Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=23.02.2002
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 08.10.16
Impressum:
Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
Stubenlohstr.
20 D-91052 Erlangen Mail:_sekretariat@sgipt.org_Zitierung
& Copyright
Anfang_J
Antizipierte Scham_
Überblick_
Rel.
Aktuelles_
Rel.
eständiges_
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_ _ Wichtige
Hinweise Links u. Heilmittel_
Willkommen in der Abteilung Geschichte
der psychologischen Heilmittel-Lehre & Heilmittel-Monographien der
Allgemeinen und Integrativen Psychotherapie, hier:
Selbstmordverhütung
durch
JAntizipierte
JScham
JVermeidung
aufgrund eines öffentlichen politisches Dekretes
Die Selbstmordepidemie der Jungfrauen von Milet
Übersicht Heilmittellehre und Heilmittel-Monographien
* Literaturhinweis *
Symbolik
Heilmittelgraphik
* Ausführlich
zur Terminologie.
mitgeteilt von Rudolf Sponsel, Erlangen
Hervorhebungen und Funktor-Zuordnung (J,
t
) durch Sponsel
Die Geschichte
nach Dubitscher (In: Zwingmann,
Hrsg. S.5)
"PLUTARCH berichtet von dem epidemischen Suicid der Mädchen von
Milet, so daß der Staat gesetzlich anordnen mußte, die erste,
die wieder Hand an sich legte, würde Jnackt
auf dem Markt ausgestellt. Interessanterweise hatte diese JAndrohung
vollen Erfolg. Die JScham
oder JFurcht
vor
dem JSchimpfwar
also stärker als die tHemmung
vor der tSelbstaufgabe."
Die Geschichte nach
Watzlawick (In: Schweitzer
et al. S. 91-92)
"Plutarch berichtet bereits von einem ähnlichen, hochinteressanten
Vorfall. In der kleinasiatischen Stadt Milet war eine Selbstmordepidemie
unter jungen Frauen ausgebrochen. Dem Rate eines weisen Mannes folgend,
erließen die Behörden ein JDekret,
wonach die Jnackten
Körper dieser Frauen auf dem Marktplatz auszustellen
waren.
Aufgrund dieser Entscheidung hörte die Epidemie praktisch über
Nacht auf. Sie sehen also wieder: vom konstruktivistischen Gesichtspunkt
her handelt es sich eigentlich um eine JUmdeutung.
Und der Erfolg war fast unmittelbar."
Die Geschichte
bei J. C. Reil (1803, 354f)
wie folgt:
"Endlich kann auch das Beispiel und die tNachahmung
dahinführen. Daher er endemisch und epidemisch seyn kann. Die Mädchen
von Miletus hingen sich haufenweise auf, nicht aus Lebensüberdruß,
sondern wegen einer Art von tSchwärmerey,
in der sie ihre Glückseligkeit fanden *).
Primerose
erzählt von einem ähnlichen Fanatismus, der zum Ersäufen
verleitete. Eine Kindermörderin wurde von dem Geistlichen
tfeierlich
zum Tode vorbereitet, dies wirkte so sehr, dass der Kindermord sich mehrte,
und man die Todesstrafe abschaffen rnußte, um ihm zu
Jsteuren,
In diesem Fall helfen Jangedrohte
Beschimpfungen der Selbstmörder nach dem Tode, die das JEhrgefühl
in Anspruch nehmen; dessen falsche Richtung den Selbstmord förderte.
Die Schwärmerey der miletischen Mädchen hörte auf, als der
Staat das JGesetz
bekannt machte, daß die erste Selbstmörderin nackt auf den Gassen,
ausgestellt werden sollte. Ich habe verschiedene Fälle gesehen, daß
Kranke dieser Art nach einem Jmißlungenen
Versuch, z. B. nach einer nicht tödtlichen Verwundung, nie
einen neuen wagten, und ganz von dieser fixen Idee geheilt waren."
Heilmittelanalyse
und Interpretation
aus allgemein-integrativer Sicht
_
_
So lange der Fall auch her ist und welches Jahrhundert oder Jahrzehnt
ihn auch betrachten mag, so erstaunlich klar und einmütig sind die
unterschiedlichen Deuter und Interpreten. Ob der Arzt und Psychologe Johann
Christian Reil 1803, der Suizidforscher F. Dubitscher 1965 oder der systemische
Kommunikationstherapeut Watzlawick 1994, alle sind sich darüber einig,
daß eine J
schambesetzte J
antizipatorische J
Vorstellung im Zusammenhang mit dem intensiven Wunsch, den J
stark aversiv wirkenden Reiz öffentlich zur Schau gestellt zu werden,
zu J
vermeiden, die durchschlagenden Heilmittel waren, so daß die Selbstmordepidemie
ganz plötzlich aufhörte. Dies zeigt sehr eindringlich, wie wichtig
auch öffentliche Maßnahmen sein können. Heilmittel können
demnach auch politische, soziologische oder juristische Maßnahmen
sein. Der kühne und scharfsinnige Reil geht 1803 noch weiter und erkennt
die Störungsfunktoren "feierliche öffentliche Prozedur" (anläßlich
einer Hinrichtung!) und schmerzhafte Erfahrung nach Misslingen eines Selbstmordversuches.
An diesem Beispiel zeigt sich auch sehr schön die Doppelnatur aller
potentiellen Heilmittel, genau an der Vermeidung. Vermeidung ist im allgemeinen
als Störungsfunktor t
, der der Aufrechterhaltung von unangenehmen inneren Zuständen wie
t
Angst, t Unsicherheit
oder t
Hemmung dient. Hier wirkt der starke Vermeidenswunsch als Heilmittel J.
Ob ein psychischer oder anderer Sachverhalt also
Heilmittel "ist" oder nicht, hängt ganz vom Einzelfall, von den Zielen
und Zwecken der Betroffenen und der betrachteten speziellen Situation ab.
Das ist ein Hauptsatz
allgemeiner und integrativer Psychotherapie, quantitativ eindimensional
einst von Paracelsus um 1525,
qualitativ differenziert von Reil
1803, Löwenfeld
1897, Wyss
1982 und relativistisch- potentialistisch verallgemeinert
von Sponsel 1995.
_
Literatur:
Dubitscher,
F. (1965). Der Suicid. Historischer Überblick. In: Zwingmann, Ch.
(1965, Hrsg.), S. 5-12.
Löwenfeld,
L. (1897). Lehrbuch der gesammten Psychotherapie. Wiesbaden: Bergmann.
Schweitzer,
J. et al. (1994, Hg.). Systemische Praxis und Postmoderne. Frankfurt: Suhrkamp.
Watzlawick, Paul (1994). Berufskrankheiten« systemisch-konstruktivistischer
Therapeuten. In (S. 91-92) Schweitzer,
J. et al. (1994, Hrsg.).
Wyss,
D. (1982, Hg.). Der Kranke als Partner. Lehrbuch der anthropologisch integrativen
Psychotherapie. Band 1. Dokumentation und diagnostisch-therapeutischer
Fragenkatalog. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Zwingmann,
Ch. (1965, Hrsg.). Selbstvernichtung. Frankfurt: Akademische Verlagsgesellschaft.
*) Plutarchus de virtute
mulierum T. II