Zusammenfassung und Ausblick:
Was ist nun eigentlich Schizophrenie?
Häfner,
Heinz (2000). Zusammenfassung und Ausblick: Was ist nun eigentlich
Schizophrenie?
In: Das Rätsel Schizophrenie. Eine Krankheit wird entschlüsselt, S. 396-408. München: C.H. Beck. Mit freundlicher Genehmigung des C.H. Beck Verlages. Ein sehr informatives Werk zu allen Aspekten der Krankheit.
Fachbiographische
Daten.
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Am Ende dieses Buches, das die Krankheit Schizophrenie von vielen Perspektiven her beleuchtet hat, soll der Versuch einer vereinfachenden Zusammenschau unternommen werden.
Die Krankheit und ihre Behandlung
Schizophrenie ist offensichtlich nicht der fortschreitend zur Persönlichkeitszerstörung führende Prozeß, als den ihn der Schöpfer des Krankheitsbegriffs, Emil Kraepelin, vor gut 100 Jahren einmal beschrieben hatte. Die Krankheit weist vielmehr eine enorme Vielfalt der Verlaufsformen auf. Rund 10 % heilen nach nur einer einzigen psychotischen Episode ohne Rückfall und ohne überdauernde Folgen aus. Die Mehrzahl verläuft mit unregelmäßigen psychotischen Episoden von sehr unterschiedlicher Häufigkeit und Dauer. Das Erlebnis einer solchen Psychose ist für den Betroffenen und seine Angehörigen, besonders am Beginn der Krankheit, oft äußerst beunruhigend und belastend. Es geht mit Verzerrung der Wahrnehmung von äußerer und innerer Welt und oft mit extremen Gefühlszuständen, wie Angst, Erregung, Glücksgefühl oder Verzweiflung, einher. Dennoch sind die Folgen der Psychose langfristig für die Lebensqualität und die soziale Biographie des Erkrankten meist geringer als die Folgen der anderen, der negativen Symptomdimension der Schizophrenie.
Das negative Syndrom, das in unterschiedlichem Ausmaß mit der Beeinträchtigung kognitiver Funktionen, Initiativmangel, Denkverarmung und verminderter Gefühlsansprechbarkeit einhergeht, ist in erster Linie der Grund für passive Verhaltensweisen in der Krankheit: Selbstvernachlässigung, Rückzug aus gesellschaftlichen, familiären und partnerschaftlichen Aktivitäten und Leistungsabfall in Schule und Beruf. Es ist meist auch die Quelle maximaler seelischer Belastung für die Angehörigen der Kranken. Wenn beispielsweise ein junger Mann trotz Mahnungen Tag für Tag morgens sein Bett nicht verläßt, seine Körperhygiene vernachlässigt und kaum noch Interesse an Arbeit oder Ausbildung erkennen läßt, dann holt die hilflosen Eltern oder die Ehefrau sehr bald tiefe Sorge ein.[> 397]
Ähnlich wie die Häufigkeit psychotischer Episoden variiert auch die Schwere des negativen Syndroms und der mit ihm verbundenen kognitiven und sozialen Beeinträchtigungen erheblich. Fast die Hälfte der Kranken entwickelt in den Intervallen zwischen den Episoden keine oder nur geringe negative Symptome, so daß es hier zu keinen wesentlichen Behinderungen kommt. Nur ein kleiner Teil der Krankheitsverläufe, rund 10 %, enden mit schweren unterstützungs- oder pflegebedürftigen Zuständen sozialer und kognitiver Behinderung. Wiederum nur in einem kleinen Teil dieser ungünstig verlaufenden Gruppe kommt es zur hochgradig störenden Beeinträchtigung des Sozialverhaltens, die ein freies Leben unter gesunden Menschen in der Gemeinde sehr erschweren oder gar unmöglich machen kann. Wenn es zu, glücklicherweise sehr seltenem, gewalttätigem Verhalten kommt - was in der Öffentlichkeit und in manchen Medien den Schizophreniekranken in enormem Übermaß zugeschrieben wird -, dann spielen krankheitsunabhängige Risikofaktoren eine wesentliche Rolle: mangelhafte soziale Einbindung, aggressive Persönlichkeitszüge, Alkohol- und Drogenmißbrauch und unzureichende Behandlung. Von Behandlungsproblemen abgesehen, weisen die nichtschizophren erkrankten Gewalttäter weitgehend dasselbe Risikoprofil auf.
Zwischen den Extremen harmloser und zu schweren Behinderungen führender Verläufe erstreckt sich die Vielfalt der Krankheitsbiographien. Kranken ohne oder mit nur geringfügigen Behinderungen gelingt es meist, ihr Leben selbständig und, sofern sie nicht unter sozialer Diskriminierung zu leiden haben, auch erfolgreich in Beruf und Gesellschaft zu führen. Wenn die Krankheit mit erheblichen Behinderungen oder sehr häufigen Rückfällen einhergeht, dann hat sie in der Regel auch Unterstützungsbedürftigkeit in mehreren Lebensbereichen zur Folge. Den Kranken steht heute dazu ein beachtliches Repertoire an Behandlungsverfahren, Rehabilitationsprogrammen, differenzierten Unterstützungsmöglichkeiten und helfenden Netzen tragender Beziehungen und Freizeitgestaltung zur Verfügung. Allerdings sind die Angebote der Hilfen zu Beschäftigung, sozialer Unterstützung und Freizeitgestaltung regional in sehr unterschiedlichem Umfang ausgebaut und häufig noch schlecht koordiniert. Das größte Hindernis bei Rehabilitationsbemühungen ist gegenwärtig der stark erschwerte Zugang Behinderter zu normaler Erwerbsarbeit.
In jüngerer Zeit hat sich die Einsicht in den großen Nutzen gegenseitiger Unterstützung und gemeinsamer sozialer Aktivitäten in Selbsthilfegruppen, Freizeit-, Wohn- und Lebensgemeinschaften schizophren Erkrankter durchgesetzt. Zu den Zielen der Selbsthilfebewegung zählen nicht nur vorurteilsfreies Verstehen, Rat und helfende Tat aus gleichem Schicksal und Toleranz, sondern auch die Wiedergewinnung von Selbst- [> 398] bewußtsein und Unbefangenheit in der alltäglichen Lebenswelt. Den Ausweg aus der lange erlebten Ohnmacht psychisch Kranker zur Mitsprache und Mitentscheidung in der individuellen Behandlung und in der politischen Arena, wo es um Aufbau und Qualität von Gesundheitsdiensten und um die Bekämpfung von Stigma und Diskriminierung geht, haben die Organisationen der Angehörigen und der Kranken gewiesen. Nach anfangs oft leidvollem Lernprozeß auf beiden Seiten haben sich inzwischen die Beziehungen zwischen Kranken, Angehörigen und Behandelnden in ein Verhältnis der gleichberechtigten Partnerschaft verwandelt. Die Behandlungsatmosphäre ist dadurch natürlicher und sympathischer, aber auch anspruchsvoller für beide Seiten geworden.
Nach dem Ende der ersten psychotischen Episode läßt die Schizophrenie trotz Vielfalt der individuellen Verläufe im Durchschnitt keinen eindeutigen Trend mehr erkennen, weder zum Besseren noch zum Schlechteren. Die aktivste Phase der Krankheit ist der Frühverlauf. Er beginnt in drei Viertel aller Schizophrenien mit einer mehrjährigen Prodromalphase, bis es zum Auftreten des ersten Zeichens der Psychose kommt. Auch dann dauert es im Mittel noch rund ein Jahr, bis derzeit die Behandlung einsetzt. Die sozialen Folgen der Krankheit treten überwiegend bereits im Frühverlauf vor Behandlungsbeginn ein. Der soziale Entwicklungsstand, den ein Erkrankter in der ersten Krankheitsepisode erreicht hat, bestimmt deshalb wesentlich das künftig erreichbare soziale Niveau und damit den sozialen Verlauf der Krankheit. Bei frühem Ausbruch der Krankheit wird der soziale Aufstieg behindert. Es bleibt bei dem anfangs erreichten, meist niedrigen Entwicklungsstand. Im späteren, aber nicht im hohen Lebensalter kommt es bei hohem Ausgangsniveau zum sozialen Abstieg. Männer, die früher erkranken, sind von den sozialen Folgen der Schizophrenie stärker bedroht als Frauen, die bis zum Klimakterium durch Östrogen einen Schutz genießen, der zur Verzögerung des Krankheitsausbruchs führt. Allerdings holen Frauen die «aufgeschobene» Erkrankung nach dem Klimakterium nach. Diese Ergebnisse der jüngeren Schizophrenieforschung haben neue, ebenso dringliche wie hoffnungsvolle Aufgaben gestellt: die frühere Entdeckung, Erkennung und Behandlung der Krankheit. Ihr Ziel ist die Verhinderung oder Verminderung der bereits in der Frühphase eintretenden sozialen Folgen und der Versuch, dem Ausbruch der Psychose vorzubeugen oder mindestens den weiteren Verlauf der Krankheit abzumildern.
Wenn die Krankheit nach ihrem Frühverlauf in ein Stadium der Stabilität einmündet - das allerdings mehr oder weniger oft von psychotischen Episoden unterbrochen wird -, dann gelingt es auch schwerer Kranken, sich mit verständnisvoller Hilfe mit der Krankheit einzurichten und mit den erhaltenen Fähigkeiten die verbliebenen Lebensmöglichkeiten auszuschöpfen oder gar neue zu entwickeln. Auf lange Sicht [> 399] nimmt die leidvolle Dynamik der Krankheit im höheren Lebensalter, vor allem bei Männern, deutlich ab. Auch die Häufigkeit von Rückfällen der Psychose scheint zurückzugehen. Ein großes Problem für die Kranken und ihre Angehörigen ist derzeit noch in vielen Kulturen die soziale Stigmatisierung der Krankheit und die damit verbundene Diskriminierung in Beruf und Gesellschaft. Sie führen zu Einbußen an Prestige, zur Verminderung persönlicher und beruflicher Chancen und zur Gefährdung menschlicher Beziehungen bis hin zur Vereinsamung. Glücklicherweise sind gut vorbereitete Initiativen von mehreren Seiten in Gang gebracht worden - so etwa das Programm zur Bekämpfung von Stigma und Diskriminierung wegen Schizophrenie der Psychiatrischen Weltvereinigung -, die uns hoffen lassen.
Die Möglichkeiten der Behandlung der Krankheit haben sich seit der Einführung antipsychotischer Medikamente in den 50er Jahren deutlich weiterentwickelt. Die differenzierteren Kenntnisse der Angriffspunkte und der biochemischen Wirkprofile ermöglichen inzwischen, mit einer gezielten Anwendung der optimalen Wirkung nahezukommen. Heute kann eine psychotische Episode bei rund 80 % der Behandelten durch eine geeignete medikamentöse Therapie mehr oder weniger rasch beendet werden. Durch langfristige verläßliche Einnahme von Antipsychotika ist auch die Vorbeugung von Rückfällen mit erstaunlichen Erfolgsraten möglich. Die neue Generation antipsychotisch wirksamer Medikamente scheint mindestens teilweise bei wirksamer Dosierung seltener zu jenen unangenehmen Nebenwirkungen der Therapie zu führen, die sich in Form behinderter Beweglichkeit oder abnormer Bewegungsmuster des Körpers und der Mimik unangenehm bemerkbar machen und oft sogar das Aussehen der Kranken erheblich beeinträchtigen.
Eine Besserung der Negativsymptomatik und der mit ihr verbundenen kognitiven Defizite ist durch Medikamente bisher nur in bescheidenem Umfang erreichbar. Einige der neuen Substanzen führen auch zu einer leichten Verminderung negativer Symptome, sowohl in der Psychose als auch bei chronischen Verläufen. Aus der Hoffnung heraus, mit einer stärkeren Verminderung der Negativsymptomatik die Folgen der Krankheit und das Leid der Kranken mindern zu können, wird gegenwärtig an der Entwicklung oder Weiterentwicklung entsprechender Medikamente fieberhaft gearbeitet. Hier liegt ein wesentliches Stück Hoffnung. Andererseits ist kaum zu erwarten, daß der Kernbereich der kognitiven Defizite, der wahrscheinlich mehr oder weniger auf früh erworbene Hirnentwicklungsstörungen zurückgeht und durch die Psychose allenfalls vorübergehend verstärkt wird, mittels dieser Medikamente nachhaltig beeinflußt werden kann.
In der Entwicklung psychologischer Behandlungsmethoden der Schizophrenie sind ähnlich gewichtige Erfolge erzielt worden wie in der [>400] Fortentwicklung der Pharmakotherapie. Für die Behandlung von kognitiven Defiziten, Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen und der Negativsymptomatik insgesamt stehen grundlagennahe Trainingsmethoden zur Verfügung. Verhaltensstörung und Negativsymptomatik und besonders soziale Ängste und Defizite der sozialen Kompetenz sind sowohl durch systematische, alle betroffenen Lebensbereiche umfassende soziale Trainingsprogramme als auch durch kognitive Verhaltenstherapie erfolgreich behandelbar. In jüngerer Zeit ist es gelungen, wirksame Programme kognitiver Therapie gegen positive Symptome, wie Wahn und Halluzinationen, zu entwickeln, die sich vor allem bei medikamentös kaum angehbaren chronischen Wahnpsychosen bewährt haben.
Wegen der persönlichen Bürde, die Angehörige eines an Schizophrenie Erkrankten zu tragen haben, wegen der Bedeutung, die der persönliche Umgang in der Familie für den Kranken und den Verlauf seiner Krankheit haben, müssen die Angehörigen von Anbeginn an über die Krankheit, ihre Perspektiven und ihre Behandlung gründlich informiert werden. Im Regelfall sollen sie auch in die Behandlung einbezogen werden, wofür wiederum gut ausgearbeitete Therapieprogramme zur Verfügung stehen. Eine optimale Behandlung der Schizophrenie verlangt heute die Kombination einer medikamentösen Behandlung mit der niedrigsten voll wirksamen Dosis - möglichst ohne Nebenwirkungen - mit einer auf die besonderen Bedürfnisse des Kranken zugeschnittenen psychologischen Therapie. Bei überdauernden Beeinträchtigungen ist dann in der Regel eine längerfristige Rehabilitationsperiode unumgänglich.
Was ist Schizophrenie?
So weit zu Verlauf und Behandlung. Was aber ist Schizophrenie? Die Wahrscheinlichkeit, an einer Schizophrenie zu erkranken, steigt mit dem Grad der Verwandtschaft. Aber nicht jeder, der die genetische Disposition in sich trägt, entwickelt auch die vollausgebildete Krankheit. Von den Trägern gleicher Erbanlagen, den eineiigen Zwillingsgeschwistern schizophren Erkrankter, bleibt mehr als die Hälfte gesund, wenn auch nicht im vollen Sinne: Die Mehrzahl von ihnen und rund 20 bis 30 % aller Angehörigen ersten Grades entwickeln «Spektrumstörungen». Diese mehr oder weniger abgeschwächten Formen schizophrener Symptome zeigen sich in Gestalt von Persönlichkeitszügen, die sich auch in der Schizophrenie finden - etwa Kontaktstörungen, erhöhte Empfindsamkeit oder verminderte Gefühlsansprechbarkeit -, oder durch einige abgeschwächte negative Symptome und durch gleichartige Testbefunde. [>401]
Hier sind vor allem die Beeinträchtigung des Arbeitsgedächtnisses, Aufmerksamkeitsstörung, leichte Abnormalitäten der Augenfolgebewegungen und einige leicht abnorme neurophysiologische und psychophysiologische Merkmale zu nennen. Wir haben es also bei der Vererbung der Schizophrenie, mindestens auf der phänotypischen Ebene, d. h. der Ebene der beobachtbaren Symptome, mit einem ziemlich kontinuierlich verteilten Muster von schizophrenieähnlichen psychischen Störungen zu tun, wovon die Krankheit Schizophrenie offensichtlich die schwerste Störungsform darstellt. Auch die Krankheit selbst bricht meist nicht aus der Gesundheit heraus über Nacht aus. Normalerweise geht ihr eine langsame, oft mehrjährige Entwicklung mit Zunahme der Häufigkeit und Schwere der Symptome voraus. Die Symptome oder Störungsmuster der frühen Prodromalstadien entsprechen durchaus manchen abgeschwächten Krankheitsformen, die sich bei Angehörigen Schizophrener finden. Daraus ergibt sich eine spekulative Folgerung: Wenn es bei vorhandener genetischer Disposition zum Ausbruch der Krankheit kommt, kann der in Gang gesetzte Prozeß aus Gründen, die uns heute noch nicht bekannt sind, auch in einem frühen Entwicklungsstadium zum Stillstand kommen. Wenn dieser Abbruch des Krankheitsprozesses schon früh und auf der Ebene eines milden Störungsmusters erfolgt, dann kommt es zur Spektrumstörung. Wenn der Prozeß ohne Unterbrechung verläuft, entwickelt er sich bis in die vollausgebildete Psychose hinein.
Mit dieser Sichtweise gerät die Krankheit Schizophrenie an das ungünstige Ende einer kontinuierlichen Skala schizophrener Krankheitsprozesse und Symptommuster, an deren günstigsten Ende harmlose Varianten von Persönlichkeitszügen und Testprofilen stehen. Die Abtrennung einer Krankheit «Schizophrenie» nach den internationalen Diagnosekriterien von den leichteren Störungsmustern ist künstlich. Diese Konstruktion der Krankheit «Schizophrenie» ist nur durch die Orientierung am Ausmaß der Störung oder an der Schwere der Symptome gerechtfertigt, weil sie als solche einen vertretbaren praktischen Zweck verfolgt: Begründung von Prognose und Therapie.
Die dimensionale Sicht der Schizophrenie hat auf der molekulargenetischen Ebene durchaus eine hypothetische Entsprechung. Ein Hauptgen, das einen wesentlichen Teil des Krankheitsrisikos oder des Risikos bestimmter Unterformen erklären würde, konnte bisher nicht gefunden werden und ist auch kaum zu erwarten. Die bis heute identifizierten Genorte enthalten ausschließlich sogenannte Suszeptibilitäts- oder Risikogene. Sie leisten jeweils nur einen bescheidenen, nicht über einige Prozente hinausreichenden Beitrag zum Erkrankungsrisiko. Wahrscheinlich hängt das Risiko, eine Schizophrenie zu entwickeln, von der additiven Wirkung einer größeren Zahl von Risikogenen ab. Ob außer- [>402] dem hemmende oder fördernde Gene beteiligt sind, ist noch unbekannt, aber wahrscheinlich. Von diesen Befunden ausgehend, ist eine graduelle Abstufung der «genetic liability», des genetisch determinierten Risikos, zu erwarten, dem auf der phänotypischen Ebene das beschriebene Kontinuum mehr oder weniger schwerer Störungen entsprechen könnte.
Ein ähnliches Verteilungsmuster hat sich bei den strukturellen Anomalien, bevorzugt der Verminderung von Hirnsubstanz im Bereich der Schläfenlappen-Hippokampusregion, zwischen den von der Krankheit Betroffenen, ihren nächsten Angehörigen und der gesunden Bevölkerung nachweisen lassen. Zu einem Teil sind diese strukturellen Hirnveränderungen, die mit gehäuften Komplikationen in der Schwangerschaft und bei der Geburt zusammenhängen dürften, selbst erblich mit determiniert.
Die genannten strukturellen Hirnveränderungen bilden eine Brücke zwischen Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen einerseits und leichten Verzögerungen der neuromotorischen und kognitiven Entwicklung während der Kindheit und Jugend der später an Schizophrenie Erkrankenden andererseits.
Ist die Schizophrenie nun eine einheitliche, überwiegend genetisch determinierte Krankheit, die mit leichten embryonalen Hirnschäden und Hirnentwicklungsstörungen beginnt, sich in Kindheit und Jugend durch einige neuromotorische und kognitive Defizite und auffallendes Verhalten äußert und schließlich langsam fortschreitend mit einer Prodromalphase in der Psychose mündet? Die Argumente für und gegen dieses unitarische Krankheitsmodell sind zusammengetragen. Ich habe mich in Hinblick auf die fehlende Spezifität der Schwangerschafts- und Geburtskomplikation, der leichten Hirnanomalien und der motorischen und psychischen Entwicklungsstörungen in Kindheit und Jugend dagegen ausgesprochen. Dieselbe Kombination von Risikofaktoren findet sich, wie aufgezeigt, bei einer Reihe anderer psychischer Erkrankungen und selbst bei nicht - oder noch nicht - Erkrankten. Für die Annahme, es handele sich um ein und dieselbe Krankheit, die aus all den beschriebenen Vorstufen hervorgeht, gibt es kein geprüftes Modell, das alternative Erklärungen ausschließt oder wenigstens weniger wahrscheinlich machte. Ein erklärungsbedürftiger Aspekt der Hypothese einer einheitlichen Hirnentwicklungsstörung ist die lange Latenzzeit zwischen der embryonalen oder frühkindlichen Hirnschädigung und dem Ausbruch der Psychose. Die Anhänger der Hypothese erklären ihn mit der Annahme, das durch die Hirnschädigung bewirkte Entwicklungsdefizit habe eine begrenzte Bewältigungskapazität des Individuums zur Folge. Erst mit der Zunahme der Anforderungen bei Eintritt ins Erwachsenenalter komme es zum Scheitern, zur Dekompensation psychischer Funktionen in Gestalt der Psychose. Leider gibt es für diese Annahme, der [>403] die Häufigkeit von Spätschizophrenien und schizophrenieähnlichen Wahnpsychosen im hohen Lebensalter widerspricht, keine über die Erklärung der Auslösung von Rückfällen durch Belastungsfaktoren hinausgehenden empirischen Belege. Das zweite Argument geht auf Tierversuche zurück. Ratten, denen man als Neugeborenen die vorderen Abschnitte bzw. einen größeren Teil des Hippokampus entfernt hatte, waren in der «Kindheit» zunächst von den nicht operierten Tieren nicht unterscheidbar. Mit dem Eintritt ins «Erwachsenenalter» wirkten sie unruhig, zeigten ein schlechteres Gedächtnis und verminderte Gewöhnungsleistung bei Schreckreaktionen. Die Verfechter der Hypothese meinen, hier habe das geschädigte Gehirn erst nach dem Abschluß der Entwicklung seine funktionellen Mängel erkennen lassen. Der Schluß von erhöhter Laufleistung, verminderter Gedächtnisleistung und Habituation auf Schreckreize bei der Ratte zur menschlichen Schizophrenie ist gewagt. Eine solide Basis für den Beweis liefert er genausowenig wie alle bisher vorgetragenen Begründungen einer einheitlichen Hirnentwicklungsstörung «Schizophrenie». Vorerst empfiehlt sich, davon auszugehen, daß die vorgeburtlichen und geburtsnahen Komplikationen ebenso wie die leichten strukturellen Hirnanomalien ätiologische, aber unspezifische Risikofaktoren für das Auftreten einer schizophrenen oder schizophrenieähnlichen Symptomatik, aber auch noch für eine Reihe anderer psychischer Störungen sind.
Gegen das unitarische Krankheitsmodell Schizophrenie gibt es aber noch weitere Bedenken. Es ist durchaus fraglich, ob die beiden Komponenten der Krankheit: Psychose einerseits, negative Symptome und die mit ihnen verknüpften neuropsychologischen Defizite andererseits, zwingend zusammengehören und auf eine gemeinsame Ursache zurückgehen. Wie schon erwähnt, spricht vieles dafür, daß die leichten neuromotorischen oder psychologischen und neurophysiologischen Anomalien, die am Kranken gehäuft feststellbar sind, aus denselben Entwicklungsstörungen erwachsen, die von Kindheit an bei vielen später Erkrankenden nachweisbar waren. Es kann als sicher gelten, daß die Symptome von Hirnentwicklungsstörungen nicht mit dem Ausbruch der Krankheit oder unter modernen Behandlungsbedingungen verschwinden. Wahrscheinlich gehen sie zu einem wesentlichen Teil in das negative Syndrom ein. Auch diese Entwicklungsstörungen sind, wie erwähnt, nicht spezifisch. Sie treten als Vorzeichen oder in Kombination mit einer Reihe anderer psychischer Erkrankungen auf. Bei zunehmend schwerer Ausprägung sind sie mit Lernbehinderung und, in den schwersten Fällen, mit geistiger Behinderung verknüpft. Bei geringerer Ausprägung finden sie sich im Zusammenhang mit milden oder harmlosen Störungsmustern, etwa Hyperaktivität mit Aufmerksamkeitsstörungen oder Schreib-Lese-Schwäche. [>404]
Anders die Positivsymptomatik. Sie läßt weder Kontinuität noch eindeutige Herausentwicklung aus frühen Entwicklungsstörungen erkennen. Allerdings ist auch sie nicht auf die Schizophrenie beschränkt. Sie findet sich nicht nur als symptomatische Psychose bei einer Reihe anderer Hirnerkrankungen, sondern auch in beachtlicher Häufigkeit in der nicht an Schizophrenie erkrankten Bevölkerung. Risikofaktoren sind einerseits schwere Depressivität, andererseits beginnende degenerative Prozesse. Wahn und Halluzinationen sind beispielsweise außerhalb der Schizophrenie rund zehnmal häufiger anzutreffen als in der Krankheit.
Auch im Verlauf der Schizophrenie sind die beiden Krankheitskomponenten, die wir der Einfachheit halber auf Psychose und Negativsymptomatik reduzieren, nicht in einem homogenen Prozeß miteinander verbunden. Das Maß der negativen Symptomatik in frühen Stadien bestimmt mit hoher Wahrscheinlichkeit dasselbe Störungsmuster über den gesamten weiteren Verlauf, nicht aber die positiven Symptome oder die Häufigkeit psychotischer Episoden. Dagegen erlauben die Positivsymptomatik und die Frequenz der psychotischen Episoden, mit einiger Wahrscheinlichkeit den weiteren Verlauf der Psychose, nicht aber jenen der Negativsymptomatik vorherzusagen.
Schließlich sind beide Störungsmuster auch in unterschiedlichem Umfang genetisch determiniert: die reine Positivsymptomatik nur wenig oder nicht, der Komplex Negativsymptomatik, neuropsychologische und neurophysiologische Defizite wird dagegen zweifelsfrei genetisch übertragen.
Die Krankheit Schizophrenie nach konventioneller Diagnose ist also der Schnittpunkt beider Dimensionen, einer Dimension Negativsymptomatik und neuropsychologischer und neurophysiologischer Defizite und einer Dimension Psychose. Auf beiden Dimensionen findet sich außerhalb der Diagnose Schizophrenie eine ungleich größere Zahl von überwiegend leichteren bis harmlosen psychischen Störungen. Handelt es sich also bei der Schizophrenie um ein zufälliges, in der Tradition der Psychiatrie konserviertes Zusammentreffen der beiden Dimensionen oder besteht ein überzufälliger Zusammenhang zwischen ihnen? Tatsächlich erhöht ein bestimmtes Ausmaß von Hirnentwicklungsstörungen oder negativer Symptomatik mit einiger Wahrscheinlichkeit das Auftretensrisiko positiver Symptome bis hin zu psychotischen Episoden. Das zeigt sich beispielsweise bei der jeweils größeren Häufigkeit positiver Symptome bei gesunden Personen, Depression und mit negativen Symptomen diagnostizierten Schizophrenien in epidemiologischen Bevölkerungsstudien.
Die Frage, was diesen Zusammenhang exakt vermittelt, ist noch nicht voll beantwortbar. Eine der möglichen Hypothesen geht von der [>405] Annahme aus, daß ein Zentrum für kritische Realitätskontrolle von inneren Gedanken und Phantasien im Gehirn - wahrscheinlich im Hippocampus - bei schizophren Erkrankten nicht hinreichend funktioniert. Es ist denkbar, daß die zur Psychose disponierende Fehlfunktion bei den Hirnentwicklungsstörungen in diesem Bereich angesiedelt ist. Natürlich entspricht dieser vereinfachten neurobiologischen auch eine psychologische Betrachtungsweise. Es muß auch auf der psychologischen Ebene eine individuell unterschiedlich ausgeprägte Fähigkeit zur kritischen Bewertung eigener Gedanken und Phantasien an der erinnerten oder aktuellen Wahrnehmung von Wirklichkeit geben: Die ursächlichen Faktoren dazu könnten auch in der Lerngeschichte des Individuums zu suchen sein, die sich durchaus auch in der Hirnentwicklung niederschlagen kann.
Irreale Wahrnehmungen und Überzeugungen wie Halluzinationen und Wahn sind, wie schon mehrfach erwähnt, in der Bevölkerung häufig anzutreffen. Man findet sie häufig auch in der schöngeistigen Literatur, vor allem in Werken, die wirklichkeitsüberschreitende mystische oder esoterische Inhalte aufweisen, etwa bei John Blake oder Swedenborg. Dort werden übersinnliche Erfahrungen wie Stimmen, Eingebungen und Visionen lebendig beschrieben. Im Altertum und im Mittelalter, als Stimmen, Visionen und Träume im religiösen Kontext weit verbreitet waren, hatten solche Realitätsüberschreitungen kulturspezifische, funktionale Ziele: Sie konnten verbotene oder ketzerische Gedanken als Stimmen aus dem Jenseits an die Ohren der Herrschenden und unters Volk bringen.
Psychologische Anfälligkeit für Wahn und Halluzinieren jeder Art - was nicht gleich «Schizophrenie» bedeutet - kann offensichtlich außer durch einen förderlichen kulturellen Kontext auch durch eine individuelle psychologische Dimension vermittelt werden. Die Neigung derjenigen jungen Menschen, die im Erwachsenenalter eine Schizophrenie entwickeln, sich von ihren Mitmenschen abzuwenden, Phantasien oder Tagträumen nachzuhängen, könnte durchaus zweierlei zur Folge haben: erstens, daß den eigenen Gedanken und Gefühlen vergleichsweise starke Beachtung und größere innere Kraft zugewendet werden und zweitens, daß die Zuwendung zur gemeinsamen mitmenschlichen Wirklichkeit auf diese Weise geschwächt werden könnte. Aus der gemeinsamen Wirklichkeit heraustretende Überzeugungen und irreale Wahrnehmung könnten dadurch erleichtert, die kritische Bewertung an der Realität geschwächt werden.
Die Übergänge von solchen Persönlichkeitsfaktoren und Entwicklungsprozessen in wahnhafte Reaktionen und schließlich in schizophrene Psychosen hat Ernst Kretschmer an beispielhaften Biographien lebendig beschrieben. Er hat die Entstehung solcher Wahrnehmungsverzer- [>406] rungen aus Reaktionsdispositionen der Persönlichkeit und Verstrickung der Kranken in tiefgehende, ziemlich spezifische Lebenskonflikte gut nachvollziehbar dargestellt. Später hat er auch die erfolgreiche Psychotherapie einiger solcher Wahnerkrankungen beschrieben. Nur die entwicklungsbiologischen und hirnmorphologischen Veränderungen und ihre funktionellen Korrelate als substantielle Risikofaktoren waren ihm noch nicht bekannt.
Ein bedeutsamer Risikofaktor für die im höheren und hohen Alter stark gehäuft auftretenden paranoiden Wahnentwicklungen - die traditionell meist nicht als Schizophrenie diagnostiziert werden - ist eine paranoide Persönlichkeit. Ihr wesentliches Kennzeichen ist die Attribution - die Psychoanalyse nennt dies Projektion - aller belastenden, unangenehmen Gedanken und Erfahrungen nach außen, ein psychologischer Vorgang, der das eigene Ich entlastet. Allerdings gerät das Ich damit gegenüber einer negativ oder feindselig bewerteten Umwelt rasch in die Opferrolle. Meist endet eine solche paranoide Reaktion nach einiger Zeit auch ohne Behandlung, soweit die Wahrnehmung der entgegenstehenden Wirklichkeit wieder gelingt. Voraussetzung dazu ist, daß der Betroffene über ein hinreichendes Maß an Selbstkritik und über vertrauensvolle menschliche Beziehungen verfügt, die ihm erlauben, die verlorene Einbettung in die Gemeinschaft und die Wahrnehmung der mitmenschlichen Wirklichkeit wiederzugewinnen. Fehlt dieser Zugang zur korrigierenden Erfahrung wegen Kontaktmangel und, besonders im Alter, wegen kognitiver Beeinträchtigung, Einsamkeit oder erheblicher Hörbehinderung, so ist das Risiko eines chronischen Wahns erhöht.
Kognitive Beeinträchtigung, Einsamkeit und Sinnesbehinderung sind im höheren Lebensalter die wichtigsten Risikofaktoren für Wahnkrankheiten und für Schizophrenie. Die genetische Übertragung tritt als Risikofaktor der Wahnkrankheiten im Alter eindeutig zurück. An die Stelle der kognitiven Beeinträchtigung und der Hirnentwicklungsstörung als Risikofaktoren für Schizophrenie im jüngeren Lebensalter treten die degenerativen Hirnveränderungen und die mit ihr verbundenen leichten kognitiven Defizite. Die Reaktionsmuster Negativsymptomatik, oft überlagert von der kognitiven Beeinträchtigung beginnender Hirnabbauprozesse, und psychotische Wirklichkeitsverzerrung sind im wesentlichen gleichgeblieben, sieht man von einer Verminderung der Symptomzahl bei den Späterkrankungen und von einigen wenigen alters- und entwicklungsabhängigen psychotischen Symptomen ab.
Wenn die Hypothese zutrifft, daß das Versagen einer kritischen Realitätskontrollfunktion wesentlich zur Verwandlung innerer Gedanken, Phantasien, Bedürfnisse und Ängste in Halluzination, Wahn oder andere psychotische Symptome beiträgt, sind die unterschiedlichen Risikofaktoren zwischen früh- und spätausbrechenden Wahnpsychosen nur [>407] nach ihrer Ursache und nicht funktionell verschieden. Der biologische Risikofaktor einer gestörten Realitätskontrollfunktion ist bei den frühausbrechenden Erkrankungen durch Entwicklungsstörungen, bei den spätausbrechenden durch degenerative Veränderungen vornehmlich in denselben Hirnregionen bedingt. Der psychologische Prozeß der Entstehung von Wahn und Halluzinationen, nämlich die dysfunktionale Bewältigung belastender innerer oder äußerer Erfahrungen oder Bedürfnisse, weist in beiden Altersperioden Unterschiede auf. Während bei den frühausbrechenden Erkrankungen wahrscheinlich die beeinträchtigte Filterfunktion der Wahrnehmung zusammen mit persönlichkeitsbedingt verringertem Bezug zur sozialen Wirklichkeit eine Rolle spielen dürfte, sind es im Alter die paranoide Persönlichkeit und die Schwächung der in der sozialen Wirklichkeit verankerten kritischen Realitätskontrollfunktion durch beginnende kognitive Beeinträchtigung und Sinnesdefekte. Die Symptome Wahn und Halluzination können im Alter auch als Steigerungsform eines Attributionsstils, einer Form der Erlebnisverarbeitung, interpretiert werden, die in milderer Form die paranoide Persönlichkeit kennzeichnet. Es ist allerdings auch nicht unwahrscheinlich, daß die Symptome Wahn und Halluzination auch in der Krankheit Schizophrenie trotz ihrer Einbettung in ein komplexes neurobiologisches Störungsmuster eine ähnliche dysfunktional entlastende Funktion haben wie bei den paranoiden Wahnerkrankungen. Der Ausbruch von Phantasien und Gedanken in eine schützende oder wunscherfüllende Irrealität dient allerdings nicht nur der Entlastung von schwer erträglichen Mängeln, Schwächen und Schuldgefühlen in projektiver Externalisierung auf die äußere Welt, sondern auch der Kompensation von Erfahrungen der Unterlegenheit oder Hilflosigkeit. Allerdings ist die externalisierte Erlebniswelt auch für beunruhigende, angstvolle und mitunter entsetzliche Gedanken und Gefühle geöffnet.
Unter diesen Perspektiven wird deutlich, daß Wahn und Halluzinationen ein Tor zum tieferen Verständnis des Kranken öffnen. Im Wahn und in den Sinnestäuschungen werden Visionen und Hoffnungen des Kranken, werden seine Nöte, seine Zerrissenheit und sein Vertrauen auf Hilfe meist deutlicher sichtbar als in der «normalen» oder der durch die Krankheit verschlüsselten Kommunikation. In diesen Zusammenhängen läßt sich gut nachvollziehen, weshalb auch in der Schizophrenie Wahn und Halluzinationen unter Schutz der erhöhten Verletzbarkeit des Kranken einer erfolgreichen psychologischen Behandlung zugänglich sind.
Die aufgezeigten Interaktionen biologischer und psychologischer Faktoren, die funktionale Verknüpfung mehrerer Ebenen von der Molekulargenetik bis zur Kognitionspsychologie lassen die einseitig neurobiologischen oder psychogenetischen Erklärungsmodelle der Schizophrenie angesichts des erreichten Wissensstands als naiv erscheinen. Mit den [> 408] stark vereinfachten Folgerungen aus den Ergebnissen der neueren Schizophrenieforschung ist außerdem nicht mehr und nicht weniger verbunden als die Verabschiedung von einem einheitlichen Krankheitsmodell Schizophrenie. Geblieben ist das gemeinsame Vorkommen von ausgeprägten Störungen am Schnittpunkt zweier Dimensionen, des negativen Syndroms als Gipfel des Eisbergs neuropsychologischer und neurophysiologischer Entwicklungsstörungen und der zweiten Dimension verzerrter äußerer und innerer Wahrnehmung, der Psychose. Die traditionelle Diagnose Schizophrenie umfaßt einen größeren Ausschnitt der beiden Dimensionen an diesem Schnittpunkt. Jenseits jener Schwelle, die durch die diagnostischen Kriterien gezogen wird, schließt sich auf beiden Dimensionen eine wesentlich größere Zahl von leichteren Störungsmustern ähnlicher Art bis hin zu harmlosen Normabweichungen an. Die relative Eigenständigkeit der beiden Krankheitsdimensionen hinsichtlich Risikofaktoren, Erscheinungsbild und Verlauf und die Verschiedenartigkeit wirksamer Therapieverfahren läßt es geraten erscheinen, den Blick über die Grenzen der Diagnose hinaus auf die der jeweiligen Dimension zugehörigen leichteren, aber durchaus auch hilfebedürftigen Störungsmuster zu öffnen. Eine moderne Diagnostik der vielfältigen «schizophrenen» Störungsmuster ginge besser von der jeweils eigenen Beurteilung von Art, Ausmaß, Dauer und Frequenz des Auftretens von Symptomen auf der Psychose-Dimension einerseits, von Symptomen und Beeinträchtigungen auf der neuropsychologischen Dimension und der Negativsymptomatik andererseits aus als alleine von der diagnostischen Verpackung eines heterogenen Konglomerats «Schizophrenie».
Für die Menschen, die von Schizophrenie betroffen sind, ist es hilfreich zu wissen, daß sie nicht an einer geheimnisvollen, von ihren Ursachen her unbekannten Krankheit leiden, sondern an einer Disposition, die sie mit vielen anderen Menschen gemeinsam haben, und zudem an einem Reaktionsmuster, das durch diese Disposition, aber nicht alleine durch sie hervorgerufen wird. Dieses Reaktionsmuster Psychose ist nicht nur geeigneten medikamentösen oder kognitiv-therapeutischen Maßnahmen, sondern auch der eigenen Einsicht wesentlich besser zugänglich als die auf leichte Hirnentwicklungsstörungen oder leichte degenerative Hirnveränderungen zurückgehende und durch psychologische Behandlungsmaßnahmen beeinflußbare Dimension neuro-psychologischer Beeinträchtigung und Negativsymptomatik.
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