Die nationalsozialistische Ära: Der Einbruch der totalen Unmenschlichkeit in die Behandlung psychisch Kranker.
Häfner,
Heinz (2000). Die nationalsozialistische Ära: Der Einbruch der
totalen Unmenschlichkeit in die Behandlung psychisch Kranker. In: Das Rätsel
Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt, S. 65-71. München:
C.H. Beck. Mit freundlicher Genehmigung des C.H.
Beck Verlages.
Ein sehr informatives Werk zu allen Aspekten der Krankheit. Fachbiographische Daten. Zum Reader: Falsche Vorstellungen über die Ursachen der Schizophrenie. |
Aus der sozialdarwinistischen Idee einer Degeneration
des gesamten Volkskörpers durch die zivilisatorische Verminderung
biologischer Selektion von Trägern unerwünschter Anlagen entwickelte
sich die bereits angesprochene biologistische Untergangsstimmung: Sie kehrte
auch in [66] ökonomischen Argumenten wieder, die die steigende Belastung
der Volkswirtschaft durch die Fürsorge für die «Degenerierten»,
die «unnützen Esser» oder «lebensunwerten leeren
Menschenhülsen» bemängelten, wie einige dieser unmenschlichen
Bezeichnungen lauteten. Eugenische Maßnahmen wurden deshalb von vielen
energisch gefordert. Das gilt für Psychiater und Neurologen, für
Juristen und Genetiker, aber auch für andere Fachdisziplinen, für
politische Parteien - etwa die schwedische sozialistische Partei und einige
deutsche SPD-Abgeordnete - und sogar für ansonsten humanitär
denkende Sozialmediziner - etwa den herausragenden Pionier der deutschen
Sozialmedizin Alfred Grotjahn (1912).
Weil die meisten Kranken nicht bereit und viele
geistig Behinderte auch nicht in der Lage waren, ihre Zustimmung zu der
vor dem Zweiten Weltkrieg gesetzlich erlaubten, freiwilligen Sterilisation
zu geben, wurde die Zwangssterilisation Erbkranker, psychisch Kranker und
geistig Behinderter mit der Verkündung der Erbgesundheitsgesetze im
Nationalsozialismus am 14.7.1933 - sie traten am 1. 1. 1934 in Kraft -
eingeführt. Bis zum Ende des Dritten Reiches sollen insgesamt 360.000
Personen, im ersten Jahr, 1934, allein 46000, die Hälfte davon Frauen,
sterilisiert worden sein.
Die freiwillige Sterilisation bei monogenetischen
Erbkrankheiten, insbesondere bei dominant vererbten schweren Erbleiden,
sollte individuelles Leid und ein durch schwere Krankheit und Behinderung
belastetes Lebensschicksal vermeiden. Der Schweizer Psychiater Eugen Bleuler
hatte 1935 die freiwillige Sterilisation zur Vermeidung individuellen Leids
befürwortet, zur Entlastung der Gemeinschaft aber abgelehnt. Die nationalsozialistische
kollektive Zwangssterilisation diente eindeutig Hitlers Größenwahn
eines durch 'Zuchtwahl gereinigten arischen Volkskörpers' und in zweiter
Linie auch einer Entlastung der Volkswirtschaft.
Betroffen aus rassischen Gründen waren auch
Zigeuner (Sinti und Roma). Sie waren in relativ großer Zahl zwangssterilisiert
worden (Meyer-Lindenberg 1991). Zigeuner, Juden und an Erbkrankheiten leidende
Menschen sollten sich nach der nationalsozialistischen Rassen- und Herrenmenschenideologie
in Deutschland nicht mehr fortpflanzen dürfen (Burleigh 1997).
Wie unproblematisch dieser Eingriff in die persönliche
Freiheit und körperliche Unversehrtheit der Kranken damals zu sein
schien, wird daran deutlich, daß zahlreiche «Kulturstaaten»
Gesetze zur Zwangssterilisierung psychisch Kranker und Behinderter erlassen
und sie erst in jüngster Zeit für ungültig erklärt
haben. Der US-Bundesstaat Indiana hat 1907 die Zwangssterilisation eingeführt,
bis 1913 war sie bereits in 12 US-Bundesstaaten in Kraft, 1927 bestätigte
der Oberste Gerichtshof
[68] der USA die Rechtmäßigkeit der Zwangssterilisation,
1985 waren Gesetze zur Zwangssterilisation noch in 19 Staaten der USA gültig.
Dänemark führte die Zwangssterilisation 1928 ein. Das schwedische
Sterilisationsgesetz war wie das norwegische 1935 erlassen worden. Trotz
der schlimmen deutschen Erfahrungen ist die Zwangssterilisation dort noch
bis 1976 bei vielen tausend Menschen praktiziert worden (von Altenbeckum,
FAZ, 2.9.1997). [>67]
Der Gerechtigkeit halber sollte man nicht übersehen,
daß die Geburt eines schwerstbehinderten, erbkranken Kindes eine
ernste Belastung für die Eltern und meist auch ein schweres Lebensschicksal
für die Betroffenen darstellt. Die Vermeidung der Fortpflanzung dominant
erblicher Leiden - was übrigens nur auf einen geringen Teil der von
den jeweiligen Gesetzen für Zwangssterilisation definierten Personen
zutraf - ist eine ethisch relevante Überlegung. Voll reversible und
nebenwirkungsarme hormonelle Methoden der Empfängnisverhütung
gab es damals nicht. Eine vorgeburtliche Diagnostik nach Eintritt einer
Schwangerschaft war ebenso unbekannt. Die inzwischen in streng definierten
Fällen indizierte und rechtlich zulässige frühzeitige Unterbrechung
der Schwangerschaft bei drohender schwerer Mißbildung oder Erbkrankheit
des Kindes war zu jener Zeit noch nicht möglich. Es blieb nur der
Verzicht auf Fortpflanzung durch sexuelle Enthaltsamkeit, unzuverlässige
Empfängnisverhütung oder freiwillige Sterilisation, was bei niedrigem
genetischem Risiko schwer zu akzeptieren ist. Dies alles kann jedoch die
menschenverachtende Radikalität einer gesetzlichen Ermächtigung
zu derart schwerwiegenden Eingriffen in die Freiheit, körperliche
Unversehrtheit und in das persönliche Leben der Betroffenen nicht
rechtfertigen.
Besonders unvertretbar aber war die Einbeziehung
von Menschen, die an Schizophrenie erkrankt waren, in den Katalog der für
eugenische Maßnahmen vorgesehenen Erbkrankheiten, denn einmal liegt,
wie noch detailliert gezeigt werden wird, das Erkrankungsrisiko der Kinder
eines schizophrenen Elternteils nahe 10 %, zum anderen ist die Schizophrenie
eine komplexe Erbkrankheit, die wegen der Zahl der Erbfaktoren und deren
jeweils geringen Beitrag zum genetisch übermittelten Risiko bisher
keinen Nachweis eines bestimmten Erbgangs und keine sichere Erbprognose
der individuellen Erkrankungswahrscheinlichkeit erlaubte.
Der Massenmord an Geisteskranken
Vor diesem geistesgeschichtlichen Hintergrund heraus wird verständlicher,
weshalb Hitler und sein nationalsozialistisches Regime den radikalen Weg
der Eugenik bis zur Euthanasie, bis zum Mord an seelisch [> 68] Kranken,
planen und gehen konnten. Die fatale Idee, schwerstbehinderte und unheilbar
Kranke, die scheinbar nicht mehr am Leben der Gemeinschaft teilhaben konnten
und einen hohen Pflegeaufwand erforderten, zu töten, ist allerdings
ebenfalls längst vor Hitler formuliert worden. Sie taucht seit Ende
des 19. Jahrhunderts in mehreren Veröffentlichungen von Psychiatern,
Juristen, Genetikern und Verwaltungsbeamten auf. 1910 wurde sie in der
Schrift «Die Vernichtung lebensunwerten Lebens» zweier bedeutender
Autoren, des Freiburger Psychiaters Hoche und des angesehenen Juristen
Binding, mit erschreckender Unbedenklichkeit formuliert und als staatlich
gelenkte und kontrollierte Maßnahme gefordert. Das ökonomische
Argument, der Volkswirtschaft die Kosten für die Versorgung «lebensunwerten
Lebens» zu ersparen, ist in den wirtschaftlichen Not- und Krisenzeiten
der 20er und 30er Jahre verstärkt in die Diskussion eingeflossen.
Adolf Hitler, angesteckt von der germanischen Rassenideologie
eines Houston Stewart Chamberlain (1855-1927) und Joseph Arthur Gobineau
(1816-1882), von Darwins «Kampf ums Dasein», von Nietzsches
Verachtung alles Schwachen und vom eugenischen Zeitgeist der «Zuchtwahl»,
legte seinen obersten Grundsatz der Gesundheitspflege in «Mein Kampf»
in dem Satz nieder:
Unter Mitwirkung radikaler Eugeniker, vor allem des am Kaiser-Wilhelm-Institut
für Psychiatrie in München tätigen Ernst Rüdin, erließen
die Nationalsozialisten 1935 ihre Erbgesundheitsgesetze. Jeder Kranke,
der mit der Diagnose Schizophrenie damals in ein psychiatrisches Krankenhaus
kam, hatte damit die Meldung zur Zwangssterilisierung zu befürchten.
Nachdem mit der Zwangssterilisierung von 290.000
- 300.000 Menschen allein bis Kriegsbeginn der erste Schritt der Ausrottung
«unerwünschten Erbguts» getan war, vollzog Hitler mit
seinen Anhängern - und er hatte genug Gleichgesinnte - unmittelbar
nach Kriegsbeginn den zweiten radikalen Schritt: die Aktion «T4>,.
Sie ist nach dem Haus Tiergartenstraße 4 in Berlin benannt, in dem
sich die Runde getroffen hatte. Hitler und den Verantwortlichen im Dritten
Reich war offensichtlich bewußt, daß sie mit der Anordnung
zur Tötung Geisteskranker gegen das Recht und gegen die moralischen
Überzeugungen eines großen Teils der Bevölkerung handelten.
Das Euthanasieprogramm wurde deshalb nicht durch Gesetz sanktioniert und
durch Ministerialerlaß in Gang gesetzt. Vielmehr wurde mit einem
in der Öffentlichkeit geheimgehaltenen Führerbefehl, der auf
den 1.9.1939, den Kriegsbeginn, vordatiert wurde, angeordnet:
Die Euthanasie wurde mit einem Propagandafeldzug
gegen die «Minderwertigen» vorbereitet. Man führte beispielsweise
Schulklassen in psychiatrische Heil- und Pflegeanstalten, um den jungen
Menschen in den Abteilungen für chronisch Kranke und schwer geistig
Behinderte nicht etwa das Leid der Betroffenen und die Notwendigkeit freiwilligen
Helfens vorzuführen, sondern ihnen Abscheu, die eugenische Ideologie
und ein völkisches Elitebewußtsein einzupflanzen.
Die Tötungsaktion, zunächst 75.000 Menschen
in den darauffolgenden zwei Jahren, wurde sorgfältig geplant. Entsprechende
Tötungsanstalten wurden ausgewählt und eingerichtet - eine unvorstellbare
Perversion der Aufgabe psychiatrischer Krankenhäuser. Alle psychiatrischen
Krankenhäuser, auch die kirchlichen Anstalten, erhielten den Befehl,
alle angeblich unheilbar psychisch Kranken, die unter den Führerbefehl
fielen, auf Formblättern zu melden. Diese wurden von Professoren der
Psychiatrie - neun hatten sich dazu hergegeben - und 39 anderen Ärzten
gesichtet. Die Entscheidung über Leben oder Tod fiel durch ein Kreuzchen
auf dem Formblatt, das mit jeweils fünf Pfennig - bei weniger als
500 Fragebögen pro Monat mit zehn Pfennig - vergütet wurde. Danach
wurden die Kranken, die überwiegend an geistiger Behinderung und an
Schizophrenie litten - unter der mindestens für die Schizophrenen
nicht voll zutreffenden Annahme der Unheilbarkeit - in die Tötungsanstalten
verlegt. Sie wurden meist mittels Injektion tödlicher Medikamentendosen
oder in Gaskammern getötet. Selbst kirchlich geleitete, religiös
gebundene Behinderteneinrichtungen nahmen an der Aktion teil. So fanden
Müller und Siemen (1991) in den Unterlagen der kirchlichen Diakonissenanstalt
Neuendettelsau, daß von den etwa 1700 Bewohnern der fünf Einrichtungen
in Trägerschaft während der kurzen Periode der Euthanasie 1154
in staatliche Heil- und Pflegeanstalten verlegt worden waren. 840 von ihnen
starben in Folge von Hungerdiäten, Giftinjektionen oder nach Weiterverlegung
in eine andere Tötungsanstalt.
Die Anzahl kranker Menschen, die bis zum Stop der
Aktion im Sommer 1941 auf diese Weise gemordet wurden, wird mit 71.088
angegeben. Die offfizielle Beendigung scheint durch die Intervention der
Kirchen, insbesondere des Kardinals von Galen, erreicht worden zu sein.
Danach wurde durch «wilde Euthanasie» und durch ein weitgehend
zentral gesteuertes Mordprogramm teils durch Nahrungsentzug, was der deutsche
Psychiater Faulstich (1998) eingehend analysierte, teils durch Giftinjektionen
oder Erschießung der Insassen von Krankenhäusern in den besetzten
Gebieten Polens noch eine große Zahl weiterer Kranker ge[>70] tötet.
Die Gesamtzahl der Opfer wird auf 200.000 geschätzt (Dressen 1986).
Was die Tötung für die Familien der Gemordeten,
was sie für andere Kranke bedeutete, die das Glück hatten, diesem
grauenhaften Schicksal zu entgehen, läßt sich heute kaum noch
ermessen. Keine andere Gruppe von Kranken hat je in der Geschichte ein
solch radikal menschenverachtendes und umfassendes Vernichtungsprogramm
erlitten. Es wird lange dauern, bis die Folgen dieses verbrecherischen
Handelns gegen hilflose Kranke überwunden sein werden. Familienangehörige,
die von der Tötung eines ihrer Familienmitglieder betroffen waren,
scheuen sich heute noch, darüber zu sprechen. Der Grund ist nicht
nur die traumatische Erinnerung, sondern auch die soziale Stigmatisierung,
von der die ganze Familie betroffen war. Vergessen sind diese Ereignisse
in vielen Familien jedenfalls nicht. Wenn man als Arzt heute die Eltern
mit der Diagnose Schizophrenie bei einem ihrer Kinder vertraut machen muß,
stößt man zuweilen auf die traumatische Erinnerung, daß
ein Großvater oder Onkel nach mehreren Jahren Aufenthalt in einer
Heil- und Pflegeanstalt 1940 in eine Tötungsanstalt verbracht worden
war und dort angeblich an einer Infektionskrankheit verstorben ist. Ein
Gefühl von Peinlichkeit aus dem damals tief eingegrabenen Stigma verbindet
sich dabei häufig mit dem erlittenen Schmerz.
Was es für ein Volk bedeutete, daß seine
Regierung kranke Menschen töten ließ, ist niemals voll ermessen
worden. Auch heute ist dieses Faktum in der Diskussion um die passive Euthanasie,
die Tötung auf Verlangen, und um Sterbehilfe in den angeblich lebensunwerten
Abschnitten unseres Lebens nicht voll gegenwärtig.
Glücklicherweise liegt das Grauen der systematischen
Tötung psychisch Kranker hinter uns. Wir leben in einer Kultur, die
Menschenrechte wahrt und den psychisch Kranken Behandlung und Schutz gewährt,
wo sie benötigt werden. Schritt für Schritt ist auch das psychiatrische
Versorgungssystem als institutioneller und organisatorischer Hintergrund
der Behandlungs-, Unterstützungs- und Schutzmöglichkeiten psychisch
Kranker und Behinderter dem gegenwärtigen medizinischen Wissen und
dem gegenwärtigen Lebensstandard nachgewachsen. Glücklicherweise
ist das, was wir den schizophren Erkrankten heute in Deutschland anbieten
können, ein sehr differenziertes und wirksames Instrumentarium, das
in vieler Hinsicht Hilfe und Erleichterung gewährt.
Eindrucksvoll ist, was die modernen Möglichkeiten
der medikamentösen, psychologischen und sozialen Behandlung und die
spezifischen Hilfen bei überdauernder partieller Behinderung auch
den nicht voll ausgeheilten Kranken an Lebensmöglichkeiten und -qualität
eröffnen können. Der Vergleich dieser Möglichkeiten, auch
wenn sie nur in einzelnen Regionen unseres Landes bereits in vollem Umfang
realisiert [>71] sind, mit dem Schicksal an Schizophrenie leidender Kranker
in der jüngeren Vergangenheit unseres Landes macht nachdenklich. Nachdenklich
macht auch der Vergleich mit dem Schicksal an Schizophrenie Leidender,
die in wirtschaftlich weniger prosperierenden Ländern noch in vernachlässigten
Asylen unter deprimierenden Bedingungen mitunter ein Leben lang untergebracht
sind oder in einigen Entwicklungsländern ohne jegliche Behandlungsmöglichkeit
dahinvegetieren und nicht selten hilflos zugrunde gehen."