Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=06.10.2003
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 13.01.14
Impressum:
Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20
D-91052 Erlangen
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Strafe_
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Willkommen
in unserer forensisch-psychologischen Abteilung, Bereich Strafe, hier zum
Thema:
Allgemeine und integrative Psychologie der Strafe
Wozu taugen Strafen, was setzt ihre Wirksamkeit voraus,
wie funktionieren sie?
von Rudolf Sponsel, Erlangen
_
I. Teil: Grundlagen
Definition Strafe
Strafen (S) heißen absichtlich herbeigeführte
Ereignisse, die zu unangenehmen inneren Zuständen (-Z) führen,
die Betroffene im allgemeinen vermeiden möchten. [s.a. Rückert]
Ob eine Maßnahme also eine Strafe im psychologischen Sinne ist,
hängt ganz davon ab, ob die Maßnahme zu unangenehmen inneren
Zuständen führt, die der so Bestrafte nicht vermeiden kann. Darauf
hat Lewin [1890-1947] schon hingewiesen. |
Zu
den lernpsychologischen Interpretationen von Strafen
Man "sieht" dieser Definition sofort an, daß es eine enge psychologische
Verwandtschaft zwischen beliebigen Ereignissen, die mit unangenehmen inneren
Zuständen verknüpft ("attribuiert") werden und dem Erlebnis "Strafe"
(S) gibt. Von daher ist es naheliegend, daß unangenehme
innere Zustände allgemein als Strafe aufgefaßt und gedeutet
werden können.
Ist eine Handlung (H) oder Unterlassung (U) zugleich mit einer Strafbefürchtung
(Sb) verbunden, ergibt sich ein Konflikt: man möchte H bzw. U, aber
nicht S. Häufig läßt sich aber gar nicht abschätzen,
ob und wie sehr Z- (unangenehme innere Zustände) zu befürchten
sind.
Damit eine Strafandrohung tatsächlich wirkt, muß sie einerseits
vergegenwärtigt
und vor-gefühlt werden können. Betroffene müssen
sich emotional vorstellen können, was geschehen kann,
wenn sie dieses tun oder jenes lassen. Strafandrohungen können also
vermutlich nur dann psychologisch wirken, wenn es so etwas
wie ein emotionales Strafwirkungsgedächtnis (ESWG) gibt,
das im konkreten Fall auch in Aktion tritt. Das ist keineswegs selbstverständlich.
Denn die meisten Psychen der Menschen streben danach, unangenehme innere
Zustände zu vermeiden. Hierfür haben sie eine ganze Reihe von
Mechanismen, Methoden und Techniken entwickelt, besonders die sog. Neutralisations-
oder Abwehrmechanismen, die das ESWG (emotionale Strafwirkungsgedächtnis)
schwächen oder ausschalten und damit weniger bis unwirksam machen
können. Andererseits muß die Strafandrohung auch für realistisch
eingeschätzt, sozusagen ernst genommen werden können, sonst nutzt
auch das bestentwickelte ESWG (emotionale Strafwirkungsgedächtnis)
nichts, weil eine echte Bedrohung fehlt.
Damit Strafe also eine sozialpsychologische und soziologische Kontrollfunktion
ausüben kann müssen folgende - vermutlich nur notwendige oder
günstige - psychologischen Bedingungen erfüllt sein:
Psychologische
Bedingungen wirkungsvoller Strafe
-
Strafe muß vor-gefühlt werden können
-
Strafe muß daher eine reale Erlebnisgrundlage (Straferfahrung)
besitzen
-
Strafe muß vergegenwärtigt ("aktualisiert"), also emotional
vorgestellt werden (können)
-
Abwehr- und Neutralisationsmechanismen
dürfen nicht zu sehr wirken
-
die Strafandrohung muß als realistisch
("echt") aufgefaßt werden, man muß mit ihr rechnen können
-
zwischen Handlungsbedürfnissen und Strafbefürchtung muß
ein Zusammenhang hergestellt werden können, wenn auch nicht unbedingt
ein bewußter.
-
Günstig kann es auch sein, wenn andere Alternativen zur Befriedigung
der mit Strafe bedrohten Handlungsbedürfnisse wahrgenommen werden
können.
[Anmerkung zum Begriff sinnvoller Strafe]
|
Ob Strafen in der gewünschten Weise funktionieren, muß im
Einzelfall empirisch untersucht werden. Vielfach scheinen sie nicht in
der gewünschten Art zu funktionieren, also nicht die pädagogische
Wirkung zu haben, die man sich von ihnen verspricht. Vernünftig und
wirkungsvoll strafen im Sinne der jeweiligen pädagogischen Ziele erscheint
daher eine hohe praktische Kunst, die für den jeweiligen Einzelfall
gelernt und wirkungserprobt ("evaluiert") sein will.
Strafmotive - Ziele
von Strafen
Warum strafen Menschen, Institutionen und Gesellschaften? Geißler
kommt in seinem Werk "Erziehungsmittel" im Kapitel Die
Strafe zu folgenden Motiven und Gründen (Straf-Funktionen):
Die Funktionen bei Geißler lassen sich in die zwei Hauptfunktionen,
Rechts- und Erziehungsfunktion, zusammenfassen. Der Vollständigkeit
halber müssen wir aber leider auch die pathologischen Funktionen erfassen,
dies führt zu folgenden Hauptmotivationsklassen:
-
Rechtsfunktion: Vergeltung, Rache, Recht, "Gerechtigkeit" walten lassen:
"wie du mir, so ich dir"
-
Erziehungsfunktion: Erziehung zu Tun und Lassen (Verhaltenskontrolle, Abschreckung)
-
Machtfunktion: Lust am Machtgefühl; Lust am Leid machen können
(pathologische Funktionslust)
-
Sadismusfunktion: Befriedigung und Lust am Leiden anderer.
-
Masochismusfunktion: Lust und Befriedigung am eigenen Leiden (Schmerz)
|
Exkurs I: Die Selbstbestrafung
Gibt es das: Selbstbestrafung? Und wie läßt sich solch eine
doch eher seltsam anmutende Erscheinung verstehen? Widerspräche ein
solches Phänomen nicht obiger, grundlegender Definition?
Kann es also überhaupt eine Selbstbestrafung per definitionem
geben oder ist das nicht ein Widerspruch in sich wie etwa ein eckiger
Kreis? Nach obiger Definition gehört zur Bestrafung die Absicht.
Unbewußte Selbstbestrafungen sind daher per definitionem nicht möglich.
Hier müßte ein anderes Wort verwendet werden, z.B. Selbstschädigung.
Andererseits kennen wir aus der Psychopathologie das selbstverletzende
oder autoaggressive Verhalten, das meist mit vollem Bewußtsein und
Absicht geschieht. Menschen schlagen mit dem Kopf gegen die Zellwand, quälen,
ja verstümmeln sich sogar. All diese auf den ersten Blick seltsamen
und unverständlich anmutenden Phänomene sind gut geeignet, unser
Verständnis von der Komplexität und Kompliziert der Strafe, ihrer
Bedingungen und Wirkungen zu verbessern und zu vertiefen.
In Guss
(1979, S. 107-110) gibt es einen kleines Abschnitt zur Selbstbestrafung,
in dem er Mowrer (1947) das Privileg zuerkennt, als erster das Phänomen
der Selbstbestrafung (vicious-circle-behavior, self-punishment) wissenschaftlich
behandelt zu haben. Die Interpretationen erscheinen mir aber wenig einleuchtend.
Richtig ist, daß in den Ratten- Experimenten von Mowrer lerntheoretisch
betrachtet ein Unvermögen im Unterscheidungslernen (Diskrimination)
vorlag. Die starre Konditionierung durch den elektrischen Stromschlag,
den die Ratten erhielten, auf das Rennen an das andere Ende des Käfigs,
können sie in unterschiedlichen Folgeversuchen nicht mehr unterscheiden
lernen und behalten den einmal konditionierten Fluchtweg bei. Das kann
mehrere Gründe haben, z.B.: die Bestrafung war zu prägend intensiv,
der zeitliche Abstand oder die Neulernphase zu kurz. Dies ist nach Mowrer
eine Teufelkreis oder Unentrinnbarkeitssituation. Und dies erinnert allerdings
sehr an die Gefängnissituation, die für nicht wenige InsassInnen
auch Teufelkreischarakter hat und meist auch eine Unentrinnbarkeitssituation
ist. Wenn in solchen Situationen Unterscheidungslernen (Diskriminationslernen)
besonders erschwert ist, muß auch Resozialisierungslernen und der
spezifische Wirkungssinn der Strafe schwer zu lernen sein, d.h. das Lernen
irrationalen und selbstschädigenden Verhaltens wird in der Gefängnissituation
u.U. besonders gefördert und das, worauf es gerade ankommt, nicht
oder zu wenig. Guss (1979, S. 108) bezeichnet sich selbst bestrafende Menschen
als desintegriert und seelisch krank.
Als radikalste Form der 'Selbstbestrafung' kann
- zumindest teilweise - der Selbstmord - im Gegensatz zum Freitod
- angesehen werden. Symbolisch metaphorisch können auch seelisch-geistig
bedingte oder mitbedingte Erkankungen unter der Arbeitshypothese Selbstbestrafung
betrachtet werden.
Exkurs II: REGELN
ZUR BEACHTUNG IN DER VERHALTENSTHERAPIE
Nach Becker,
Wesley, C. (dt. 1974) S.169:
-
Wirksame Strafe muß sofort erfolgen.
-
Wirksame Strafe stützt sich auf den Entzug von Verstärkern und
sieht eine klar umrissene Methode vor, diese zurückzugewinnen.
-
Wer wirksam bestrafen will, gibt zuerst ein Warnsignal ab, meistens in
Form von Worten.
-
Wirksame Strafe wird am besten in einer ruhigen, sachlichen Weise vollzogen.
-
Wirksame Strafe geht einher mit viel Verstärkung für Verhaltensweisen,
die nicht mit dem bestraften Verhalten vereinbar sind.
-
Wirksame Strafe ist anhaltend konsequent. Es erfolgt keine Verstärkung
für das bestrafte Verhalten.
|
II. Abschreckung
Unter welchen Bedingungen können Strafen eine abschreckende Wirkung
entfalten? Was bedeutet psychologisch abschrecken? Nun, Handlungsbedürfnisse,
von denen abgeschreckt werden soll, müssen mit abschreckenden
affektiven Vorstellungen (aaV) verbunden sein, die
mehr oder minder aktuell oder schon gewohnheitsmäßig Blockierungen
oder Hemmungen hevorrufen. Zwischen Strafbefürchtung
und Handlungssystem müssen also blockierende oder hemmendeVerbindungen
(Assoziation, Konditionierung) bestehen. Das könnten z.B. Gedanken
sein wie z.B.: das geht schief; das kann ich nicht gut genug; das ist
viel zu gefährlich; das ist viel zu unsicher; das ist zu riskant;
es lohnt sich nicht; wie stehe ich da, wenn ich erwischt werde u.ä.
Noch wirksamer wären entsprechende blockierende oder hemmenden Gefühle
wie z.B.: Hemmung, Angst, Unsicherheit, Versagenserwartung, Zweifel,
Entwertungsgefühl, vorweggenommene Enttäuschung u.ä..
Die Vorstellung der Handlungsbedürfnisse, die abgeschreckt werden
sollen, ruft negative Gedanken und negative Gefühle oder Stimmungen
hervor. Eine solche Wirkung kann, wie oben ausgeführt, nur dann eintreten,
wenn zwischen dem negativen Erleben und den abzuschreckenden Handlungsbedürfnissen
ein Zusammenhang hergestellt werden kann. Dieser Zusammenhang bewirkt,
daß die Handlungsbedürfnisse unterdrückt werden, um dieser
mit ihnen verbundenen geistigen und gefühlsmäßigen Mißbefindlichkeit(serwartung)
zu entgehen Geschieht dies oft und nachhaltig, wird ein bestimmtes
Lassen unerwünschter Handlungen als Gewohnheit entwickelt. Man lernt
lassen oder bestimmte Handlungen nicht auszuführen eben durch so
und so oft lassen und nicht ausführen.
III.
Was bedeutet eine Gefängnisstrafe psychologisch ?
Obwohl man annehmen sollte, daß die Strafjustiz etwas vom Strafen
verstehen sollte, ist es geradezu erschütternd, zu erkennen, wie wenig
JuristInnen von dem verstehen, was sie anderen Menschen verordnen. Man
muß feststellen, daß die Strafjustiz vom Strafen und seiner
vielfältigen Funktion und Problematik nicht nur keine wirkliche Ahnung
hat, sondern sich dafür auch meist gar nicht interessiert - außer,
daß man wohl überwiegend erkennt, daß Straf- und Resozialisierungsfunktion
sich widersprechen (siehe unten).
Das Wort Gefängnisstrafe (Singular) suggeriert,
als ob das Einsitzen in einem Gefängnis eine Strafe
sei. Doch dem ist nicht so. Im Gefängnis einsitzen ist eine andere
Lebensform, und zwar eine, die den den gesamten Alltag und die gesamte
Einsitzzeit umfasst. Das Gefängnisleben bestimmt daher den ganzen
Menschen in seiner Vielfalt, Erlebensfähigkeit und Erfahrung. Gefängnis,
das ist eine eigene, umfassende Welt, der der Gefangene ausgesetzt ist:
eine sehr komplexe und komplizierte Erfahrung. Während eines Gefängnisaufenthaltes
geschieht sehr viel, wenn auch sozialpsychologisch meist eher wenig Vernünftiges
oder Erwünschtes, so daß nicht wenige das Gefängnis nicht
sozialer und tugendhafter verlassen, sondern eher gegenteilig, nur besser
versteckt und verpackt und nicht selten auch ausgeprägter und tiefer
kriminell. Die Möglichkeiten sind im Gefängnis sehr groß,
Ungerechtigkeit, Niedertracht und Entwertungen sehr umfangreich und nachhaltig
zu erleben, aber auch kriminelles Verhalten zusätzlich zu lernen oder
zu festigen. Haß, Wut und destruktive Bedürfnisse können
vielfältig und nachhaltig auf- und ausgebaut werden. Doch im Gefängnis
werden auch positive Gefühle, Stimmungen und Befriedigungen erlebt,
die mit dem Leben, Überleben und Alltag im Gefängnis notwendigerweise
einhergehen. Die Erfahrungen und Erlebnisse sind also sehr vielfältig
und widersprüchlich. Jemand kann sich sehr schnell anpassen oder das
Gefängnis sogar als sorgenfreies "Überwintern" ansehen während
andere es mit schwerer Entwertung, Demütigung, Verzweiflung oder Scham
erleben. So gesehen sind Strafen, wenn sie nicht auf den individuellen
Einzelfall "maßgeregelt" werden auch nicht gerecht.
Die entscheidende psychologische Erfahrung wird im Gefängnis
nicht gezielt vermittelt: die tiefe innere Verbindung zwischen Fehlverhalten
und Straferleben herzustellen und zu festigen. |
Das Strafjustizsystem ist wahrscheinlich sozialpsychologisch und gesamtgesellschaftlich
betrachtet in vielerlei Hinsicht wenig sinnvoll. Weder straft noch bessert
("resozialisiert") es sozialpsychologisch hinreichend wirkungsvoll. Und
es kostet die SteuerzahlerInnen eine Menge
Geld, wenngleich ein sozialpsychologisch wirkungsvolles Strafsystem
auch seinen Preis hätte, aber auf lange Sicht ökonomisch deutlich
vorteilhafter sein könnte. Verwahrlosung und Kriminalität sind
gesamtgesellschaftlich betrachtet sehr kostenintensiv. Ökonomisch
gesehen sind stabile soziale Rahmenbedingungen mit den entsprechenden
Bezugsperspersonen, eine moralstiftende Erziehung und als
gerecht
empfundene Lebens- und Selbstverwirklichungschancen die kostengünstigsten
Faktoren für das Sozialverhalten einer Gesellschaft.
Rückert
(1974, S. 28-29) hat die negativen Folgen und Wirkungen von Haftstrafen
zusammengestellt:
-
Entstehung von Minderwertigkeitsgefühlen durch Verhaftung, Aburteilung
und Gefängnisaufenthalt
-
Reizbarkeit und große Konfliktbereitschaft durch ständige Begegnung
mit den gleichen Menschen
-
Unterdrückung von Individuationstendenzen (RS: persönlicher Lebensstil)
-
Schlechte Auswirkungen des Gefangenenkollektivs auf Arbeit, Unterricht
und Therapie
-
Abbau der vorhandenen Persönlichkeitswerte
-
Abbau von Schuldgefühl und - bewußtsein, der Reue und Scham
-
Radikalisierung und Haß gegen die Rechtsordnung, Reizbarkeit. Erbitterung,
Trotz, Mut- und Energielosigkeit, Zorn, Demütigung, Depression, Menschenscheu.
-
Kriminalisierung der Anstalt.
-
Herabsetzung der Lebenstüchtigkeit und sozialen Anpassungsfähigkeit.
-
Parasitismus und Immobilität.
-
Einengung des Sprachschatzes als Folge der mangelnden Berührung mit
Menschen.
-
Auftreten von Kontaktschwierigkeiten.
-
Gemütsverarmung.
-
Verlust der Selbständigkeit.
-
Verhärtung und Hoffnungslosigkeit bei längerem Aufenthalt.
-
Erwerb von negativer Einstellung (durch stereotype Redewendungen bei Gesuchsablehnungen)
-
Zerstörung von sozialen Bindungen.
-
Aufzwingen pathologischer Sozialformen als Lernmodelle.
-
Ansteckung durch schwer Asoziale oder Antisoziale.
-
Unterwerfung, Scheinapassung, Heuchelei, krasser Egoismus, Opportunismus,
Kapo-Gesinnung.
-
Unterdrückung normalen Auslebens von Aggression und Sexualität.
-
Verlust der Orientierungsfähigkeit.
-
Tagträumereien, Phantastereien.
-
Reizmangel.
-
Körperliche Schäden.
_
IV.
Welche Strafen sind wirkungsvoll und nebenwirkungsarm ?
"Wenn behauptet wird, daß eine Substanz keine
Nebenwirkungen zeigt, so besteht der dringende Verdacht, daß sie
auch keine Hauptwirkung hat." (G. Kuchinsky;
aus S. 46)
Der Satz von Kuchinsky für die Wirkungen von Medikamenten gilt
für fast alles: was wirkt, hat auch Nebenwirkungen - und in der Pädagogik
ist besonders das Gesetz der ungewollten oder paradoxen
Nebenwirkungen (Spranger
1961) gefürchtet. Das gilt sicher auch für die Nebenwirkungen
von Strafen, die man nie aus den Augen verlieren sollte. Am besten wäre
es natürlich, wenn die Gesellschaft ohne Strafen auskäme. Nachdem
dies derzeit unrealistisch ist und tatsächlich auf vielfältige
Weise
gestraft wird, stellt sich die Frage: welche Strafen sind wirkungsvoll
mit den am geringsten zu erwartenden unerwünschten Nebenwirkungen?
Diejenigen Strafen sind wirkungsvoll, die ihr Ziel erreichen,
ihre Funktionen erfüllen. |
Ob eine Strafe also wirkungsvoll ist, läßt sich nicht absolut
oder theoretisch bestimmen, sondern ist in der Regel vom individuellen
Einzelfall und dessen Situation abhängig. Dies steht im Widerspruch
zum sog. Regelvollzug, der wenig Spielraum für einen individuell wirkungsvollen
Straf- und Resozialisierungsplan läßt.
Diese Überlegungen führen zum allgemeinen pädagogischen
ParadigmaAPP:
Pädagogische Maßnahme/
Wirkung |
Pädagogische Maßnahme (Strafe)
M1, M2, ... Mi ... Mn
angewandt
|
Pädagogische Maßnahme (Strafe)
M1, M2, ... Mi ... Mn
nicht angewandt
|
Bezweckte Wirkung W |
W1, W2, ... Wi ... Wn
|
W1, W2, ... Wi ... Wn
|
Unerwünschte Nebenwirkungen NW |
NW1, NW2, ... NWi ... NWn
|
NW1, NW2, ... NWi ... NWn
|
Und hieraus ergibt sich problemlos eine angemessene Definition der besten
Strafe:
Mini-Max-Prinzip
der besten Strafe
Beste Strafen maximieren die gewünschten Wirkungen
und minimieren die unerwünschten Nebenwirkungen. |
Literatur (Auswahl)
-
Becker, Wesley,
C. (dt. 1974, engl. 1971). Spielregeln für Eltern und Erzieher. Lehrprogramm
zur Führung von Kindern auf verhaltenspsychologischer Grundlage. München:
Pfeiffer.
-
Bracken,
Gelmut von (1926). Die Prügelstrafe in der Erziehung. Soziologische,
psychologische und pädagogische Untersuchungen. Dresden: Verlag am
andern Ufer.
-
Calliess,
Rolf-Peter (1974). Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat.
Ein Beitrag zur strafrechtsdogmatischen Grundlagendiskussion. Frankfurt:
Fischer.
-
Danner, Manfred
(1972). Tatvergeltung oder Tätererziehung. Ein psychologischer Beitrag.
Nachtrag zu Gibt es einen freien Willen? Hamburg: Kriminalistik.
-
Dostojewski, Fjodor (1994) Verbrechen und Strafe [Neuübersetzung von
Schuld und Sühne] Frankfurt: Fischer.
-
Dülmen, Richard
van (1995). Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in
der frühen Neuzeit. München: C.H. Beck.
-
Foucault, Michel () Überwachen und strafen. Frankfurt: Suhrkamp.
-
Evans, Richard J. (dt. 1997, engl. 1976) Szenen aus der deutschen Unterwelt.
Verbrechen und Strafe, 1800-1914.Reinbek: Rowohlt.
-
Frankl, Liselotte (1935).
Lohn und Strafe. Ihre Anwendung in der Familienerziehung. Jena: Gustav
Fischer.
-
Geißler,
Erich E. (1982). Erziehungsmittel. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
-
Grote-Kux, (2013) Europäische Wege zur Integration Haftentlassener.
In: Cornel, Halbhuber-Gassner, Wichmann (2013, Hrsg.) Strafvollzug,
Straffälligenhilfe und der demografische Wandel. Lambertus.
-
Guss, Kurt (1979). Lohn
und Strafe. Ansätze und Ergebnisse psychologischer Forschung. Bad
Heilbrunn: Klinkhardt.
-
Hood, Roger & Sparks,
Richard (1970). Kriminalität. Verbrechen, Rechtssprechung, Strafvollzug.
München: Kindler. Darin besonders: Die Bewertung der Wirksamkeit von
Strafen und Behandlungen. S. 175-200. Wechselwirkung zwischen Behandlungstyp
und Delinquententyp. S, 201-219. Die Auswirkungen der Gefängnishaft.
S. 220-239.
-
Lewin, Kurt
(1931). Die psychologische Situation bei Lohn und Strafe. Leipzig: Hirzel.
Nachdruck 1964: Darmsatadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
-
Preusker, Susanne (2011) Lasst sie niemals frei. Focus 20, 2011
-
Rückert,
Bernd (1974). Strafe und Strafvollzug. In: Erziehung im Strafvollzug. Ein
pädagogisches Organisationskonzept. Dissertation FAU Erlangen. S.
14-30.
-
Müller J. L. , Nedopil N., Saimeh N., Habermeyer E., Falkai P. (2012,
Hrsg.): Sicherungsverwahrung – wissenschaftliche Basis und Positionsbestimmung.
Was folgt aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 04.05.2011?
Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche.
-
Skirl, Michael () Wegsperren!?: Ein Gefängnisdirektor über Sinn
und Unsinn der Sicherungsverwahrung.
-
Sponsel, Rudolf (2015) Psychologie der Strafe. TOA-Magazin.
Fachzeitschrift zum Täter-Opfer-Ausfleich, 2, 2015,12-14.
-
Spranger, Eduard
von (1962). Das Gesetz der ungewollten Nebenwirkungen in der Erziehung.
Heidelberg: Quelle & Meyer.
Links (Auswahl)
-
Manfred Spitzer (2008) Strafandrohung (Video aus der Serie Gehirn
und Geist, Bayern alpha, Folge 78): "Mit Strafandrohung funktioniert unsere
Gesellschaft ganz gut. Wir befolgen Regeln, um Bestrafung zu vermeiden.
Was passiert dabei im Gehirn?"
-
Knast.net.
Rückert (1974, S.
15): "Die Strafe besteht im Zufügen eines Übels, beziehungsweise
im Entzug einer Annehmlichkeit."
___
Lewin [1890-1947] (1931, S.2):
"Lohn und Strafe sind daher hier nicht als soziologische oder juristische
Kategorie, sondern als psychologische Kategorie zu verstehen, so daß
ein und dieselbe Handlung je nach der Gesamtsituation des Kindes in einem
Fall eine Strafe, im andern ein Lohn sein kann." Lewin beschreibt damit
zugleich die Doppelnatur
aller psychologischen Heilmittel.
___
unangenehme
innere Zustände allgemein als Strafe. Hier werden auch magische Grenzgebiete
und psychopathologische Erscheinungen berührt, z.B. Schicksalsschläge
als Strafe oder der Schuldwahn.
___
realistische Strafandrohung:
Lewin (1931, S.58): "Wie wesentlich der Realitätsgrad der Strafe ist,
zeigt sich vor allem darin, daß Kinder, die schon eine Strafe durchgemacht
haben, sich bei Wiederholung der Strafandrohung meist wesentlich anders
verhalten als Neulinge. Die Ursache dafür, daß 'gebrannt Kind
das Feuer scheut', dass jemand der hart gestraft ist, weniger Rückgrat
gegenüber einer neuen Strafandrohung zu zeigen pflegt, ist also nicht
nur in einer 'assoziativen Koppelung' grösserer Unlust zu suchen."
... sondern eben in der Realerfahrung (RS)
___
Anmerkung: Der These Rückerts
(1974, S. 15) kann ich nicht folgen: "Sinnvolles Strafen setzt das Akzeptieren
der strafenden Autorität voraus, was im Grunde eine Rechtsbejahung
darstellt. (Personaler Charakter)."
___
paradoxe Wirkung: Guss (1979,
S. 110) berichtet: "Einem Lehrer wird es zu bunt, daß ihn der Schüler
Hans immer noch duzt. Um ihm dies abzugewöhnen, gibt er ihm als Strafe
auf, bis zum nächsten Tag 10 mal den Satz zu schreiben: 'Ich darf
meinen Lehrer nicht duzen!' Am nächsten Tag liefert Hänschen
seine Strafarbeit ab. Er hat den Satz sogar zwanzigmal geschrieben. Auf
die Frage des Lehrers, warum er sich denn doppelt so viel Arbeit gemacht
habe, antwortet Hänschen treuherzig: 'Ich wollte dir einen
Gefallen tun.'
Der Leser lacht und sein Lachen ist lehrreich. Belohnungen
und Bestrafungen haben nicht immer die erwarteten Folgen, bewirken oft
das Gegenteil, sind widersinnig oder 'paradox'. ... Daß Strafen nicht
immer das Bestrafte 'löschen'
und Belohnungen Belohnte nicht immer festigen, bezeugen jedermanns Alltagserfahrungen."
___
eine Strafe: Hier liegt ein
noch komplexerer und komplizierter Sachverhalt vor als beim Begriff der
Aussage. "Eine" Aussage
besteht gewöhnlich aus bis zu mehreren hundert Elementaraussagen,
die teilweise falsch, unvollständig, verfälscht, verzerrt und
widersprüchlich sind. Und auch hier ist die Sprache trügerisch.
Im Gefängnissein ist
nicht "eine" Strafe, es ist eine sehr komplexe, sehr komplizierte,
sehr vielfältige und ganze Lebensform, in der gewöhnlich auch
das eigentliche Ziel der Strafe überhaupt nicht methodisch differenziert
angewandt, geschweige denn wirkungsgeprüft (evaluiert) wird.
___
Strafe als Erziehungsmittel
(Literaturhinweis nach Geißler). Aus dem Inhaltsverzeichnis:
5. Die Strafe
5.1 Grundlegung
146
5.1.1 Straftheorien und pädagogische Praxis
146
5.1.2 Straftheorien und ihre pädagogische
Relevanz 148
5.1.2.1 Strafe als moralischer Begriff 149
5.1.2.2 Strafe als gewohnheitsbildendes Lenkungsmittel
150
5.1.2.3 Zur Unterscheidung von tat- und täterbezogenen Strafen
151
5.1.3 Das Strafleid 153
5.1.3.1 Nebenwirkungen des Strafleides 153
5.1.3.2 Strafleid, Furcht und Angst 155
5.1.4 Verschiebungen in der Bewertung verschiedener
Erziehungsmittel 157
5.1.5 Die kulturgeschichtliche Komponente des
Strafproblems: Konformität und Mündigkeit 157
5.1.6 Zur Unterscheidung einer Disziplinar-
und Erziehungsstrafe 160
5.2 Die Disziplinsrstrafe
161
5.2.1 Die pädagogische Funktion der Disziplinarstrafe
161
5.2.2 Die Ambivalenz der Disziplin
163
5.2.3 Regeln der Handhabung 164
5.2.4 Analyse verschiedener Strafarten
167
5.2.5 Von der Grenze der Disziplin
171
5.3 Die Erziehungsstrafe
171
5.3.1 Allgemeine Voraussetzungen für eine
Erziehungsstrafe 171
5.3.2 Voraussetzungen für eine Erziehungsstrafe
beim Erziehenden 172
5.3.2.1 Erziehungsstrafen sind Ermessensstrafen 172
5.3.2.2 Erziehungsstrafen setzen einen personalen Bezug zwischen
dem Erziehenden und dem Heranwachsenden voraus 173
5.3.3 Voraussetzungen einer Erziehungsstrafe
beim Kind. 174
5.3.4 Verbleibende Möglichkeiten einer
Erziehungsstrafe 176
5.3.4.1 Analyse des anthropologischen Problemfeldes 176
5.3.4.2 Formen
___
Unerwünschte Nebenwirkungen
sind
etwa: Proband wird verstockter, krimineller, lebensuntüchtiger, anpassungsunwilliger,
anpassungsunfähiger, schwer "angeknackst", gebrochen; verliert Lebensmut,
alle Hoffnung oder Zuversicht, sieht sich und seine Zukunft chancenlos.
___
Erziehungsfunktion. Frankl
(1935, S. 41) sieht die Strafe als Mittel, eine Verhaltensänderung
zu bewirken.
___
wird unregelmäßig fortgesetzt und überarbeitet
Querverweise
Zu
den lernpsychologischen Interpretationen der Strafe
Buchhinweis zur Sozialpsychologie der Haft.
Gewissenstypologie und
Straftaeterbehandlung. Sozial- und Psychotherapie von normativ Devianten
oder / und "Kriminellen".
Überblick: Forensische Diagnostik,
Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie in der GIPT
Zitierung
Sponsel, Rudolf (DAS). Allgemeine und integrative
Psychologie der Strafe. Wozu taugen Strafen, was setzt ihre Wirksamkeit
voraus, wie funktionieren sie? Erlangen IP-GIPT:
https://www.sgipt.org/forpsy/strafe/psystraf0.htm
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Änderungen wird gelegentlich überarbeitet,
ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
23.09.2016 Lit-Nachträge.
21.03.2015 Linkfehler geprüft
und korrigiert.
24.10.2003 Fußnote;
Fehlerkorrektur.
08.10.2003 Komplette Überarbeitung
und zahlreiche Ergänzungen.