Differentielle Psychologie, Psychodiagnostik, Psychopathologie und Psychotherapie der Persönlichkeiten aus der Reihe Hochstapelei - Psychologie und Psychopathologie der HochstaplerIn
Psychopathologische Ausprägungen der Hochstapelei
Pathologische LügnerInnen, BlenderInnen und Pseudologia phantastica,
GrenzgängerInnen u.a.m.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
"Luftschlösser bauen wir alle, problematisch wird es erst, wenn
wir versuchen, darin zu wohnen."
(Neil
Postmann in: Wir amüsieren uns zu Tode)
Überblick
Die Grundfrage der Psychopathologie lautet: was ist psychisch gesund,
was ist psychisch krank oder, moderner, gestört? Sind LügnerInnen,
BlenderInnen, PseudologInnen, HochstaplerInnen, BetrügerInnen und
VerbrecherInnen "krank", psychisch gestört? Diese Frage ist außerordentlich
schwierig zu beantworten und ich möchte zur Vertiefung auf die IP-GIPT
Seite
verweisen, die das grundlegend erörtert.
Vergegenwärtigt man sich aber einige Tatsachen,
erkennt man, daß es gute Gründe dafür gibt, sog. abweichendes
oder auch kriminelles Verhalten für das Biologisch Normale, Gesunde
und Überlebenstüchtige, also für das evolutionär Gebotene
zu halten. Vielleicht genießen Kriminelle, Radikale und hemmungslose
Führernaturen auch deshalb so viel Bewunderung, weil sie etwas ausleben,
das in allen als Restnatur zwar noch vorhanden ist, aber durch die Erziehung
und Sozialisation, wenn sie denn 'glückt', sehr unterdrückt wird.
Der Mensch ist von Natur aus ein Raubtier, aber er quält sich oft
damit, zumindest in guten und in Friedenszeiten. Wozu der Mensch allemal
und wirklich fähig ist, zeigt sich in Krisen, Kriegen und schlechten
Zeiten. Und da erleben wir oft: Moral und Kultur und sind reine Makulatur.
Aber auch in Friedenszeiten verliert der Mensch sein Raubtierelement nicht,
was man am besten in plutokratischen Wirtschafts- und Gesellschaftsformen
studieren kann. Rücksichtsloser Egoismus, Niedertracht und Gemeinheit
werden dort in Gesetze und Regelwerke verpackt oder sublimiert, wie Freud
vielleicht sagen würde. Wer den anderen regel-recht übers Ohr
haut, ausnimmt oder in den Ruin treibt, handelt recht. Das Raubtierverhalten
bekommt Spiel-Regeln verpaßt, was man dann Rechtsstaat oder zivilisierte
Gesellschaft nennt. In Wirklichkeit verschaffen sich die Tüchtigen
und Intelligenten den Vorteil, das Recht und die Spielregeln so zu gestalten,
daß sie für sie von Vorteil sind. Das Recht ist ein Recht der
intelligenten Tüchtigen und Mächtigen, das zwar schleichend aber
fortlaufend immer mehr ausgehöhlt und damit immer ungerechter und
verdrehter wird. Spätestens an dieser Stelle muß man fragen,
ob Hochstapeln nicht ein ebenso "normales" Weltphänomen ist, wie z.B.
die Lüge.
Denn die Lüge ist ein Welterfolg (Angela Merkel:
»Eigentlich gewinnt immer der, der sich nicht an die Spielregeln
hält.«). Alle Menschen lügen, viel mehr und öfter
als den meisten bewußt ist und sie sich eingestehen. Ist also die
Lüge das Normale und Ehrlichkeit das Pathologische? Statistisch gesehen
liegt man wahrscheinlich nicht schlecht, wenn man diese Frage bejaht. Ist
ehrlich sein also etwas für Dumme und Anständige mit dem Drang
zum eigenen Untergang und Masochismus? Sich nehmen, was einem gefällt,
ist vermutlich ein Urprinzip der Lebewesen, denn dem Phantasieprodukt Gott
hat es gefallen, die Welt und die Natur so einzurichten, daß einer
nur leben kann, wenn ein anderer stirbt. Töten, um zu leben, ist ein
Naturprinzip; schon aus diesen Grunde wäre Gott moralisch und technisch
abzulehnen: wer eine Welt so einrichtet, muß moralisch
und technisch gesehen ein Blindgänger sein, wenn er denn auch noch
allmächtig
phantasiert wird.
Krank [1,2,3,4,],
auch psychisch krank, ist ein sozialrechtlicher Begriff, der keineswegs
nur stigmatisiert oder entwertet, sondern auch Schutz gewährt und
mit Rechten verbunden ist. Was letztlich "krank" oder "gestört" genannt
wird, ist eine Frage der Definition und Konvention. Das heißt natürlich
nicht, wie manche SpinnerInnen und Hohlköpfe aus der antipsychiatrischen
Szene meinen, daß dem Krankheitsbegriff keine Realität entspricht.
Die Realfrage für den Krankheitsbegriff ist, ob eine
bestimmte Realität die Wertzuweisung "krank" - mit allen negativen
und positiven Folgen - erhalten soll oder nicht? Strafrechtlich ist hier
das Problem der - verminderten - Schuldfähigkeit bzw. der Schuldunfähigkeit
berührt, zivilrechtlich das Problem der Geschäftsfähigkeit
angesprochen.
Und es gibt natürlich nicht den geringsten
Zweifel, daß es Lüge, Betrug, Irrtum, Illusion, Täuschung,
Wahn, Halluzination, Verdrehung, Wahrnehmungsausfälle in Bezug auf
sich selbst, andere und die Welt gibt. Die Zweifel und Auseinandersetzungen
finden in den Grenz- und Grauzonen und in den Übergängen statt.
Was verbindet bzw. unterscheidet nun krankes, gestörtes
Erleben und Verhalten vom gesunden, normalen, natürlichen bzw. vom
abweichenden, kriminellen Verhalten?
Pathologische Lügner, Phantastische Pseudologen, Blender und GrenzgängerInnen.
Als Erfinder des Begriffes "Pseudologia phantastica" gilt Anton Delbrück. Der Ausdruck wird in seiner berühmten Schrift "Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler" 1891 eingeführt. Ich gebe im folgenden die Schöpfung im Originalzusammenhang (S. 122-126) wieder. Die Verwendungen des Ausdrucks "Pseudologia phantastica" können hier direkt angewählt werden: [PLP_1, PLP_2, PLP_3, PLP_4, PLP_5, PLP_6, PLP_7, PLP_8, fett-kursiv von mir] Im Originaltext gesperrt geschriebene Worte sind in diesem Text gefettet.
"Schlussbemerkungen.
Wir haben nun die eigenthümliche Art von Lüge durch eine Reihe von Krankengeschichten hindurch verfolgt. Die ersten derselben boten Symptome einer schweren psychischen Allgemeinerkrankung: die folgenden zeigten wenig oder nichts dergleichen, und den letzten Fall glaubten wir nur noch als vermindert zurechnungsfähig bezeichnen zu dürfen. Es würde leicht sein, diese Reihe in das Gebiet des Gesunden hinein fortzusetzen. Im gewöhnlichen Leben begegnet man nicht allzu selten Naturen, die man im gerichtlichen Sinne vielleicht noch als zurechnungsfähig bezeichnen kann, die sich im Wesentlichen aber kaum von dem General Dr. B. unterscheiden. Der Trieb zu Lügen äussert sich bei ihnen bald mehr in der Form harmloser Renommistereien, bald kommt er gerade in der eigentlichen Berufsthätigkeit des Betreffenden zum Ausdruck. Solche Leute können es unter Umständen zu etwas bringen, wenn auch nicht zu etwas Rechtem. Mag es sich um den fanatischen Führer einer politischen Partei handeln, oder um einen Arzt, der durch seine Wunderkuren viel von sich reden macht, oder um einen sogenannten Gelehrten, der durch seine Entdeckungen allgemeines Aufsehen erregt - immer gelingt es solchen Leuten, eine grosse Menge Menschen zu täuschen, eben weil sie nicht nur andere, sondern zum grössten Theil auch sich selbst betrügen. Nüchterne Beobachter erkennen zwar das Unwahre solcher Charaktere, aber sie treffen in ihrer Beurtheilung leicht über das Ziel; sie sehen nichts als Heuchelei [>123] und wohl überlegten, kalt berechneten Betrug, wo es sich um alles Andere, nur nicht um Ueberlegung und kalte Berechnung handelt; darauf habe ich in meinen Krankengeschichten ja mehrfach hingewiesen.
Man kann die Erscheinung aber noch weiter verfolgen. Ebenso wie zwar einige Menschen besonders viel lügen. aber keiner von diesem Laster ganz frei ist, so giebt es nicht nur einige "abnorme Schwindler" in dem angedeuteten Sinne, sondern ich bin überzeugt, dass sich jeder Gesunde, wenn er sich nur genau beobachtet, unter Umständen auf einem solchen Zwitter von Lüge und Selbstbetrug ertappen kann. Um nur einige Fälle anzudeuten, so hilft man sich im Falle sogenannter Nothlügen oft dadurch, dass man nicht die ganze, sondern nur die halbe oder eine scheinbare Wahrheit sagt: oft ist man sich dessen allerdings bewusst; oft genug aber betrügt man sich selbst halb und halb mit solcher Scheinwahrheit und glaubt fast, die volle Wahrheit gesagt zu haben. Ferner passiert es Manchem, dass er im Eifer eines Disputs bona fide Dinge behauptet, die er bei ruhiger Ueberlegung selbst als nackte Lügen bezeichnen würde: da aber beim normalen Menschen wenigstens trotz allen Eifers die ruhige Ueberlegung nie ganz fehlt, so sieht man, dass jenes "bona fide" doch cum grano salis zu verstehen ist. Solche Lügen hat man wohl auch als Affektlügen bezeichnet.
Doch das Gesagte dürfte genügen, darauf hinzuweisen, dass schon beim Gesunden die mannigfaltigsten Mischformen von Lüge und Irrthum vorkommen können, dass aber dieses Symptom in einzelnen Fällen eine durchaus pathologische Höhe erreichen kann, wo man dann eher von einer Mischform von Lüge und Wahnidee oder Erinnerungsfälschung sprechen würde.
In denjenigen Fällen nun, wo die Mischung der beiden Bestandtheile des Symptoms eine annähernd gleichmässige ist, scheint es mir nicht richtig, noch von einer "Lüge" zu sprechen. wenn man an dem gewöhnlichen Sprachgebrauche festhalten will. Denn dieser versteht unter "Lüge" eben eine bewusste Un-[>124]wahrheit, ebenso wie unter "Simulation" nur das bewusste Vortäuschen einer Krankheit. Ebenso falsch würde es sein das Symptom nach seinem anderen Bestandtheil als "Irrthum, "Wahnidee" oder "Erinnerungsfälschung' zu bezeichnen, weil diese Worte eben auch nur einen Theil des Begriffes, aber nicht den ganzen ausdrücken. Da aber für die Beurtheilung des ganzen Menschen in manchen Fällen das Symptom eine grosse Wichtigkeit erlangen kann, so stellt sich das Bedürfniss heraus, ihm einen besonderen Namen zu geben und ich schlage vor, es als [PLP_1] "Pseudologia phantastica" zu bezeichnen.
Ein bereits gebräuchliches Wort für den Begriff ist mir wenigstens nicht bekannt, da derselbe, so viel ich sehe, in der Litteratur zwar häufig angedeutet, aber nirgends ausführlich geschildert und besprochen ist. Die besten Schilderungen des psychologischen Vorgangs finden sich in der schönen Litteratur. Daudet's Tartarin habe ich bereits citiert; ähnliche Beispiele liessen sich noch mehr anführen; sie sind auch aus dem gewöhnlichen Leben zur Genüge bekannt. Sehr viel beachtenswerther scheinen mir die erwähnten Capitel aus Ke11er's "Grüner Heinrich" und hierzu wäre dann noch Goethe zu vergleichen. Er berichtet uns im II. Buch von Dichtung und Wahrheit, dass er als Knabe einmal die Gewohnheit gehabt habe, seinen Kameraden erfundene Märchen als eigene Erlebnisse zu erzählen. Goethe bemerkt hierzu: "Wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäss, die Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmässigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderische Anfänge gewiss nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben. - Betrachtet man diesen Trieb recht genau, so möchte man in ihm diejenige Anmassung erkennen, womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste gebieterisch ausspricht und von einem jeden fordert, er solle dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgend eine Weise als wahr erscheinen konnte."
Die Lebhaftigkeit der Phantasie und ihre täuschende Rückwirkung auf das Subjekt also hätte der "abnorme Schwindler" [>125] mit dem Dichter gemein und ich halte es nicht für zufällig , dass gerade Goethe und Gottfried Keller die [PLP_2] Pseudologia phantastica in ihren Kinderjahren an sich selbst beobachten, und dass die Geschichte der abnormen Schwindler oft einen romanhaften Charakter hat. Namentlich bei dem Kranken N. aber sahen wir, dass die Phantasie im Gegensatz zu den übrigen Gehirnfunktionen gleichsam hypertrophisch ausgebildet, dass sein Gehirn schlecht äquilibriert ist: weil das bei dem Dichter nicht der Fall, so wird der grüne Heinrich kein "abnormer Schwindler", sondern ein Maler - oder vielmehr ein grosser Dichter - und bei Goethe "blieb jener Trieb ohne schlimme Folgen".
Sieht man sich in der psychiatrischen Litteratur um, so finden sich auf die [PLP_3] Pseudologia phantastica bezügliche Bemerkungen zunächst ziemlich häufig da, wo der Trieb zum Lügen als pathologisch bezeichnet werden muss, das heisst bei den Besprechungen des moralischen Irreseins und der Hysterie. Dass derartige Kranke einen krankhaften Hang zum Lügen haben, ist eine altbekannte und vielbesprochene Thatsache; soweit es sich dabei um die reine Form der bewussten Lüge handelt, hat das mit der ausgebildeten Form der [PLP_4] Pseudologia phantastica eigentlich nichts zu thun: allerdings lässt sich durchaus nicht bestimmen, wo die Lüge aufhört und die [PLP_5] Pseudologia phantastica anfängt; je deutlicher die letztere aber ausgeprägt ist, desto geringer ist, wie wir sahen, der moralische Defekt in der Erscheinung zu veranschlagen: gerade der letztere aber ist es, welcher bei Besprechung des genannten Symptoms fast ausschliesslich betont wird. Zweifellos kommt auch die Lüge als einfacher moralischer Defekt, namentlich bei den moralisch Irren sehr häufig vor, wenn auch oft genug neben der [PLP_6] Pseudologia phantastica. Ob dagegen die sogenannten Lügen der Hystericä, wenigstens in vielen Fällen nicht besser als [PLP_7] "Pseudologia phantastica", denn als "Lügen" zu bezeichnen wären, ist mir zweifelhaft. Etwas unserem Symptom ganz Analoges nämlich sind meines Erachtens die hysterischen Anfälle. Diese erscheinen ja manchem Laien und mitunter sogar [>126] dem Mediciner als simuliert, und es ist eine bekannte Thatsache, dass die Anfälle von den Kranken zu einem bestimmten Zwecke mit einer mehr oder weniger bewussten Absicht produciert werden können. An den hysterischen Anfällen kann man daher am besten beobachten, wie verschiedene Intensitätsgrade das Bewusstsein der Absichtlichkeit haben kann; man findet da sämmtliche Uebergänge von den Fällen, wo man von einer bewussten Absicht des Kranken fast überzeugt ist, bis zu den Fällen, wo von einer solchen gar nicht die Rede sein kann. Ganz ähnlich stelle ich mir den allmäligen Uebergang, von der hysterischen Wahnidee durch die [PLP_8] Pseudologia phantastica zur einfachen Lüge vor."
"Lügen sind unsere erste Milchspeise, die Ammenmärchen, und in den ersten fünf Jahren ihres Lebens sagen unsere Kinder kein wahres Wort; allerdings auch kein lügendes, d. h. sie reden nur. Schleiermacher ist der Ansicht, daß die Kinder die Sprache als einen Vorrat von Mitteln ansehen, ihren Zweck zu erreichen, und Jean Paul sieht in ihren Reden ein lautes Denken. Da aber oft die eine Hälfte des Denkens ein Ja und die andre ein Nein sei, und ihnen beide entführen, so scheinen sie bloß zu lügen, indem sie mit sich reden. Mit den zunehmenden Jahren gestaltet sich dies schon etwas anders. Amerikanische Lehrerinnen haben bei etwa 300 Stadtkindern zwischen 12-14 Jahren (Knaben und Mädchen) Untersuchungen über das Lügen angestellt. Ein vollkommenes Unverständnis für die Begriffe der Wahrheit zeigt sich nirgends, wohl aber gab es verschiedene, die keinen Unterschied zwischen absichtlicher Unwahrheit und unabsichtlicher Unrichtigkeit zu fassen vermochten.
Nur zu oft findet sich bei den Kindern die Neigung, Vorkommnisse als erlebt zu erzählen, an denen kein wahres Wort ist, und das Vorwiegen der Phantasie und eine besonders regsame Einbildungskraft sind unter Umständen recht zweischneidige Gaben.
So erzählt Gottfried Keller in seinem "Grünen Heinrich" eine solche Episode aus seinem Leben. Er klagt seine Kameraden an, ihm unanständige Dinge erzählt zu haben, und er belegt nachher seine Aussagen mit einer Reihe der genauesten Einzelheiten über Ort, Zeit und Umstände. Die Knaben werden bestraft, und Heinrich begreift gar nicht, wie die mißhandelten Jungen so lamentieren und erbost gegen ihn sein konnten, da der treffliche Ver[>157]lauf der Geschichte sich von selbst verstand, und er hieran so wenig ändern konnte, wie die Götter am Fatum. Erst später kommt er zum Bewußtsein der Lüge und schämt sich.
Ähnliches erzählt Goethe von sich in seiner "Wahrheit und Dichtung". Als Knabe hatte er die Gewohnheit, seinen Kameraden erfundene Märchen als selbsterlebte Vorkommnisse zu erzählen. "Wenn ich nicht nach und nach meinem Naturell gemäß die Windbeuteleien und Luftgestalten zu kunstmäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderischen Anfänge gewiß nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben. "
In geradezu klassischer Weise hat Keller in seinem Gedichte "Der Schulgenoß"
das Schicksal gezeichnet, das den so Veranlagten bedroht:
Wenn wir die untersten der Klasse waren,
Wie haben wir treuherzig uns betrogen,
Erfinderiseh und schwärmriseh uns belogen
Von Aventuren, Liebschaft und Gefahren!
Da seh' ieh just, beim Schimmer der Laterne,
Wie mir gebückt, zerlumpt, ein Vagabund
Mit einem Häscher scheu vorübergeht - !
So also wendeten sieh unsre Sterne ?
Und so hat es gewuchert, unser Pfund ?
Du bist ein Schelm geworden - ich Poet!"
Die Freude am Lügen und Aufschneiden kann zur zweiten Natur,
und jedes Unterscheiden von Wahr und Unwahr zur Unmöglichkeit werden.
Man schreibt, ob mit Recht oder Unrecht, das will ich dahingestellt sein
lassen, den Jägern eine solche Neigung zu, und den vollendetsten Typus
dieser Art hat uns Immermann in seinem "Münchhausen" hinterlassen,
einem der besten Bücher, das je geschrieben wurde, und das Verhalten
der Südfranzosen bezeichnet man als Gasconnade. Daudet ergeht sich
in seinem famosen "Tartarin de Tarascon" darüber in folgender Weise:
Aber dann ist Ihr Tartarin nichts andres als ein ganz abscheulicher Lügner.
Nein, tausendmal nein. Der Südfranzose lügt nie, er irrt sich.
Er sagt nicht immer die Wahrheit, aber er glaubt sie [>158] zu sagen. Seine
Lüge ist keine Lüge, sie ist eine Art von Fata Morgana.
Diese überschwengliche, das klare Denken störende Phantasie findet sich nicht selten bei jener Art von Verbrechern, die wir als Hochstapler bezeichnen. Im Augenblicke des Schwindelns kann er ganz vergessen, daß er schwindeln will. Er lebt sich so in seine Rolle hinein, daß er sie tatsächlich erlebt, und in der Treue, mit welcher er sie spielt, liegt das Geheimnis seines Erfolges. Ich habe Leute gekannt, die an und für sich nichts besonders Verkehrtes an sich trugen. Nur blieben sie bei der Erzählung einer Geschichte, die sie erlebt hatten, und bei der ich selber zugegen gewesen war, nicht ganz bei der Wahrheit. Sie stutzten sie vielleicht etwas anders zu und malten sie aus, beides aber in einer so wenig auffälligen Weise, daß ich keine Veranlassung zu einer Berichtigung hatte. Nach und nach gestaltete sich dieselbe Geschichte zu einem ganz andern Ereignisse, und nun stieß jeder Einwand auf den entschiedensten Widerstand, und ich fand zu meinem Erstaunen, wie fest der Erzähler von der Wahrheit seiner letzten Umbildung überzeugt war. Hier war in langsamer Umwandlung erfolgt, was sich unter dem Einflusse eines Affektes sofort vollziehen kann. Unter jenem Einflusse erleidet der äußere Eindruck eine Umbildung in der Richtung des Affektes, und es kommt zu einem Erinnerungsbilde, bevor sich eine Gegenvorstellung entwickeln konnte. Bei Sensationsprozessen, politischen und religiösen, kann man hierin manches Wunderbare erleben. In dem seinerzeit viel besprochenen Xantener Ritualprozesse hatten die Zeugen Dinge gesehen und Gespräche gehört, die positiv unmöglich waren, nichtsdestoweniger aber von ihnen für wahr gehalten und beschworen wurden. Besonders gefährlich wird diese Art der Zeugenaussage dann, wenn es sich dabei um Kinder handelt, bei denen die Beeinflussung durch äußere Umstände und Affekte eine ungemein groß ist.
In dem Ritualprozesse in Tisza Eslar hatte der jugendliche Zeuge den Mord durch das Schlüsselloch der Synagoge beobachtet und ihn mit allen Einzelheiten beschrieben. Und doch war an alledem kein wahres Wort und die Beobachtung durch das Schlüsselloch überhaupt ausgeschlossen. Der Knabe hatte sich durch die allgemeine Meinung und die suggestiven Fragen des Untersuchungsrichters bestimmen lassen und seinen eigenen Angaben schließlich vollen Glauben geschenkt. Auf diese Weise findet manche falsche [>159] Aussage ihre Erklärung, und oft vermutet man Heuchelei und kalt berechnenden Betrug, wo es sich um alles andere, nur nicht um Überlegung und Berechnung handelt.
Wer etwa daran zweifeln sollte, würde ein reiches Beweismaterial in den Verhandlungen finden, zu denen unsere Unfallgesetzgebung Veranlassung gegeben hat. Die Art der Prozeßführung führt es mit sich, daß der Unfallverletzte seine Ansprüche beweisen muß, wobei er durchweg von vornherein auf geringe Geneigtheit stößt, seinen Angaben Glauben zu schenken. Nun ist es ohnehin ein natürlicher Hang der meisten Menschen, bei der Betonung ihrer Leiden etwas dick aufzutragen, um durch eine möglichst drastische Schilderung das Mitgefühl für sich zu gewinnen. Bellt doch der Hund noch einmal so laut, wenn er bedauert wird, und wenn der Unfallverletzte seine Leiden immer wieder und wieder vortragen muß und dabei den Eindruck hat, daß man ihm doch keinen rechten Glauben schenkt, was ist natürlicher, als daß er in der Schilderung dieser Leiden die Farben immer greller aufträgt, um seine Gegner von einer Wahrheit zu iiberzeugen, an welcher er selber leider nicht zweifeln kann. Es ist mithin keine Simulation, kein bewußtes Vortäuschen nicht bestehender Krankheitssymptome, wie sooft fälschlich angenommen wird, wohl aber eine anfangs mehr unbewußte Überschätzung, bis die Leiden endlich von ihm selber in der angegebenen Höhe empfunden werden. Das ist das Wesen der vielgenannten und vielgeschmähten traumatischen Neurose, einer Krankheit, die trotz allem, was man dagegen anführen will, wirklich besteht, und die ihre Entstehung der Unfallgesetzgebung oder vielmehr ihrer nicht gerade mustergültigen Ausführung verdankt. Nicht mit Unrecht hat man darauf hingewiesen, daß die Unfallgesetzgebung Hysteriker züchte und ein nicht unbeträchtlicher Teil der traumatischen Neurosen der Hysterie zuzuweisen sei. In der Tat ist die Hysterie der geeignetste Boden zur Entwicklung der pathologischen Lüge.
Man ist zwar längst von der Ansicht zurückgekommen, daß den Frauen das Recht auf die Hysterie allein zustehe. Das ist nicht der Fall und es gibt auch hysterische Männer. Vorläufig aber und bis auf weiteres überwiegt bei Frauen das Gemüt, und die zartere Hälfte muß dieses Mehr an Liebenswürdigkeit, das sie unzweifelhaft vor uns voraus hat, zum Teil wenigstens auf Kosten des nüchternen Verstandes bestreiten. Die größere Zart[>160]heit der Körperkonstitution bedingt gleicherweise eine größere Neigung zu Störungen der Funktionen, und hier wieder in erster Reihe zu Störungen in den Funktionen des Nervensystems, und so mag es kommen, daß es vorzugsweise Frauen sind, bei denen uns diese besondere Art von nervösen Störungen entgegentritt, wo sich die krankhafte Veränderung des Willens in einer ungezügelten Neigung zum Fabulieren, zur Selbsttäuschung und zur Täuschung anderer entäußert, und mit dem ebenso ungezügelten Drange verbindet, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und von sich reden zu machen. Denn das ist das eigentliche Wesen der Hysterie, und sie muß daher unbedingt den geistigen Krankheiten zugezählt werden. Was hier bewußt und was unbewußt aus dem krankhaften Innern kommt, das ist schwer zu sagen, und wie Aschaffenburg mit Recht hervorhebt, werden unsere Gesetze und unser Strafvollzug der Individualität dieser Schwindler und Hochstapler bisher nicht gerecht.
Mme. Bovary lügt, wie das Wasser vom Brunnen fließt, und Louise Lateau, die Stigmatisierte vom Bois d'Haine, Catharina Emmerich und unzählige andere waren wahrscheinlich von der Wirklichkeit ihres Treibens ebenso überzeugt wie ihre nach Wundern dürstende Umgebung. Was von diesen Personen alles in Szene gesetzt wird, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, spottet jeder Beschreibung. Ich erinnere mich einer jungen und nebenbei sehr hübschen Dame, einer Gräfin mit polnischem Namen, die in einem Sanatorium dadurch auffiel, daß sie nichts aß. Tag für Tag erschien sie in voller Toilette an der Tafel, um sie wieder zu verlassen, ohne etwas berührt zu haben, und Tag für Tag sonnte sie sich in der allgemeinen Aufmerksamkeit, die man ihr und ihrem Treiben schenkte. Merkwürdig dabei war ihr blühendes Aussehen, da aber nach den bestimmten Erklärungen des behandelnden Arztes jede Täuschung ausgeschlossen war, und es den Argusaugen der weiblichen und wohl auch der männlichen Tischgenossen nicht gelang, einen Betrug zu entdecken, blieb die Gräfin bis zu ihrer Abreise im ungestörten Genusse der allgemeinen Bewunderung Hinterher fand sich allerdings des Rätsels Lösung in einer Anzahl von Hühner und Schinkenknochen, die unter den Dielen ihres Zimmers verborgen und der Dame mit andern Nahrungsmitteln von ihrer Zofe heimlich zugebracht waren. Hätte sich der Anstaltsarzt damals desselben Argumentes bedient, das Virchow bei der Louise Lateau verwendete, dann hätte er die ge[>161]schickte Betrügerin schon früher entlarven können. Eines der Wunder der Louise Lateau war nämlich, daß sie keine Nahrung zu sich nahm. Virchow stellte nun fest, daß sie regelmäßige Stuhlentleerungen hatte, und er schloß daraus, daß sie Nahrung zu sich nehmen müsse. Denn wenn Gott auch die Welt aus nichts erschaffen hat, so würde doch selbst eine Heilige zur Gewinnung der Fäkalien der Nahrungszufuhr bedürfen, um wieviel mehr nicht eine nichtheilige polnische Gräfin.
Einer ähnlich krankhaften Sucht verdanken jene anonymen Briefe ihre Entstehung, die in einer raffiniert gemeinen Weise Glück und gesellschaftliche Stellung von Leuten zu vernichten imstande sind, die dem Schreiber nie etwas getan haben. Auch die Anzeigen über angebliche Vergewaltigungen und andere geschlechtliche Vorgänge gehören zuweilen hierher.
So wurde die 16jährige Tochter des Generals Morel in Saumur eines Tages auf dem Boden ihres Schlafzimmers gefunden mit gebundenen Händen und aus mehreren, übrigens sehr oberflächlichen, Wunden an den Oberschenkeln blutend. Nach anfänglichem Widerstreben gibt sie endlich an, daß der Leutnant de la Ronciere den Versuch gemacht habe, sie zu entehren, und als ihm dies nicht gelungen sei, sie in dieser Weise behandelt habe. Ein Versuch de la Roncieres, sein Alibi zu beweisen, mißlang, und er wurde zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, die er auch abgesessen hat. Erst nachher ergab sich die Nichtigkeit der Anklage und de la Roncieres Unschuld. Allerdings hatte er jene Nacht bei einer Dame zugebracht, aber nicht bei Marie Morel, und Marie Morel war hysterisch.
Delbrück hat über die pathologische Lüge, die Pseudologia phantastica, ein recht lesenswertes Buch geschrieben und uns dem Verständnisse dieser Zustände ein gutes Stück näher gebracht."
Kritisch: Wann sind Lügen "pathologisch"?
Die Lüge ist ein Welterfolg. Tagtäglich
wird höchst erfolgreich gelogen. Und vermutlich am meisten dort, wo
man es am wenigsten mag: in den Gerichten. Fast alle Menschen lügen,
und die meisten nicht zu knapp. Bei vorurteilsloser Betrachtung drängt
sich einem die Frage auf, ob lügen nicht sehr normal ist? Was sollte
dann aber eine "pathologische", also eine "kranke" oder "krankhafte" Lüge
sein? Ist mangelnde Moral, fehlendes Sozialverhalten eine "Krankheit"?
Warum?
Exkurs: Sind multiple Persönlichkeiten HochstaplerInnen ?
Links zum Thema Hochstapelei im Zusammenhang mit Persönlichkeitsstörungen
Damit ist jenes Hochstapeln gemeint, das durch besondere Auslöser, Anlässe, Mittel oder Situationsbedingungen zum Vorschein kommt. Mancher gibt z.B. nur an, wenn ein entsprechendes Publikum zugegen ist. Andere hochstapeln in rivalisierenden Sitiuationen. Wieder andere brauchen Alkohol oder Drogen
Sozio-kulturelle Induktion.
In vielen Situationen erscheint hochstapeln normal, z.B. versuchen
die meisten Menschen beim Kennenlernen vor allem ihre "Schokaladenseiten"
zu zeigen, versuchen mehr oder besser zu scheinen als sie sind. Gutes und
anerkanntes Sozialverhalten, besonders in neuen Situationen, wenn es darum
geht, einen guten Eindruck (Medien, Wirtschaft, Bewerbung, Gericht, Date)
zu machen, kann in gewisser Weise als Hochstapeln verstanden werden. Ansehen
und gut dastehen ist für viele Menschen verständlicherweise sehr
wichtig.
Induziertes
Hochstapeln durch Alkohol, Drogen, Medikamente.
Alkohol enthemmt, lässt Menschen ihre Zurückhaltung verlieren
und nicht wenige geraten im Übergang zwischen Schwips und Rausch in
maniforme Zustände, wo sie sich toll und mächtig wähnen
und auch so gebärden. So sehen sich dann manche und ihr Leben im Rausch
in verklärter Erhöhung und trumpfen entsprechend auf.
Induziertes
Hochstapeln durch Manipulation, Indoktrination, Suggestion, Gehirnwäsche,
Hypnose.
Man kann Menschen beeindrucken, dass sie toll, bedeutend, wichtig,
fähig und tüchtig sind. Das geschieht nicht immer selbstlos und
aufrichtig, wie in manchen erfolgreichen Psychotherapien oder in der Erziehung,
sondern es kann auch sehr berechnend ausgenutzt werden, z.B. in der Werbung
und in der Politik, wenn etwa die eigene Nationalität als andern überlegen
gepriesen oder erlebt wird. So sind die Medien nichts anderes als gigantische
Suggestions- und Manipulationsapparate. Der Rassenwahn, den Hitler
und Goebbels des deutschen Massen einbleuten, kann auch als gigantische
- und wie wir inzwischen wissen - gemeingefährliche, völkermörderische
Hochstapelei betrachtet werden. Bei vielen Hochstaplern verwischen sich
im Laufe der Zeit die Realitätsgrenzen und so manche Illusion und
Lüge wandelt sich im Laufe der Zeit zur subjektiven
Wahrheit und Wirklichkeit. Sind die Realitätsgrenzen endgültig
verschwunden, ist Hochstapelei in Wahn
übergegangen, der hin und wieder Menschen auch glücklich oder
zufrieden machen kann.
Induziertes
Hochstapeln - Exkurs: Heilsames Hochstapeln in der Psychotherapie?
Hochstapelei kommt in der Psychotherapie in zwei Hauptvarianten vor,
die beide als Heilwirkfaktoren gelten können: 1) Kompetenzausstrahlung
der TherapeutIn und 2) in Form von positiven, selbstwertfördernden
Suggestionen. Während Suggestionen
in der Therapie sehr nützlich und hilfreich sein können, sind
sie in der Diagnostik Gift
und ein schwerer Kunstfehler.
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Hochstapler site:www.sgipt.org. |
korrigiert: irs 10.04.05