Soziologie der Mode
Stichwortartikel von René König und Hartfiel
/ Hillmann
zusammengestellt von Rudolf Sponsel, Erlangen
König, René (1969). Mode. Stichwort in: Bernsdorf, Wilhelm (1969, Hrsg.). Wörterbuch der Soziologie. Stuttgart: Enke, S. 717-718.
"Die M., seit altersher ein Lieblingsthema der Philosophen,
hat schon früh das Interesse der Soziologen erregt. Die Beschäftigung
mit ihr wird gleichsam zum Testfall der soziologischen Theorie, die man
gern auf das augenfällige und allgemein vertraute Thema der M. anwendet,
um daran ihre Leistungsfähigkeit zu illustrieren. Insbesondere psychologisch
orientierte Soziologen versuchten herauszufinden, welche sozialen Mechanismen
dafür verantwortlich sind, daß sich einzelne modische Verhaltensweisen
in relativ kurzer Zeit über immer größere Menschenmengen
verbreiten, bis eine gewisse Uniformität entsteht, die dann in einem
unerwarteten Moment einer neuen M.welle weicht.
"Diffusion" von Verhaltensweisen ist aber
ein sowohl sozialpsychologisch als auch soziologisch relevanter Prozeß,
bei dem man gewissermaßen in statu nascendi beobachten kann, welche
Faktoren für die Entfaltung sozialer Strömungen verantwortlich
sind, die sich im übrigen sowohl im wirtschaftlichen wie im kultuellen,
im politischen wie im allgemeinen Bereich der Öffentlichkeit finden.
Das heißt mit anderen Worten, daß wir M. in einem doppelten
Sinne verstehen: im eigentlichsten Sinne bedeutet sie den Wandel der Bekleidung
und der Alltagsgeselligkeit, der Wohnweise und überhaupt der Gestaltung
des ästhetischen Lebens; in weiterem Sinne wird der Ausdruck M. jedoch
auch auf den wiederkehrenden Wandel anderer Verhaltensformen angewendet.
Im letzteren Sinne hat man sagen können, daß M. "den ganzen
Menschen erfaßt" (René König). Sie wird damit
zum Ausdruck für alle kurzfristigen Veränderungen überhaupt,
ganz gleich was dadurch betroffen wird. Die Beschäftigung mit der
M. ist also ausgerichtet auf den "sozialen Wandel", nur daß sie sich
gewissermaßen auf die Analyse der Oberflächenschicht sozialen
Geschehens beschränkt und (zumeist) die tieferen Veränderungen
des sozialen Systems nicht berührt, die struktureller Natur sind.
Gelegentlich werden aber modische Wandlungen auch zum Ausdruck fundamentalster
und entscheidendster Wandlungen, wie etwa beim Übergang von der Antike
zur abendländischen Kultur oder von der Renaissance bis zur französischen
Revolution oder noch im Zeitalter der industriellen Massenfertigung, in
dem wir heute leben.
Entsprechend den verschiedenen Sozialstrukturen
wandeln sich auch die Ausbreitungsformen der M. und ihre Beschleunigung.
Schon in den vorgeschichtlichen und primitiven Gesellschhaften gibt es
M., wie die sich wandelnden Formen des Schmuckes z.B. zeigen. Allerdings
ist dieser Wandel sehr langsam. Die Tendenz geht hier auf die Ausbildung
fester Traditionsformen, die sich nur in sehr weiten Abständen wandeln.
Mit der Differenzierung des hierarchischen Gesellschaftsaufbaus im Laufe
der Kulturentwicklung ändert sich dies, und zwar um so mehr, je mehr
Ränge der Oberklassen miteinander in Wettbewerb treten. Die Unterklassen
zeigen allerdings geringe Wandelbedürfnisse, so daß für
sie eher die relativ stationäre "Tracht" bezeichnend ist. Früher
wurde dies ständische Modell der modischen Diffusion gern überschätzt,
indem man annahm, daß die Nachahmung der Oberklassen durch die unteren
erstere zu einem immer schnelleren M.wechsel veranlaßte. S. R.
Steinmetz zeigte aber mit Recht, daß die Oberklassen im Ständesystem
im Grunde die Nachahmung durch die unteren Klassen durch Monopolisierung
zu verhindern suchten (Kleiderverbote). Die Nachahmung hält sich also
eigentlich nur in der Oberschicht; wenn eine Nachahmung durch Unterschichten
stattfindet, ist dies ein Zeichen dafür, daß das Ständesystem
bereits im Abbröckeln ist. [>718]
In der modernen Industriewirtschaft mit ihren neuen
Techniken der Massenfertigung entfaltet sich der modische Wettbewerb insbesondere
in den jüngeren Altersklassen der Mittelschichten, während die
Oberschichten eher modisch zurückhaltend werden. Dabei sind vor allem
die Frauen führend. Die M. spielt eine wesentliche Rolle im ästhetischen
Selbstgestaltungsprozeß der großen Massen und wird demzufolge
ein beliebtes Objekt der Soziologie und Sozialpsychologie des kollektiven
Verhaltens.
-> Fest und Feier, Gewohnheit, Konvention, Sitte, Verbrauch, Verbraucher.
Bibliographie: G. Simmel: Philosophie der M., Berlin 1905. — J. C. Flugel: The Psychology of Clothes, 3. Aufl. London 1950. — S. R. Steinmetz . M., in: A. Vierkandt (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie Stuttgart 1931. — P. Nystrom: Economics of Fashion, New York 1928.— R. König und P. W. Schuppisser: Die M. in der menschlichen Gesellschaft, Zürich 1958. — I. Brenninkmeyer: The Sociology of Fashion, Opladen 1963. — R. König: Kleider machen Leute, Frankfurt 1968. R. König"
"Mode (lat.), Sitte, Brauch, Konvention, Zeitgeschmack; im engeren Sinne
spezif. ästhet. Wertvorstellungen als soziale Normen über individuelles
oder soziales Verhalten, Wohnweise, polit. Urteilen, Sichkleiden usw.;
Ausdruck u. Medium der sozialen Anpassung u. Normierung ebenso wie der
individuellen Selbstdarstellung, Abhebung u. Exklusivität. M. beinhaltet.
da sie gleichzeitig allg. Norm u. Abweichung von der Norm bedeutet, ein
wesentl. Moment dynam. Ges.struktur bzw. sozialen Wandels. M. fehlt in
allen Ges.en, in [> 509] denen die Tradition einen ges. Wert an sich darstellt.
Die universelle Verbreitung des Phänomens M. veranlaßt immer
wieder, über die der M. evtl. zugrundeliegenden menschl. Grundantriebskräfte
zu forschen (natürl. Neugierde, erot. Werbung, Individualisierungswunsch).
Die spezif. sozialen Ausdrucksformen u. Schwerpunkte
der M. sind dem histor. Wandel unterworfen. Von bes. soziol. Interesse
ist die M. als Einfluß-, Führungs- u. Herrschaftsmittel u. als
Ausdruck des Verhältnisses der sozialen Schichten zueinander. Ihre
große Bedeutung hat die M. erst mit der von sozialer Mobilität,
Anonymität u. Massenwohlstand (einschl. Muße u. Freizeit) gekennzeichneten
entwickelten Industrieges. erhalten. War z.B. in
vergangenen traditionalen Ges.en das Exterieur (Kleidung, Benehmen)
ein Ausweis für die Standeszugehörigkeit, so kann nunmehr - in
gewissen Grenzen - Klassen- u. Schichtenzugehörigkeit durch Anpassung
des Exterieurs an die Normen der betr. M. erreicht werden. M. ist damit
Medium des sozialen Wettbewerbs u. des Aufstiegs- u. Auszeichnungsstrebens
geworden. Unterhalb der sozialen Oberschichten, die nach wie vor - entsprechend
den ständ. Traditionen - auf langfristig gültige Konventionen
u. auf Schutz ihrer Exklusivität vor Nachahmung achten, sind die
Angehörigen der oberen Mittelschichten zu M.führern geworden.
In dem Maße, wie eine Breitenwirkung gelingt, wird die Besonderheit
u. der Führungsanspruch der M. verschlissen, u. es beginnt eine neue
M.welle. Die wellenförmige Ausbreitung der M. "nach unten" wird mittels
schichtenspezif. Modernitätsindices, d.h. über Maßzahlen
für den Grad "moderner", "gegenwartsnaher" Grundeinstellungen versch.
Bevölkerungsgruppen verfolgt. Sowohl das Nachahmungs- (Konformitäts-)
als auch das Differenzierungs- (Individualisierungs-) Streben in der M.
werden Triebkraft der Massenproduktion von Gebrauchs- u. Verbrauchsgütern,
die darum weniger um der individuellen Bedürfnisbefriedigung als um
des sozialen Prestiges willen konsumiert werden, wobei solcher Konsum durch
werbepsycholog. Methoden der Produzentenseite noch verstärkt wird.
->Konsumsoziologie.
Th. Veblen, Theorie der feinen Leute. 1958; P. Nystrom, Economics of
Fashion, New York 1928; S. R. Steinmetz, Die M. (in: ders., Gesam. kleinere
Schriften zur Ethnologie u. Soziol., Bd. 3, Groningen 1935); R. König,
B. W. Schuppisser. Die M. in der menschl. Ges., 1958; S. Kätsch, Teilstrukturen
soz. Differenzierung u. Nivellierung in
einer westdt. Mittelstadt, 1965; R. König, Kleider u. Leute, 1967;
P. Heintz, Die M. als ges. Phänomen (in: ders., Einführung in
die soziol. Theorie, 21968); R. König, Macht u. Reiz der
M., 1971; M. Curtius, W. D. Hund.
M. u. Ges., 1971: K. G. Specht u. G. Wiswede, Marketing-Soziol., 1976."
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