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Falsche Vorstellungen über die Ursachen der Schizophrenie.
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"12. Ursachen und Risikofaktoren der Schizophrenie
Falsche Vorstellungen über die Ursachen der Schizophrenie
Wenn ein junges Mädchen aus der ersten Liebesbeziehung heraus scheinbar plötzlich «den Verstand verliert», über magische Einflüsse ihres Geliebten auf ihre Gedanken und ihren Körper klagt, Stimmen von der Zimmerdecke und Einflüsterungen des Teufels hört und ihrer Freundin vorwirft, ihre Gedanken zu lesen, dann suchen ihre tief beunruhigten Eltern nach dem Grund dieser unfaßbaren Veränderung im Wesen ihrer Tochter. Es gehört ein hohes Maß an Besonnenheit und konkretem Wissen dazu, darin eine schizophrene Psychose zu vermuten, mit dem eigenen Kind zum Psychiater zu gehen, um es untersuchen und ggf. unverzüglich behandeln zu lassen. Nicht weniger schwierig ist dieser Schritt, wenn die Krankheit langsam mit Leistungsabfall, Konzentrationsstörungen, Entfremdung in persönlichen Beziehungen, zunehmendem Mißtrauen und wachsenden Auseinandersetzungen begonnen hat. Der selbstkritische Laie in der Partner- oder Elternrolle neigt dazu, ein Gutteil der Schuld für die aus der Krankheit resultierenden Konflikte bei sich selbst zu suchen und sich damit den Weg zu frühzeitigem Erkennen der Krankheit und sachverständiger Hilfe zu erschweren. Dazu kommt der unheilvolle Einfluß weitverbreiteter Vorurteile.
In ihrem internationalen Programm gegen Stigmatisierung und Diskriminierung Schizophrener hat die psychiatrische Weltvereinigung eine beträchtliche Zahl von Mißdeutungen der Krankheit aufgezählt, die naturgemäß durch ihren kulturellen Hintergrund beeinflußt sind. Sie reichen von der Überzeugung, durch böse Geister besessen zu sein, über die Folgen exzessiver Onanie bis zur Vorstellung, zuviel geistige Arbeit und Beschäftigung mit Büchern sei geeignet, junge Menschen von der Wirklichkeit zu entfremden und sie verrückt zu machen.
Leider weist auch die Geschichte psychiatrischer Theorien über die Ursachen der Schizophrenie etliche irreale und mit unheilvollen Folgen belastete Fehldeutungen auf. Die schlimmsten psychologischen Folgen vor allem für die Eltem schizophren Erkrankter hatten psychoanalytische Theorien, mit denen die Mütter oder beide Eltern angeschuldigt wurden, für die Krankheit ihrer Kinder verantwortlich zu sein. Die erste dieser Lehren wurde von der Psychoanalytikerin Frida Fromm-Reichmann (1950) vertreten. Die Basis ihrer Ideen waren die psychoanalytische [> 243] Behandlung einer bescheidenen Anzahl an Schizophrenie leidender junger Männer und die durch keine solide wissenschaftliche Methode belegte Überzeugung, die Mütter dieser Kranken hätten durch ihre Überfürsorglichkeit und ihr dominierendes Verhalten ihre Söhne immer tiefer in eine Fehlentwicklung getrieben, die in der Schizophrenie enden mußte. Die Theorie der «schizophrenogenen Mutter» hatte zur Folge, daß viele Mütter zur leidvollen Last und Sorge um ein psychisch schwer erkranktes Kind auch noch das Verdikt der Schuld an der Krankheit aufgeladen bekamen. Der theoretische Hintergrund dieser Ideologie, die sich in den USA ungleich weiter ausgebreitet hatte als in Europa, war die psychodynamische Interpretation der Krankheit und ihrer Symptome aus der Kind-Eltern-Beziehung.
Freud selbst war vorsichtig genug, von einer psychoanalytischen Behandlung der Schizophrenie abzuraten, während Frida Fromm-Reichmann, Rosen, Sullivan und einige andere frühe Dissidenten der Freudschen Lehre schizophren Erkrankte mit modifizierten psychoanalytischen Methoden behandelten. Ihnen folgte eine ganze Welle psychoanalytischer Therapien der Schizophrenie, die nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den USA, der Schweiz, in Deutschland, Holland und den nordischen Staaten zu vielen, in den Ergebnissen enttäuschenden, teilweise erheblich risikobelasteten Ergebnissen führte.
Man möchte annehmen, daß die wissenschaftlich bodenlose Konstruktion der schizophrenogenen Mutter in ihren überaus bitteren Folgen eine hinreichende Lehre für verantwortungsbewußte Psychiater war. Nichtsdestoweniger erschien noch 1997 ein Buch unter dem Titel «Macht der Väter, Krankheit der Söhne» [FN1] aus der Feder einer deutschen Fachärztin für Psychiatrie mit dem Grundtenor «Wie Väter ihre Söhne in die Schizophrenie treiben». Der Briefwechsel von Hermann Hesse und Franz Kafka wurde in diesem Buch zur Erläuterung schwerer Vater-Sohn-Konflikte herangezogen. So weit, so gut. Daß die aus Vater- Sohn- Konflikten entstehenden Spannungen sich nicht selten in schizophrenen Zuständen entladen, ist eine Erfindung der Autorin. Es ist absolut unverantwortlich, das beträchtlich angewachsene Wissen um die ursächlichen Faktoren, die zum Auftreten einer Schizophrenie beitragen, in den Wind zu schlagen und mit dem Gespenst des schizophrenogenen Vaters erneut einer großen Zahl von Menschen zum Leid der Krankheit ihres Kindes noch zusätzlich eine nicht existierende Schuld an der Entstehung der Krankheit aufzubürden. Erziehungsmängel, und das muß an dieser Stelle ausdrücklich als Zitat aus dem Schizophrenieprogramm der psychiatrischen Weltvereinigung angeführt werden, sind nicht die Ursache der Krankheit Schizophrenie (Handbuch zum internationalen WPA-Programm gegen Stigmatisierung und Diskriminierung von Schizophrenie, dt. Übersetzung 1999).
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Dem simplen Modell der schizophrenogenen Mutter folgte eine Reihe komplexer psychodynamischer Theorien in der Fortsetzung der Überzeugung, die Ursache der Schizophrenie sei in der Familie zu suchen. Die einfachste davon war die Doppelbindungstheorie (Double- bind- Theorie) der amerikanischen Psychiater und Kommunikationsforscher Bateson und Kollegen (1956). Sie ging von der Annahme aus, daß den später an Schizophrenie Erkrankenden als Kindern in ihren Familien gehäuft unlösbar widersprechende Botschaften vermittelt würden. Diese Botschaften sollen in der Regel auf zwei unterschiedlichen Ebenen, etwa Sprache und Ausdruck, gegeben werden. Die Unauflösbarkeit des Widerspruchs soll Unverständnis und Verwirrung produzieren. Die Schöpfer dieser Theorie glaubten, daß die «Verwirrung» des Denkens, aber auch das ambivalente und bizarre Verhalten Schizophrener daraus erklärt werden könnten. Einen wissenschaftlichen Beleg hat es auch dafür nie gegeben. Beim kritischen Nachdenken wird man daran erinnert, daß Botschaften mit «doppelbödigen» oder widersprüchlichen Inhalten zum normalen Leben, vor allem zur Kommunikation in Diktaturen und so auch zu den intelligentesten und wirksamsten Instrumenten des politischen Kabaretts gehören. Zu glauben, daß daraus eine Schizophrenie hervorgehen könnte, ist naiv.
Eine komplexere Familientheorie ging davon aus, daß die Beziehungen der Eltern Schizophrener untereinander und zum später erkrankenden Kind durch ein erhebliches Dominanzgefälle verzerrt und wirklichkeitsfremd sind und damit die Entwicklung normaler innerer Repräsentanzen und äußeren sozialen Verhaltens fehlgeleitet wird. Auch diese Familientheorie, vor allem von Lidz und anderen (1965) von der Yale University in den 50er und 60er Jahren vertreten, stützte sich auf ein differenziertes psychoanalytisches Deutungsinstrumentarium, das eine empirische Überprüfung der enthaltenen Hypothesen sehr erschwerte. Zu einem Beweis dieser Theorie ist es dann auch nicht gekommen.
Allerdings hat eine Reihe von Studien gezeigt, daß die Interaktion vieler Familien eines an Schizophrenie erkrankten Kindes sowohl auf der Ebene der sprachlichen Verständigung als auch auf der Gefühls- und Verhaltensebene deutlich von den Umgangsmustern nicht belasteter Familien abweicht. Doch dies ist kaum ein Beweis dafür, daß in einer gestörten Familienkommunikation die Ursache der Schizophrenie zu suchen sei. Zweierlei ist zu bedenken: Ein Familienmitglied, das an einer schweren seelischen Erkrankung leidet, die als solche die engen mitmenschlichen Beziehungen belastet und verzerrt, stößt mit hoher Wahrscheinlichkeit auch Belastungen und gestörte Kommunikationsprozesse bei den nichterkrankten Familienmitgliedern an, zumal wenn es sich dabei um verantwortungsbewußte, sorgende und selbstkritische Eltern handelt.
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Als zweites ist zu bedenken, was die genetische Familienforschung schon seit längerem demonstriert: Unter Angehörigen ersten Grades an Schizophrenie Erkrankender finden sich leicht erhöhte Raten von schizophrenen oder atypischen Psychosen und stark erhöhte Raten von Persönlichkeitsstörungen, insgesamt bei etwa 25 % der Eltern, die dem Spektrum der Schizophrenie zuzurechnen sind. Dazu zählen die sog. schizotypische Persönlichkeit und deutlich seltener schizoide Persönlichkeitszüge. Sie gehen mit stabilen, oft lebenslang bestehenden Verhaltensdispositionen einher, die enge persönliche Beziehungen erschweren: reduzierte Kommunikabilität, erhöhtes Mißtrauen und erhöhte Empfindsamkeit. Das bedeutet, daß ein beträchtlicher Teil der Eltern an Schizophrenie erkrankender Kinder selbst die Last erhöhter Verletzbarkeit und erschwerter Kommunikabilität im Leben zu tragen hat; Eigenschaften, die auf denselben genetischen Ursprung zurückzuführen sind wie das Erkrankungsrisiko der Kinder. Viele Familien mit an Schizophrenie leidenden Nachkommen benötigen deshalb selbst Unterstützung und Hilfe und nicht etwa zusätzliche Belastung durch originelle, aber unbegründete und unverantwortbare Theorien über ihre Schuld an der Krankheit ihrer Kinder.
Die letzte Stufe der Theorien von der familiären Verursachung der Schizophrenie erreichten L. Wynne und M. T. Singer (Singer & Wynne 1965), die am National Institute of Mental Health in Washington arbeiteten. Sie identifizierten komplexe Strukturen familiärer Kommunikation, deren Feststellung ihnen angeblich erlaubte, die jeweilige Symptomatik der Schizophrenie der aus diesen Familien hervorgegangenen Kinder vorherzusagen. Die sorgfältige Nachuntersuchung dieser zunächst begeistert aufgenommenen Studienergebnisse durch eine Gruppe von Forschungspsychiatern aus London am Ort der Durchführung in Washington erbrachte keine Bestätigung, aber den begründeten Verdacht, daß die Aussagen von L. Wynne und M. T. Singer nicht auf methodisch einwandfreie Weise zustande gekommen waren. Damit war die letzte der großen irreführenden Theorien zur Erklärung der Schizophrenieursachen aus Kommunikationsmustern der Familien Schizophrener ihrem Ende in der Wissenschaft und ihrem langsamen Aussterben in der öffentlichen Meinung nahegekommen.
Das Scheitern einer ursächlichen Erklärung der Schizophrenie aus dem Familienmilieu heraus bedeutete jedoch keinesfalls, daß die persönliche Wärme, Zuwendung und die Unterstützung einer normalen geistigen, körperlichen und sozialen Entwicklung, die der später Erkrankende in Kindheit und Jugend von seinen Eltern erfährt, für die später auftretende Krankheit und ihren Verlauf unwichtig wären. Unsere kritischen Aussagen bedeuten ebensowenig, daß konfliktreiche und belastende Beziehungen in den Familien schizophren Erkrankter für die [> 246] Auslösung und den Verlauf der Krankheit keine Bedeutung hätten. Im Gegenteil, aber darauf wird später einzugehen sein."
Ende des Readers
Häfner,
Heinz 20.05.1926 in München
Prof. Dr. med., Dr. phil., Dr. med. h.c., Dr. rer. soc. h.c., Mediziner, Psychologe; Inhaber des Lehrstuhls Psychiatrie an der Fakultät für Klinische Medizin Mannheim der Universität Heidelberg, seit 1968; Direktor des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZISG), seit 1975; Direktor der Psychiatrischen Klinik am ZISG, seit 1975; emeritiert seit 10.94; seither Leiter der Arbeitsgruppe Schizophrenieforschung; Direktor des WHO- Collaborating Centre for Training and Research in Mental Health 1980-12/99; Vorsitzender des zentralen Gutachtergremiums des BMFT- Förderschwerpunktes "Public Health", seit 1993; Vorsitzender der Kommission "Epidemiologie" des BMBF, von 1993-1994. [Quelle FN2] |