und weiter, indem man ihnen die Würde abspricht; am entfernteren
Ende dieser Kette stehen kaltblütige Tötung und Massenvernichtung.
Doch ist das öffentliche Gewissen so stark, daß es einer Begründung
für solche Aktionen bedarf; diese Begründung wird durch die vorausgegangene
Anwendung von krankmachenden Methoden geliefert, die darauf abzielen, eine
genügende Anzahl von Opfern für die tatsächlichen Eliminierungsmaßnahmen
bereit zu haben.
Es gibt keine geachtetere oder gar sakrosankte Zerstörungsmethode
als die, die den Segen der medizinischen Wissenschaft hat. Die Medizin,
obgleich stets oberklassenbewußt und muffig, ist ihrer Überlieferung
nach liberal und human; sie stützt sich auf hohe Ideale und den Hippokratischen
Eid. Und die Psychiatrie ist Teil der Medizin, wenn auch einige ihrer Praktiker
begonnen haben, wider den Stachel zu löcken. Wir werden aber Gelegenheit
haben, zu fragen, ob es angemessen ist, in dem Bereich menschlichen Verhaltens,
mit dem es die Psychiatrie zu tun hat, die Dinge medizinisch oder pseudomedizinisch
zu betrachten und entsprechend zu handeln. Ja, wir werden sogar das Argument
zu erwägen haben, das besagt, daß [>10] die Psychiatrie auf
einem wichtigen Gebiet ihres Wirkungsfeldes insgesamt zur systematischen
Zerstörung einer großen Gruppe von Menschen beigetragen hat."
Die antipsychiatrische Evaluationsstudie von Cooper analog Villa 21
"Zusammenfassung
20 männliche und 22 weibliche Schizophrene
wurden mit kombinierter Familien- und Milieutherapie in zwei psychiatrischen
Krankenhäusern behandelt, wobei von Tranquillizern nur geringfügig
Gebrauch gemacht wurde. Individuelle Psychotherapie wurde nicht angewendet.
Es wurden weder sogenannte Schocktherapien noch Leukotomien durchgeführt.
Alle Patienten wurden innerhalb eines Jahres nach ihrer Aufnahme entlassen.
Die durchschnittliche Verweildauer betrug 3 Monate. 17 % wurden innerhalb
eines Jahres nach ihrer Entlassung erneut aufgenommen. Unsere Ergebnisse
werden diskutiert. Unseres Erachtens hat es den Anschein, als legten sie
eine radikale Revision der in den meisten psychiatrischen Einheiten dem
Schizophrenen und seiner Familie gegenüber üblichen therapeutischen
Verfahren nahe. Diese Revision steht im Einklang mit den gegenwärtigen
Entwicklungen in der Sozialpsychiatrie Großbritanniens." (S.
146)
David Cooper vergleicht seine Ergebnisse mit den Ergebnissen traditioneller Psychiatriestudien und faßt die Daten in folgender Vergleichstabelle zusammen:
Methodische Prinzipien analog der Behandlung in Villa 21
"Methodische Prinzipien
Einzelheiten unserer Methode der Familien- und Gruppenuntersuchung sowie der Behandlung des als schizophren diagnostizierten Menschen sollen in späteren Publikationen dargestellt werden.
Die Grundsätze, nach denen wir verfuhren, lassen
sich in aller Kürze folgendermaßen fassen:
Ein Schizophrener, der ins Krankenhaus eingeliefert
wird, ist in seiner Fähigkeit, unter normalen gesellschaftlichen Bedingungen
zu leben, mehr oder weniger eingeschränkt. Es ist notwendig, einen
sozialen Rahmen zu schaffen, der das berücksichtigt. Wir haben daher
die Stationen, die unter unserer Obhut standen, neu organisiert, um einen
menschlichen Kontext zu schaffen, in dem Interaktionen soweit wie möglich
vermieden wurden, die nach unseren Untersuchungen geeignet [>136] sind,
psychotisches Verhalten heraufzubeschwören. In diesem Kontext war
jedem Patienten eine Beziehung zu mindestens einer anderen, für ihn
wichtigen Person gewährleistet. Diese Beziehung war so beständig
und verläßlich, wie wir es erreichen konnten.
Zu diesem Zweck bildeten wir ein Team von Sozialtherapeuten aus, die unter dem Pflegepersonal ausgewählt wurden - Sozialtherapeut ist jeder, der sich bemüht, ein festes Vertrauensverhältnis zum Patienten zu errichten. Wir setzten auch Patienten als Sozialtherapeuten ein.
Der Sozialtherapeut muß bereit sein, nahezu jede Situation zu nutzen, um ein Vertrauensverhältnis zu einem Patienten herzustellen. Er muß jederzeit offen und ehrlich sein, und er muß bereit sein, jedes Problem aufrichtig zu diskutieren, sei es von noch so persönlicher Bedeutung für ihn, oder aber er muß unumwunden seine Angst eingestehen, wenn es ihm unmöglich ist, über etwas zu diskutieren. Diese Bereitschaft, ob einzelnen oder einer Gruppe gegenüber, ist entscheidend für die Aufhebung mystifizierender Kommunikationsmuster, die den Patienten umgeben." (S. 135-136)
Nicht dogmatisch: Das ergibt sich u.a. aus einer Aussage in der Diskussion seiner Ergebnisse, wenn er S. 143 ausführt: "Im vorliegenden Bericht wird nicht behauptet, daß unser Ansatz gegenüber dem Schizophrenieproblem der einzig mögliche oder gar der beste sei." Im Vergleich zu Szasz leugnet Cooper so wenig wie Laing auch nicht die klinischen Phänomene.