Begriff, Begriffsanalyse und Gebrauchsbeispiele in der Anthropologie, Soziologie, Politikwissenschaft und Politik
Originalarbeit von Rudolf Sponsel, Erlangen
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Begriffsanalysen (Überblick).
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Begriffsanalyse Begriff.
Definition
Begriff.
Signierung
Begriffe und Begriffsmerkmale (BM).
Vorbemerkung Die Anthropologie ist die Wissenschaft
vom Menschen. Sie hat durch die Kulturanthropologie auch eine große
Nähe zur Soziologie. Für die Beurteilung der Begriffsbildung
und des Denkens ist es sehr wichtig, die verschiedenen Entwicklungsstufen
in den verschiedenen Völkern und ihrer Geschichte zu beachten. Die
herabwürdigende Ausdruckweise
primitive
Völker möchte ich hierbei nicht übernehmen und
stattdessen von Naturvölkern sprechen. Wenn man das Denken,
Begriffe und Begriffsentwicklung richtig verstehen will, muss man nicht
nur Tier- und Entwicklungspsychologie
betreiben, sondern auch Behinderungen (Gehör- und Sprachlose), die
Naturvölker und Psychopathologie (z.B. den Wahn)
studieren.
Theorie der Menschenkenntnis
Aus S.42f: Humboldt, Wilhelm von (1797) Anthropologie und Theorie der
Menschenkenntnis [Das achtzehnte Jahrhundert]. In: Wagner, Hans-Josef von
(2002)
"III. Wesen und Begriff der nothwendigen Charakteristik
unsrer Zeit.
Diese Charakteristik ist bestimmt, die wirkliche Gegenwart nach einem Vernunftideal zu beurtheilen. - Begriff dieses Ideals. - Aus jener Bestimmung und diesem Begriff herfliessende Beschaffenheit derselben. - Inwiefern sie historisch oder philosophisch? - speculativ oder praktisch ist?
IV. Bemerkungen über einige schwer zu erfüllende Erfordernisse
jeder Charakteristik überhaupt. - Erörterung der frage,
worin der Charakter eigentlich besteht?
Die Kenntnis menschlicher Charaktere ist bisher nicht genug bearbeitet
worden. - Bedeutung des Worts Charakter.
(BMDefiniendum),(BMDefCha)
- Gewöhnlicher Fehler die Verschiedenheit der Charaktere
() in verschiedenen Graden der absoluten Kraft aufzusuchen. - Der Charakter
(BMDefCha) beruht auf
dem Verhältniss - und der Bewegung der Kräfte. - Daher muss er
nach seiner subjectiven Beschaffenheit, nicht nach seiner objectiven Brauchbarkeit
beurtheilt - und jene nach der Art ihrer Entwicklung und ihrer Thätigkeit
genetisch gezeichnet werden. - Bei jeder Charakterschilderung
(BMmerkm) muss man von
den Aeusserungen und Thatsachen, die eine unmittelbare Beobachtung verstatten,
zu den innern Eigenschaften, die nur mittelbar wahrgenommen werden können,
übergehen. - Inwiefern auch die physische Beschaffenheit und die äussre
Gestalt, ästhetisch und physiognomisch betrachtet, als eine Erkenntnisquelle
für den innern Charakter
(BMdiff) gelten kann? -
Einwurf gegen die Tauglichkeit der hier aufgestellten Gattung
der Menschenkenntniss (SBLMeKen)
zur Schilderung und Beurtheilung einer ganzen Periode der Menschheit im
Grossen, und Beantwortung desselben (BMfragl).
1. Unter allen Studien sind wenige bisher so sehr
vernachlässigt worden (BMKritik),
als das Studium menschlicher Charaktere
(BMKritik). Da man dasselbe
immer nur zum Behufe eines fremden Zwecks, nie aber für sich selbst
zu bearbeiten pflegt, so hat es das ungünstige Schicksal erfahren,
immer zu einseitig, von den Philosophen auf eine zu allgemeine, von denen,
die allein der unmittelbaren Beobachtung vertrauen, auf eine zu particulaire
Weise behandelt zu werden (BMKritik).
Die Moralisten, Geschichtschreiber und Dichter waren es vorzüglich,
in deren Händen sich die Charakterschilderung
(BMmerkm) befand. Die ersteren,
unter denen Theophrast und seine Französischen Nachfolger mit Recht
die erste Stelle einnehmen, haben einzelne Seiten mit treffender Richtigkeit,
nirgends aber ganze Charaktere
(), am wenigsten eigenthümliche und ungewöhnliche, oder auch
nur sehr individuelle ge-[>43]zeichnet.1
Der Geschichtschreiber entfernt sich zu leicht aus seinem Gebiet, wenn
er zu tief in die Individualität der Charaktere
() eingeht; denn er kann es nicht vermeiden, die Lücken, bei welchen
ihn seine Quellen velassen, als Dichter auszufüllen, wenn er einmal
eine vollständige Schilderung entwerfen will. Die Muster in dieser
Gattung dürften daher unter allen am schwersten zu finden seyn. Plutarch,
der so lange dafür galt, besitzt bloss das Verdienst, dass er zuerst
deutlicher einsah, dass der Charakter
() sich mehr in dem täglichen Privatleben, als in glänzenden
und schimmernden Thaten zeigt. Zur ächten Charakterschilderung
(BMmerkm) fehlt es ihm
eben so sehr an Genie als an philosophischem Geiste.
Die einzigen, die hier etwas Wichtiges geleistet
haben, sind daher die Dichter, vorzüglich die dramatischen und die
des neueren Romans. Da sie ihre Charaktere
() neu schaffen, und für die Einbildungskraft schaffen mussten, so
durften sie, gleich dem bildenden Künstler, keinen Zug unvollendet
lassen, und mussten alles bis auf Mine, Ton und Gebehrde berechnen. Indess
kommen auch hier, in Absicht auf die vollständige Zeichnung ganzer
Charaktere () in ihrer lebendigen Bewegung, nur wenige in Betrachtung.
Der griechischen Bühne war diese Kunst, ihrer grossen Vorzüge
ungeachtet, fast gänzlich fremd. Die Helden der griechischen Tragödie
haben fest gezeichnete und scharf bestimmte Charakterzüge
(), aber sie treten, als eben so viele einmal übliche Formen, mit
einzelnen Leidenschaften, Gesinnungen und Maximen auf, die unmittelbar
aus ihrer Lage und der Geschichte entlehnt sind. So ist Antigone immer
nur von den zärtlichen und muthvollen Gefühlen für ihren
Bruder beseelt; Elektra immer mit nieerbarmender Rache ihres gemordeten
Vaters beschäftigt; in Eteokles und Polynices herrscht bloss eifersüchtiger
Ehrgeitz; Ajax fühlt nur die erlittene Schmach; Dejanira (der feinste
und originellste Charakter () der griechischen
Dichtkunst) nur die treuste, reinste und zarteste Liebe für ihren
abwesenden Gatten. Die Griechen, deren ächt ästhetischer Sinn
immer die reinen, man kann manchmal sagen, die nackten Formen jeder Gattung
aufstellte, sahen ein, dass die Macht des Trauerspiels auf der Katastrophe
beruht, dass in ihm das Schicksal den Menschen verdrängt; daher verschwindet
Oedipus Charakter () vor dem Gemüthe
des Lesers in seinem Unglück. Die ältere Comödie der Griechen
hat eine Menge charakteristischer Züge, aber keine ausgezeichneten
Charaktere; die neuere, soviel sich aus den Nachbildungen der Römer
schliessen lässt, glänzte vorzüglich durch diese, aber sie
glichen den vorher berührten moralischen. Es waren einzelne, obgleich
durch alle ihre Erscheinungen durchgeführte Leidenschaften, Tugenden,
Laster.
Charakterbegriff
Aus S.45f: Humboldt, Wilhelm von (1797) Anthropologie und Theorie der
Menschenkenntnis [Das achtzehnte Jahrhundert]. In: Wagner, Hans-Josef von
(2002). Gesperrt bei Humboldt hier fett, fett-kursiv und 14pt sind Hervorhebungen
R. S.
"2. Der Ausdruck: Charakter
(BMAnalyse) wird, dem
gewöhnlichen Sprachgebrauche nach, fast ausschliessend nur auf die
Sitten und die Gesinnungen eines Menschen bezogen, und als ein Maassstab
zur Beurtheilung seiner Moralität angesehen; dehnt man ihn auf die
Beschaffenheit des Geistes und des Geschmacks aus, so bezeichnet man ihn
vorzugsweise mit dem Beiworte des intellectuellen oder ästhetischen.
In einem andern Verstande deutet man dadurch die ausdauernde Beharrlichkeit
in der einmal angenommenen Denkungs- und Handlungsweise an, und alsdann
heisst: Charakter haben (BMDefiniendum)
soviel als einen consequenten Charakter
(BMDefiniens) zeigen.
In diesem Sinn spricht man sehr vielen Menschen allen Charakter ganz und
gar ab. Keine dieser beiden Bedeutungen ist einer philosophischen Theorie
der Menschenkenntnis, deren erste Grundlinien wir hier zeichnen, angemessen
(BMKritik). Diese begreift
unter dem Charakter (BMDefCha)
alle diejenigen Eigenthümlichkeiten zusammen, welche den Menschen,
als ein physisches, intellectuelles und moralisches Wesen (BMBdif)
betrachtet, sowohl überhaupt, als auch insbesondre einen vor dem andern
auszeichnen; und da nun kein Mensch ohne alle, ihm ausschliessend angehörende
Züge selbst nur gedacht werden kann, diese aber in der ganzen Natur
des Individuums zerstreut liegen, so kann sie weder ein Subject völlig
charakterlos erklären, noch auch sich auf irgend einen einzelnen Theil
der Beschaffenheit desselben beschränken (BMKritik).
Je grösser aber die Zahl der Gegenstände ist, die sich dem
Geist auf einmal darbietet, desto leichter verliert sich, wenigstens anfangs,
die Bestimmtheit des Bildes. Er befindet sich in Verlegenheit, wobei unter
so vielem er stehen bleiben soll, und geräth sehr leicht in Gefahr,
statt der mehr eigenthümlichen und bestimmter bezeichnenden Züge
nur die auffallendsten und hervorstechenden aufzufassen. Hierbei wäre
nun zwar an sich nur wenig verloren, wenn es nur möglich wäre,
die bei diesem Verfahren nothwendig übrigbleibenden Lücken nach
und nach auszufüllen. Aber das Schlimme in der Menschenkenntniss
((SBLMeKen) ist gerade
das, dass jede Lücke zugleich eine Unrichtigkeit ist, und dass man
einen Charakter () nie von einer einzigen
Seite vollkommen richtig kennt, solange man ihn nicht zugleich auch von
allen andern durchschaut (BMKritik).
Um daher hier die rechte Bahn nicht zu verfehlen, muss man die Kunst besitzen,
in dem Mannigfaltigen selbst mit Schnelligkeit gerade dasjenige Gemeinsame
aufzufinden, wodurch das Ganze zu einer eignen und abgesonderten Gestalt
wird.
Denn das Eigenthümliche
macht den Charakter des Individuums (BMDefCha)
aus, und das ganze Geschäft der Menschenbeobachtung besteht daher
in der zwiefachen Bemühung, die unterscheidenden Merkmale eines Subjects
vor dem andern aufzusuchen, und aus ihnen die Natur eines jeden herzuleiten.
Worin aber liegt diese Eigenthümlichkeit? welches ist eigentlich der
Sitz des Charakters, durch den sich ein Mensch vor dem andern unterscheidet?
(BMFrage) welches ist der
Punkt, auf den sich der Blick, wenn ihn die Man-[>46] nigfaltigkeit der
Erscheinungen zerstreut, mit sichrer Hoffnung des Erfolges zu sammeln vermag?
Die gewöhnliche Antwort auf diese wichtige
Frage, deren Auflösung die unverkennbare Gleichheit des Menschengeschlechts
eben so grosse Schwierigkeiten entgegensetzt, als die mannigfaltige Verschiedenheit
desselben, ist die, dass der Grad der innern Kraft vorzüglich ein
Subject vor dem andern auszeichnet. Fast alle Urtheile über Menschen
im gewöhnlichen Leben beziehen sich auf diese Verschiedenheit, und
nicht genug, dass man bei einer und eben derselben Kraftäusserung
verschiedene Abstufungen bestimmt, so setzt man auch eine Thätigkeit,
eine Kraft selbst der andern vor, bald nach ihrer Tauglichkeit zu äussern
Zwecken, bald richtiger nach der innern Anstrengung, die sie kosten. Der
Mensch ist einmal von selbst zu geneigt, vergleichend zu schätzen
und auch das Verschiedne nach Einem Maassstab zu messen, und die Bedürfnisse
des Lebens führen ihn zu oft zu dieser Beschäftigung zurück,
als dass er sich nicht sehr schwer an eine freie und unabhängige Würdigung
gewöhnte. Denn sonst ist es sehr offenbar, dass der Grad
ein höchst untauglicher Bestimmungsgrund menschlicher Charaktere
(BMGdUdM) ist. Nur das
vollkommen Gleiche kann eigentlich mit einander verglichen werden; und
der Grad geäusserter Kraft dient daher wohl zur Vergleichung verschiedner
Zustände desselben Charakter (),
nicht aber zur Vergleichung verschiedner Charaktere
() unter einander. Auch liegt immer etwas Anmaassliches darin, über
die Gränze absprechen zu wollen, die ein Charakter
() in seiner Entwicklung erreichen kann, und was hier das wichtigste ist,
niemals kann man durch diese Bestimmung die eigentliche und ursprüngliche
Natur einer Individualität entdecken. Denn seiner wesentlichen Beschaffenheit
nach ist jeder Charakter () nothwendig
unendlich; keine Kraft schreibt sich selbst einen Stillstand in ihrer Entwicklung
vor; alle Gränzen, die sie sich setzt, hindern sie nur, in eine fremde
Bahn überzugehen, oder sind vielmehr nur Anlagen, ausschliessend und
mit Festigkeit in der eigenen zu beharren; in dieser können nur äussere
Umstände sie zurückhalten, und selbst diese letzteren wird sie
noch, wenn ihr nur hinlängliche Zeit zu wirken verstattet ist, unfehlbar
besiegen.
Es zeigt sich hier wieder der im vorigen Abschnitt
bemerkte Unterschied zwischen der speculativen und
empirischen Menschenkenntniss (SBLMeKen),(BMdiff).
Diese muss, ihrer Absicht gemäss, ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich
auf den Grad der Kraft richten, mit welcher ein Individuum thätig
ist. Sie hat bestimmte Zwecke in bestimmten Zeiten zu erfüllen, und
muss daher das Verhältniss der Kraft zur Wirkung berechnen. Jene sieht
ausschliessend auf das ursprüngliche Wesen des Charakters()
in der ganzen Dauer seiner Wirksamkeit, und da sie sich an keinen einzelnen
Zustand heftet, so findet sie nirgends Veranlassung, verschiedene Grade
zu bestimmen. Die wahr-[>47]haft praktische steht wieder zwischen beiden
in der Mitte. Sie ist weit entfernt, in dem absoluten Grade der Kraft eines
Charakters
() sein Wesen aufzusuchen, und noch mehr, ihm irgendwo eigenmächtig
einen Stillstand gebieten zu wollen; sie betrachtet jeden als eine unendliche
Grösse, und legt immer die Ueberzeugung zum Grunde, dass auch der
unscheinbarste und mangelhafteste, sobald er nur Zeit und Gelegenheit zu
seiner Entwicklung erhält, sich zu seiner ersten und ursprünglichen
Reinheit herzustellen vermag. Da sie aber immer von einem bestimmten Zustand
ausgeht und zu einem bestimmten zurückkehrt, so übersieht sie
darum den wirklichen, wenn auch zufälligen Grad der Kräfte nicht,
welchen sie in diesem einzelnen Zeitpunkt erreicht haben.
Die Verschiedenheit jener beiden Ansichten hat sich
in unsrer Zeit bei der Behandlung der öffentlichen Geschäfte
der Nationen auf eine merkwürdige Art gezeigt. Kühne, ausschliessend
an speculative Betrachtungen gewöhnte, vielleicht auch schwärmerische
Köpfe haben Plane erfunden, und vermöge der Eigenheit der letztverflossenen
Jahre, wo wir die Rollen so sonderbar vertauscht, und Männern, die
zu ganz andern Geschäften berufen schienen, die Führung von Nationen
anvertraut sahen, zum Theil wirklich ausgeführt, die wohl auf die
menschliche Natur überhaupt, nicht aber auf ihren individuellen Zustand
in dem gegenwärtigen Augenblick berechnet waren. Dagegen haben andre,
vermöge der Eingeschränktheit ihres Gesichtskreises, oder der
ängstlichen Besorglichkeit ihres Charakters
(), und indem sie die vorübergehenden Schranken des Zufalls mit den
ewigen der Natur verwechselten, die Menschheit an eine Stufe der Ausbildung
binden wollen, auf der sie nicht einmal jetzt noch durchgehends steht,
und die sie wenigstens eben zu verlassen im Begriff ist. Es ist schwer
zu bestimmen, welche von beiden ihrem Zeitalter mehr geschadet haben. Statt
uns hierüber ein Urteil zu erlauben, sey es uns genug, zu bemerken,
dass das Unheil, welches die ersteren stifteten, dadurch vermindert wurde,
dass die Ausführung selbst sie zwang, sich den Umständen der
Zeit biegsamer anzuschmiegen, der Nachtheil aber, den die letzteren anrichteten,
das Widerstreben der Natur selbst mässigte, die sich immer nur bis
auf einen gewissen Grad und eine gewisse Zeit hindurch beschränken
und einengen lässt.
3. Dem so eben gerügten Fehler, alles, auch
das Unähnliche unter einander zu vergleichen, überall nach Graden
abgemessene Abstufungen zu bestimmen, und schlechterdings nur Eine Klasse
zu kennen, ist der andre, in unsern Tagen vielleicht gleich häufige
entgegengesetzt, jedes einzelne Individuum zu einer besondern Klasse zu
erheben, jede Varietät, sollte ihre Eigenthümlichkeit auch bloss
auf ihrer Unvollkommenheit beruhen, eigen, und jede Eigenheit interessant
zu finden. Jenen treffen wir gewöhnlich bei gemeinen und eingeschränkten
Köpfen an, diesen bei reizbaren [>48] und geistvollen Personen, die
aber nicht gehörig an richtige Beurtheilung und strenges Nachdenken
gewöhnt sind. Um nun mit Vermeidung dieses doppelten Fehlers den richtigen
Maassstab zur Schätzung verschiedener Charaktere
() zu finden, muss man zuvörderst festbestimmte Gattungen derselben
absondern. Diese dürfen nicht bloss durch Lücken, die ausgefüllt,
oder Mängel, die verbessert werden können, von einander verschieden
seyn, sondern müssen vermöge dauernder und wesentlicher Merkmale
auch in ihrer höchsten Ausbildung noch immer, nur feiner unterschieden
bleiben. Ist diess der Fall, so lassen sie sich nicht mit einander vergleichen,
sondern nur jede nach den idealischen, und durchaus formellen Foderungen
beurtheilen, welche an jede Individualität ergehen, und die wir im
vorigen Abschnitt (III, 2.) berührt haben; nur insofern ein Subject
diese in seiner Art mehr oder weniger als ein andres erfüllt, kann
es demselben vorgezogen oder nachgestellt werden. Der Unterschied dieser
Gattungen, und mithin aller gesetzmässigen Charakterverschiedenheit
() beruht nicht auf einer Verschiedenheit der Kräfte an sich, da hierin
die ganze Menschheit sich durchaus gleich ist; ebensowenig auf dem absoluten
Grade derselben, da sie hier nur in ihrer ganzen Dauer betrachtet werden,
für die sich der Grad nicht berechnen lässt; er kann demnach
nur in zwei noch übrigen Stücken liegen, in denen wir also auch
einzig dasjenige zu suchen haben, was wir im genauesten Verstände
dieses Worts den Charakter () nennen.
Diese sind das Verhältniss und die Bewegung der Kräfte. Beide
fodern, da nicht allen sogleich klar seyn dürfte, was hier unter denselben
verstanden wird, noch eine kurze Erläuterung.
Erstlich: So gewöhnlich es ist, das
Uebergewicht einer Kraft oder die Herrschaft einer Neigung als ein fehlerhaftes
und schädliches Extrem zu erblicken, so selten treffen wir das eine
oder das andre in vollkommen glücklich organisirten Charakteren
() als einen Vorzug an. Das Bemühen, durch Erhaltung eines richtigen
Gleichgewichts Einheit zu bewirken, drängt das zu freie Streben einer
einzelnen Neigung zurück, und der grössere Spielraum, den man
Einer Kraft verstattet, artet zu leicht in eine Unterdrückung der
übrigen aus. Wird indess dieser Nachtheil auch nur so weit vermieden,
dass die Reinheit der Moralität unverletzt bleibt, und die Bestimmtheit
der Grundsätze und die Richtigkeit des Geschmacks nicht zu beträchtlich
leiden, so entstehen auf diesem Wege gerade die interessantesten Charaktere
(), die eigenthümlichsten und mannigfaltigsten Gestalten. Indem die
Natur immer eine überwiegende Kraft begünstigt, und die bildende
Vernunft zugleich den übrigen ihre freie Wirksamkeit sichert, verbinden
sich alle fester und inniger mit einander, lernen gleichsam eine die Bahn
der andern gehen, und bringen neue Verbindungen und Formen hervor. Freilich
giebt es auf diesem Wege auch verderbliche Verirrungen, und im Gebiete
der Wissenschaften z.B. haben dichterische Philosophen, [>49] und
philosophirende Dichter zur Genüge gezeigt, dass das ächte Genie
lieber Einen Pfad entschieden und ausschliessend wählt, als auf eine
widernatürliche Weise zwei streitende Stoffe mit einander vermischen
zu wollen. Leidet indess bei Verbindungen dieser Art keine der einzelnen
thätigen Kräfte in ihrer Freiheit, wird in dem soeben gebrauchten
Beispiel die Strenge, Reinheit und Bestimmtheit der philosophischen
Begriffe (BMphilosB)
unverletzt erhalten, so kann nur eine einseitige Beschränktheit des
Geistes es misbilligen, wenn der Arbeit des Verstandes und der Vernunft
auch das Werk der dichterischen Einbildungskraft beigesellt wird. In je
mehr Formen vielmehr derselbe Stoff gegossen, je mehr er auf neue und vorher
unversuchte Weise bearbeitet wird, desto mehr gewinnt er, nicht zwar an
objectivem, aber an subjectivem Werthe für den Bearbeiter, desto fruchtbarer
wird er für den menschlichen Geist.
Wo durch das Uebergewicht eines einzelnen Seelenvermögens
eine eigenthümliche Charakterform
() auf eine, allen Foderungen des Ideals entsprechende Weise entsteht,
da wird sie dem Gehalte nach keine andern Handlungen, keine andern Maassregeln
hervorbringen, als welche, ohne alle Rücksicht auf individuelle Ansicht,
die Natur der Sachen selbst anrathen muss; in der Beschaffenheit der Handlungsweise
allein, in dem Geist und der Gesinnung, die aus ihr spricht, wird der ganze,
aber wichtige Unterschied liegen. Diess ist es, wodurch vorzügliche
Menschen sich von gewöhnlichen unterscheiden, diess Gepräge der
Eigenthümlichkeit, womit wir ihre Handlungen, ihre Worte, ihre Gebehrden
bezeichnet finden. Diess entspringt allemal aus dem Uebergewicht einer
Kraft, einer Neigung, oder einer Ansicht der Dinge, und je weniger dasselbe
den Gehalt der Gedanken, Empfindungen und Grundsätze verändert,
je mehr es bloss ihre Form und ihre Manier bestimmt, desto reiner und schöner
ist die Stärke und das Feuer, die es hervorbringt.
An nichts heftet sich daher das Studium des Charakters
mit so günstigem Erfolge, als an die Aufsuchung dieser herrschenden
Seite. Welche andre es auffassen könnte, so läuft es beständig
Gefahr, etwas zu finden, wodurch das bestimmte Individuum entweder nicht
ganz, oder nicht ausschliessend bezeichnet wird. An edlem, emporstrebendem
Ehrgeitz, an feiner und tiefer Staatsklugheit, in der Kunst, die Menschen
ohne Mühe nach dem Winke ihres Willens zu beherrschen, in dem genievollen
Talent, auf dem Thron und in der Schlacht den entscheidenden Augenblick
zu benutzen, mögen Alexander, Cäsar und Friedrich einander im
Ganzen und bis auf schwer zu bestimmende Grade vielleicht ähnlich
genug seyn. Aber wie scharf sind sie durch die herrschenden Züge unterschieden,
welche aus dem individuellen Charakter
() eines jeden hervorleuchten? Alexander, phantasiereich und dichterisch,
wähnte nach Art der alten Heroen seiner Nation, in die Fussstapfen
fabelhafter Gottheiten zu treten, und suchte, [>50] ...
... [>57]
5. Die erste Regel jeder Charakterschilderung
(BMmerkm), die sich nach
den bisherigen Betrachtungen beinah von selbst darbietet, ist die, dass
der Charakter (BMDefCha)
vorzüglich nach seinem subjectiven Werthe, und seinem innern Zusammenhänge,
nicht aber nach seiner äussern Tauglichkeit zu diesem oder jenem Zwecke,
ja nicht einmal, wenigstens nicht ausschliessungsweise, nach der objectiven
Güte seiner Producte beurtheilt, der Mensch nicht mit seinen Werken
verwechselt werde.
Nur was wir sind, ist vollkommen unser Eigenthum,
was wir thun, hängt von dem Zufall und den Umständen ab. Jeder
Mensch, pflegt man mit Recht zu sagen, ist mehr als sein Werk, weil es
ihm nie gelingt, das Ideal, das er im Kopf trägt, zu erreichen; obgleich
in einem andern Sinn auch wiederum das Werk mehr ist als er, da es eine
Frucht seiner gesammelten und exaltirten Kräfte ist, die sonst nur
zerstreut und minder thätig wirken. Die gewöhnliche Beurtheilungsart,
welche, unbekümmert um die Ursachen und Absichten der Handlungen,
nur ihren objectiven Werth prüft, ist praktisch sehr nützlich,
weil sie Gesetzmässigkeit befördert, mit Strenge leere Entschuldigungen
zurückweist, und doch nicht mit Argwohn bei guten Handlungen nach
unedlen Absichten spürt; aber sie ist moralisch verwerflich, weil
sie Schuld und Verdienst nicht abwägt, und philosophisch völlig
unbrauchbar, weil sie nur das Betragen, nicht den Charakter
(BMdiff) untersucht. Die
Menschenkenntniss kann als ein Zweig der Naturkunde angesehen werden, ihr
einziger Zweck ist, den Menschen zu kennen, und zwar das Individuum, nicht
bloss die Gattung; Aeusserungen, Geistesproducte, moralische Handlungen
selbst dienen ihr daher nur als Data, nicht als Richtschnuren ihrer Beurtheilung.
In unsern Tagen indess, wo man häufiger als sonst Passivität
und Schlaffheit mit Bildung und Geistesfähigkeit vereint antrift,
ist der Werth einer ausser sich productiven Kraft schon zu sehr herabgesunken,
und durch übertriebene Vorstellungen von demjenigen, was der Mensch,
unabhängig von aller äussrer Thätigkeit, seyn könne,
[>58] verdrängt worden. Man vergisst, dass die menschlichen Kräfte
wirklicher Lagen bedürfen, um sich zu ihrer wahren Stärke zu
sammeln, dass eine unbestimmte Ausbildung so gut als gar keine ist, und
dass wir tiefer in menschliche Verhältnisse eingehen (das einzige
Mittel wahrer Cultur), wenn wir uns durch selbstthätigen Antheil an
einen kleinen Kreis fesseln, als wenn wir uns durch kaltes Zurückziehn
die Freiheit bewahren, uns jedem zu nahen. Selbst unsre Einbildungskraft
schlummert, und wir bedenken nicht, dass ein Leben, das keine grosse That,
kein wichtiges Werk, nicht einmal das Andenken an eine nützliche Geschäftigkeit
unter einer grossem Anzahl unsrer Mitbürger hinterlässt, ein
verlornes und vergebens verschwendetes Leben ist. Es war nothwendig, dieses
Abweges hier warnend zu erwähnen, da gerade das Studium der Menschenkenntniss
() leicht verführen kann, ein bloss beschauendes Leben zu allzugrossem
Nachtheil eines thätigen zu begünstigen, und über der Schätzung
der blossen innern Anlagen und Gesinnungen der Menschen den Werth äusserer
Brauchbarkeit und Nützlichkeit unrichtigerweise herabzusetzen.
Gewöhnlich wird man auf die subjective Beurtheilung
von Menschen durch die objective ihrer Producte geleitet. Die Tragödiendichter
verschiedner Nationen z.B. vergleicht man gewöhnlich bei Gelegenheit
allgemeiner Untersuchungen über das Trauerspiel, und alsdann beschäftigt
man sich freilich natürlicher mit den objectiven Foderungen, die sie
erfüllt oder nicht erfüllt haben, als mit den interessanten Geistesanlagen,
die sie ihrem nationellen oder individuellen Charakter
() nach einer vor dem andern verrathen. Auf den ersten Anblick sollte man
sogar denken, dass die letztere Rücksicht der allgemeinen Untersuchung
nachtheilig seyn könnte. Dennoch bemerken wir gerade das Gegentheil.
Die Urtheilskraft ist, im Ganzen genommen, geschäftiger in uns als
der Erfindungsgeist, und wir sind mehr gemacht, ein uns gegebnes Gebiet
zu reinigen, als zu erweitern. Wir laufen daher nie so grosse Gefahr, durch
die begierige Aufsuchung neuer, selbst fehlerhafter Varietäten einen
verderbten, als durch die strenge Beurtheilung jeder Eigenthümlichkeit
nach einer Regel einen dürftigen und einseitigen Geschmack zu bekommen.
Richtigkeit ist das Werk der Vernunft, Reichthum ein Seegen der Natur.
Die Thätigkeit der Vernunft steht in unsrer Gewalt, die Gaben der
Natur müssen wir erwarten. Dem Wege, von dem wir hier reden, entgegengesetzt
ist der, wo man von der Beurtheilung der Menschen aus zu der ihrer Producte
übergeht. Dieser ist es, den man in diesem Werke durchgängig
gewählt finden wird. Richtig verfolgt müssen beide an dasselbe
Ziel führen: zu vollkommener objectiver Richtigkeit in entschiedener
subjectiver Eigenthümlichkeit. Natürlicherweise wird indess auf
dem einen die nothwendige Uebereinstimmung, auf dem andern die erlaubte
Verschiedenheit mehr ins Licht gestellt werden, und darum muss man jeden
besonders, mithin beide nach [>59] einander einschlagen. Auch wird
jeder Kopf von Natur nur für den einen gebohren seyn, und sich nur
durch Studium auch an den andern gewöhnen.
Wir können diese Betrachtung nicht zweckmässiger
beschliessen, als mit der Erinnerung an einen wichtigen Charakterzug,
durch den sich die Deutsche Nation (BMautonS)
von allen früheren und gleichzeitigen und das Ende dieses Jahrhunderts
von dem Anfange desselben unterscheidet. Es mag dahingestellt bleiben,
ob man den Deutschen eben so jetzt die entscheidende Stimme in der Kritik,
insbesondre der ästhetischen (bei der wir hier zur Erläuterung
unsers Satzes stehen bleiben können) beimessen dürfe, als man
sie den Franzosen (BMautonS)
unter Ludwig XIV. und noch späterhin einstimmig zugestand. Wenn es
erlaubt ist, diess einen Augenblick anzunehmen, so könnte das Urtheil
beider unmöglich mehr und auffallender entgegengesetzt seyn. Die
Franzosen jener Periode () kannten schlechterdings nur Eine,
zugleich nach den Mustern der Alten und den Gränzen ihrer Individualität
gemodelte Form, dieser Einen Regel unterwarfen sie alles, ohne Schonung
irgend einer Eigenthümlichkeit, in die sie nicht einmal einzugehen
werth achteten. Es ist nicht möglich, um den mildesten Ausdruck zu
brauchen, befremdendere Urtheile über die Griechen und über Shakespeare
zu lesen, als Voltaire, der nicht mit Unrecht für den Repräsentanten
jener Kritiker gilt, so oft ausspricht, und selbst diejenigen, welchen
die Alten ein Gegenstand des täglichen Studiums und der Verehrung
waren, vermögen es nicht, nur auf einen Augenblick aus dem Standpunkte
ihrer Zeit und ihrer Nation (denn der Einfluss von beiden kommt hier zusammen)
herauszutreten. Barthelemy’s Anarcharsis2 liefert hierzu fast
auf jeder Seite die neuesten Beispiele. Wir hingegen gewöhnen uns
jetzt die Eigenthümlichkeiten jeder Zeit und jeder Nation zu studiren,
so viel wie möglich in dieselben einzugehen, und diese Kenntniss zum
Mittelpunkt unsrer Beurtheilung zu machen. Wenn jenes erstere Verfahren
zugleich, wie die Uebermacht des Französischen Geistes so lange that,
die andern Nationen in knechtischer Unterdrückung zurückhielt,
und die Gemeinschaft mit ihnen erschwerte, wenn es ausserdem noch den freien
Blick auf die Menschheit hinderte und verfälschte, so muss dieses
letztere nothwendig zugleich alle Kräfte wecken, die erwachten in
Berührung bringen, und die vollständigste Uebersicht über
alle Theile des Menschengeschlechts zur Hervorbringung der reinsten und
höchsten Humanität verstatten. In der That giebt es keinen ehrwürdigem
Charakterzug,
der unserer Zeit, und man darf es mit Stolz hinzusetzen, unsrer Nation
so ausschliessend angehörte, und so beruhigende und erhebende Hofnungen
für die Zukunft
Aus S. Xf, 52ff: Lévy-Bruhl, Lucien (dt. 1926, 2. A.) Das Denken der Naturvölker. Wien u. Leipzig: W. Braumüller.
Die zentralen Begriffe in diesem Kapitel sind Vorstellungen, Kollektivvorstellung, Vorstellungsverknüpfungen, Vorstellungsverbindungern und das sog. Gesetz das Partizipation. Diese Worte wurden deshalb 14pt-fett-kursiv markiert. Vorstellung kann Begriff gleichgesetzt werden.
"II. Kapitel.
I.
Wenn sich die Kollektivorstellungen (BMLBkolV)
der Primitiven von den unseren durch ihren wesentlich mystischen Charakter
unterscheiden, wenn ihre Geistesart (mentalite), wie ich zu zeigen versucht
habe, anders orientiert ist als die unsere, so müssen wir annehmen,
daß die Vorstellungen () in ihrem
Denken auch nicht so verknüpft sind, wie sie es in dem unseren sind.
Muß man daraus schließen, daß diese Vorstellungen
()
einer anderen Logik gehorchen als der, welche unsere Vernunft leitet? Aber
das hieße zuviel behaupten; denn die .Hypothese würde über
das hinausgehen, was die Tatsachen zu behaupten erlauben. Nichts beweist,
daß die Verknüpfung der Kollektivvorstellungen
(BMLBkolV)
nur von Gesetzen, die einen logischen Charakter haben, abhängen dürfen,
Übrigens könnte die Idee einer Logik, die anders geartet wäre
als die unserer Vernunft, nur ein negativer und leerer Begriff sein. Nun,
wir können wenigstens jedenfalls versuchen, die Art und Weise der
Vorstellungsverknüpfungen
()
im Denken der Primitiven zu erfassen. Wir verstehen ihre Sprachen; wir
schließen mit ihnen Geschäfte ab; es gelingt uns, ihre Einrichtungen
und Glaubensmeinungen zu interpretieren; es gibt also wohl einen möglichen
Übergang, eine wegsame Verbindung zwischen ihrer und unserer geistigen
Beschaffenheit.
Dennoch sind, unter diesem Vorbehalt, die geistigen
Beschaffenheiten verschieden. Die Verschiedenartigkeit wird um so fühlbarer,
je länger die vergleichende Forschung betrieben wird und je mehr Dokumente
es gestatten, sie weiterzuführen. Der Forscher, der eine Gesellschaft
von niedrigem Typus rasch durchreist, hat nicht die Zeit, dieses Problem
zu prüfen. Fast niemals denkt er daran, es zu stellen. Das eine Mal
konstatiert er eine bemerkenswerte Permanenz gewisser Züge der menschlichen
Natur, die sich unter den verschiedensten Bedingungen enthüllen, und
das andere Mal drückt er sein Erstaunen aus, wenn er Zeuge von Denk-
und Handlungsweisen ist, deren Ursprung und Grund ihm entgehen. Er überläßt
es dem Leser, zu erforschen, wie diese Eindrücke, die aufeinander
folgen, untereinander in Einklang zu bringen sind, oder er hält sich
an allgemeine »Erklärungen«, die die traditionelle Psychologie
und Logik liefern, wenn er zufällig von ihnen eine Ahnung hat.
Aber wenn wir die Beobachter anhören, die länger
mit den Primitiven, gelebt haben, und vor allem die, die sieh angestrengt
haben, in ihrer Art zu denken und zu fühlen, sich einzudenken und
einzufühlen, so hören wir eine ganz andere Sprache. Mag es sieh
nun uni die Nordamerikaner (Zd H. Cushing, Major Powell), um die Neger
des Französischen Congo (Miß Kingsley) oder die Maoris Neuseelands
(Elsdon Best) oder um welche »primitive« Gesellschaft immer
handeln, niemals, so sagt man uns, kann ein Zivilisierter sich schmeicheln,
es erreicht zu haben, daß sein Denken genau denselben Verlauf nimmt
wie das des Primitiven, noch auch, daß es den Weg wiederfindet, den
jenes gegangen ist. »Die Geistesart des Maori«, sagt zum Beispiel
Elsdon Best, »ist von Natur aus intensiv mystisch . . . Wir hören
von mancherlei sonderbaren Theorien sprechen, die den Glauben und das Denken
des Maori betreffen. Aber die Wahrheit ist die, daß wir weder das
eine noch das andere verstehen und, was ärger ist, auch nie verstehen
werden. Wii' werden nie mit dem innersten Denken des Eingeborenen vertraut
sein. Denn dazu müßten wir den Lauf von vielen Jahrhunderten
wieder zurück vor folgen können .. bis zu der Zeit, da auch wir
eines primitiven Geistes teilhaftig waren. Und es ist lange her, daß
sich die Pforten zu diesem mysteriösen Weg geschlossen haben.«FNS52-1)
Cushing hatte bei den Zunis eine Art geistigen Bürgerrechts
erworben. Nicht zufrieden damit, jahrelang mit ihnen und so wie sie gelebt
zu haben, hatte er sieh durch ihre Oberpriester einweihen und adoptieren
und in ihre geheimen Gesellschaften an in eh men lassen; bei den heiligen
Zeremonien hatte er, wie die Priester, seine eigene Rolle, deren Ausführung
ihm oblag. Aber gerade die — viel zu wenigen — Arbeiten, die von ihm publiziert
worden sind, erwecken das Gefühl einer geistigen Betätigungsform,
in die sich unser Denken niemals ganz hineinfinden wird. Unsere intellektuellen
Gewohnheiten sind von denen der Zunis allzuweit entfernt. Unserer Sprache
(ohne die wir nichts vorstellen und bedenken können) liegen Kategorien
zugrunde, die mit den ihren nicht zusammen fallen. Schließlich und
vor allem ist die soziale Wirklichkeit, die sie umgibt und deren Funktionen
die Kollektivorstellungen (BMLBkolV)
und bis zu einem gewissen Punkt selbst die Sprache sind, bei ihnen eine
ganz andere als bei uns.
So ist die Geistesbeschaffenheit der niedrigen Gesellschaften
zweifellos nicht so unzugänglich, als wenn sie einer anderen Logik
folgen würde als der unseren, aber sie ist uns doch nicht durchaus
verständlich. Wir werden dahin geführt, zu denken, daß
sie nicht ausschließlich den Gesetzen unserer Logik und vielleicht
überhaupt [>53] nicht Gesetzen gehorcht, die alle logischer Natur
wären. Die Analyse der Tatsachen wird vielleicht einiges Licht auf
diesen Punkt werfen.
Oft haben die Beobachter Gedankengänge oder,
besser gesagt, Vorstellungsverbindungen ()
bemerkt, die ihnen seltsam und unverständlich erschienen sind. Ich
will ihrer nur einige wenige anführen. »Eine Trockenheit in
Landana wurde besonders der Tatsache zugeschrieben, daß die Missionäre
während des heiligen Dienstes gewisse Barette trugen. Die Eingeborenen
sagten, daß das den Regenfall verhindere; sie begannen laute Schreie
auszustoßen und zu fordern, daß die Missionäre das Land
verlassen ... Diese zeigten den eingeborenen Häuptlingen ihren Garten
und ließen sie sehen, daß auch ihre Kulturen aus Wassermangel
zugrunde gingen: war es wahrscheinlich, daß sie ihre eigene Ernte
vernichten wollten? Aber nichts konnte die Eingeborenen überzeugen,
und die Aufregung legte sich erst, als der Regen in Strömen zu fallen
begann.FNS53-1) Dr.Peschuel-LoescheFNS53-2) erzählt
einen ganz ähnlichen Fall, dem er andere, ziemlich analoge Fälle
hinzu fügt, so daß man infolgedessen füglich verallgemeinern
darf. »Als katholische Missionäre gelandet waren, die Kegen
ausblieben und die Pflanzen kümmerten, setzte sich die Bevölkerung
in den Kopf, daß daran die geistlichen Herren, namentlich ihre langen
Gewänder, die Schuld trügen. Solche Kleidung war noch nicht dagewesen.
Anderswo sollte ein ausgeschiffter braver Schimmel den Handel verdorben
haben und wurde Gegenstand schwieriger Unterhandlungen. Ein Faktorist hatte
argen Verdruß, weil er eine krumme' Flaggenstange von einheimischem
Holze ohne weiteres durch einen eingeführten schlanken Mast ersetzt
hatte. Ein blanker Gummimantel, ein absonderlicher Hut. ein Schaukelstuhl,
irgendeine Maschinerie kann höchst verdächtig werden. Die ganze
Küstenbevölkerung kann sich über einen Segler mit neuer
Takelung, über einen Dampfer aufregen, der einen Schornstein mehr
hat als die anderen. .Alles das ist bedeutsam. Und wenn irgendwo Schlimmes
geschieht, wird es gleich mit dem Auffälligen in Beziehung gebracht.«
»In Neu-Guinea herrschte im Augenblick, da
ich mich mit meiner Frau in Motumotu niederließ«, so erzählt
der Rev. Edelvelt, »eine Art von Brustfellentzündungsepidcmie
... Natürlich klagte man meine Frau und mich an, den Boten des Todes
mitgebracht zu haben, und man forderte unter großem Geschrei, daß
wir — und die poly- nesischen Schullehrer mit uns — dafür die Todesstrafe
erleiden mögen ... Jedenfalls war es nötig, eine
Ursache zu ßnden, und die Eingeborenen klagten ein armes unglückliches
Lamm an, das ich besaß; es wurde geschlachtet, um sie zu befriedigen.
Da die Epidemie nicht aufhörte zu wüten, schoben sie die Schuld
auf meine zwei Ziegen, die trotzdem dem Tod entgangen sind. [>54]
... [>55]
Die geläufige Erklärung dieser Tatsachen geht darauf hinaus,
zu sagen, daß die Primitiven das Kausalitätsprinzip ohne Unterschied
anwenden, und daß sie das Ereignis, das einem anderen vorhergeht,
mit dessen Ursache verwechseln. Das wäre der sehr allgemeine Denkirrtum,
den man unter dem Namen des Sophisma post
hoc, ergo propter hoc kennt. Die Primitiven, sagt man, haben
keine Ahnung davon, daß dies ein Irrtum sein könnte. Die Aufeinanderfolge
der Vorstellungen () in ihrem Denken
genügt, um ihnen zu garantieren, daß die Objekte in Wirklichkeit
so verknüpft sind. Die Beobachter selbst legen diese Erklärung
meistens sehr nahe. »Für die Eingeborenen«, sagt Pesclmuel-Loesche,
giht es keinen Zufall. Was zeitlich aufeinanderfolgt, sei es auch räumlich
weit, getrennt, was in gleicher oder ähnlicher Weise geschieht, sei
es auch in langen Pausen, das erscheint leicht ursächlich verbunden.«FN55-2)
... [>57]
Versuchen wir es also nicht mehr, diese Verbindungen, sei es durch die
geistige Schwäche der Primitiven zu erklären, sei es durch die
Gesetze der Ideenassoziation, sei es durch einen naiven Gebrauch des Kausalitätsprinzips,
sei es durch das Sophisma post
hoc, ergo propter hoc; kurzum verzichten wir darauf, ihre Geistestätigkeit
auf eine niedrigere Stufe der unseren zurüekführen zu wollen,
Dagegen ist es angezeigt, diese Verbindungen für sich zu betrachten
und zu untersuchen, ob sie nicht von einem allgemeinen Gesetz abhängen,
einem gemeinsamen Fundament dieser mystischen Zusammenhänge, welche
für den Geist der Primitiven so oft zwischen den Wesen und den Gegenständen
gegeben sind. Nun, es gibt ein Element, das in diesen Zusammenhängen
niemals fehlt. Es liegt ihnen allen eine »Partizipation«
(Anteilnahme) () zwischen den Wesen und den Gegenständen, die in einer
Kollektivvorstellung verknüpft sind, in verschiedenen Formen und Graden
zugrunde. Darum werde ich das der primitiven »Geistesbeschaffenheit«
(mentalite) eigentümliche Prinzip, das die Verbindungen und Vorverbindungen
(préliaisons) dieser Vorstellungen beherrscht, in Ermanglung eines
besseren Terminus »Gesetz der Partizipation«
(Anteilnahme) () nennen.
Es wäre schwer, schon jetzt einen abstrakten
Ausdruck für dieses Gesetz zu fänden. Die Fortsetzung dieses
Kapitels wird es genügend erklären, obwohl das, um dessen Ausdmek
es sich handelt, nur mit großer Mühe in die gewöhnlichen
Rahmen unseres Denkens hinein-[>58]
"EINLEITUNG
Den zahlreichen Forschem, die die Mentalität der Naturvölker
unter günstigen Bedingungen, d. h. vor ihrer näheren Berührung
mit den Weißen beobachten konnten, ist besonders ein Merkmal aufgefallen:
Ihre ausgesprochene Abneigung gegen das verstandesmäßige
Denken, gegen alles, was die Logiker als diskursive Operationen
des Denkens bezeichnen; sie haben gleichzeitig bemerkt, daß diese
Abneigung nicht auf einer radikalen Unfähigkeit oder natürlichen
Schwäche ihres Begriffsvermögens
(BMLBBverm) beruht, sondern
auf dem Gesamtkomplex ihrer geistigen Gewohnheiten.
So können die Jesuiten, die zuerst die Indianer
Nordostamerika gesehen haben, folgende Bemerkung nicht unterdrücken:
„Man muß annehmen, daß die Irokesen zu vernünftigem Denken
unfähig sind, im Gegensatz zu den Chinesen und andern gesitteten Völkern,
denen man den Glauben und die Existenz Gottes beweisen kann. Die Irokesen
sind Vemunftgründen unzugänglich. Die erste immittelbare Vorstellung,
die sie von den Dingen gewinnen, ist die einzige Fackel, die ihnen leuchtet.
Die Gründe der Glaubwürdigkeit, deren die Theologie sich gewöhnlich
bedient, um selbst die stärksten Köpfe zu überzeugen, hört
man hier nicht an, wo man unsere größten Wahrheiten als Lügen
bezeichnet. Man glaubt im allgemeinen nur, was man sieht1).
Derselbe Pater berichtet weiter unten: „Die Wahrheiten des Evangeliums
wären ihnen nicht annehmbar erschienen, wenn wir sie einfach auf Vemunftgründe
und den gesunden Menschenverstand gestützt hätten. Da ihnen Kenntnisse
und Gesittung fehlen, bedurfte es gröberer und handgreiflicherer Mittel,
um auf ihren Geist einzuwirken. Zwar gibt es unter ihnen .ebensogut wie
unter den Europäern wissenschaftlich befähigte Köpfe. Doch
haben ihre Erziehung und die ständige Sorge für ihren Lebensunterhalt
sie auf einen [>6] Zustand beschränkt, in dem ihre Überlegungen
nicht über ihr gesundheitliches Befinden und ihre Erfolge in Jagd,
Fischerei, Handel und Krieg hinausgehen; und aus allen diesen Dingen ziehen
sie gleichsam wie aus Grundsätzen ihre Folgerungen, nicht nur für
ihre Behausung, Beschäftigung und Handlungsweise, sondern auch für
ihren Aberglauben und ihre Gottheiten.
Aus der Verbindung dieser beiden ausgeführten
Stellen gewinnen wir eine ziemlich klare Vorstellung von der Geistigkeit
der Irokesen auf der Stufe, die uns hier beschäftigt. Der wesentliche
Unterschied zwischen diesen „Wilden“ und den gesitteteren Ungläubigen
besteht nicht in einer ihnen eigentümlichen geistigen Minderwertigkeit;
es ist ein tatsächlicher Zustand, der sich, wie die Jesuiten meinen,
aus ihrem gesellschaftlichen Zustand und ihren Sitten erklären läßt.
So sagt auch der Missionar Crantz über die Grönländer: „Ihr
Nachdenken oder ihre Erfindungsgabe beschränken sich auf ihre tägliche
Lebensnotdurft. Was damit nicht untrennbar verbunden ist, beschäftigt
ihre Gedanken nie. Man kann sie daher als einfältig, aber nicht als
dumm bezeichnen; sie besitzen gesunden Menschenverstand, aber nicht die
Kunst, logisch zu denken und zu folgern 1) — wohlverstanden,
nicht die Kunst, einer Überlegung zu folgen, die auch nur im geringsten
abstrakt ist. Denn es ist unzweifelhaft, daß die Grönländer,
wenn sie den für ihren Unterhalt notwendigen Beschäftigungen
nachgehen, sehr wohl überlegen und sogar komplizierte Mittel zur Erreichung
ihrer Zwecke anwenden.
Aber diese Denkvorgänge lösen sich nicht
los von den materiellen, Dingen, durch welche sie hervorgebracht werden,
und sie hören ebenso schnell auf, als ihre Ziele erreicht sind. Die
geistigen Handlungen werden niemals Um ihrer selbst willen vorgenommen
und sie erheben sich deshalb für uns nicht zur Würde dessen,
was wir im eigentlichen Sinne „Gedanken“ nennen. Dieses setzt ein moderner
Forscher in helles Licht, welcher bei den Polar-Eskimos
gelebt hat. „Alle ihre Gedanken“, sagt er, „drehen sich um den Walfischfang,
die Jagd und um das Essen. Abgesehen davon ist für sie der „Gedanke“
im allgemeinen das Synonym für Langeweile oder Kummer. „Woran denkst
du“, fragte ich eines Tages auf der Jagd einen Eskimo, welcher ganz in
seine Überlegungen vertieft schien. Meine Frage erregte nur Lachen.
„Da erkennt man Euch richtig, Ihr Weißen, die Ihr soviel denkt, wir
Eskimos denken nur an unsere Fleischverstecke [>7] für die lange Nacht
des Winters, ob wir genug haben werden oder nicht Wenn das Fleisch in genügender
Menge vorhanden ist, haben wir es nicht mehr nötig, zu denken. Ich,
ich habe mehr Fleisch als ich brauche.“ Ich verstand, daß ich ihn
beleidigt hatte, indem ich ihm „Gedanken“ zutraute1).
_
Kommentar zu Levy-Bruhl
Als Grundbegriff verwendet Levy-Bruhl "Vorstellung", den man Begriff gleichsetzen
kann. Es ist allerdings keine gute wissenschaftliche Praxis, seine Grundbegriffe
nicht sorgfältig und gründlich zu erklären und zu definieren.
Aber wir werden durch sehr konkretes, reiches und vielfältiges Material
und seine Analyse und Aufarbeitung durch Levy-Bruhl entschädigt: Natürliche
Ursachen für Tod, Krankheit und Unfällen kennen viele Natürvölker
so wenig wie Zufälle. Sie zeigen vielfach eine tiefe Abneigung gegen
das Denken - das sie durch ein extrem gut entwickeltes Gedächtnis
ausgleichen - insbesondere gegen unsere Art zu denken, obwohl ihnen
viel für ihre Interessengebiete Scharfsinn bescheinigt wird. Die Begriffsmängel
bei Levy-Bruhl zeigen sich auch darin, dass er den Unterschied zwischen
Logik und Empirie, Form und Inhalt, nicht zu kennen scheint. Die Natürvölker
haben ihre eigene Geistart: Fast alles ist miteinander mystisch verbunden
und nimmt aneinander Anteil, was Levy-Bruhl zu seiner These des Gesetzes
der Partizipation bringt. Aber die irrationalen, als mystisch bezeichneten
Verbindungen haben nichts mit Logik zu tun, sondern mit empirischen Denkweisen.
Die mystische Abstraktion und Teilhabe folgt nicht einer anderen Logik,
sondern eine anderen Geisthaltung und Wirklichkeitsaufassung, die oft dem
Wahn nahesteht (> Beispiel Neu-Guinea). Auch
dass sich die Bedeutungen mit ihren Kontexten und Umgebungen wandeln kommt
überall vor, nicht nur bei den Naturvölkern. Ein wichtiger Befund
ist auch das extrem gut ausgebildete Gedächtnis bei den vorgestellten
Naturvölkern, das, so die anthropologische Deutung, viel Denkarbeit
erspart, wobei auch festgestellt wurde, dass die untersuchten Naturvölker
ausgesprochen ungern denken, bei des Eskimos,
so ein Beispiel, gilt denken als Beleidigung. Die Abneigung gegen
unsere Art abstrakten Denkens beruht auch nicht nur auf ihren gesitigen
Gewohnheiten, sondern, viel tiefer, auf ihrer geistigen Intressen und Bedürfnissen,
die erst die Gewohnheiten hervorbringen.
Aus dem Woerterbuch
der Soziologie
Hartfiel, Günter & Hillmann, Karl-Heinz (2007). Wörterbuch
der Soziologie. 5., vollst. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart: Kröner.
"Begriff (BMDefiniendum), Grundelement des menschlichen Denkens, Orientierens, Urteilens; gedankl. Instrument zur Wiedergabe u. Abgrenzung von Phänomenen der Realität oder von Aspekten, Eigenschaften, Teilen solcher Phänomene. Der B. (). hat seine materielle Gestalt im Wort, Ausdruck, Zeichen, Symbol, denen jeweils eine bestimmte Bedeutung (B.inhalt () u. B.umfang ()) zugeteilt wird. Das Problem der wiss. B.e () besteht in der Spezifizierung u. Präzisierung der Bedeutung von Ausdrücken, d. h. in der Methode, Relationen zwischen bestimmten Zeichen u. Substanzen oder Mengen von Bezeichnetem (Designata) festzulegen (>Semiotik).
"Begriffsbildung
(BMDefiniendum),
Methoden zur Zuordnung von Zeichen u, Bedeutungsinhalt bzw. -umfang der
durch die Zeichen abgebildeten, gemeinten oder beschriebenen Realität;
die Definition von Begriffen (). Man
unterscheidet: (a) Die Nominaldefinition eines Begriffs
(), wobei festgelegt wird, daß ein bestimmter Ausdruck gleichbedeutend
mit einem bereits bekannten anderen Ausdruck oder einer Kombination anderer
Ausdrücke sein soll, (b) Die analytische Definition, die nicht mehr
nur eine bloße Konvention über die Bedeutungsgleichheit von
Ausdrücken anstrebt, sondern die für bestimmte, aus der Alltagssprache
herangezogene Ausdrücke eine präzise Bedeutung durch Festlegung
bestimmter Eigenschaften oder Merkmale vorschreibt u. deren wiss. Relevanz
vom tatsächl. Vorhandensein dieser Eigenschaften in der vom Ausdruck
definierten Realität abhängt, (c) Die operationale Definition,
die den Bedeutungsgehalt von Begriffen durch Festlegung der bei Forschungsoperationen
zu beobachtenden Ereignisse oder zu berücksichtigenden Merkmale der
Realität bestimmt.
Ob eine B. () sinnvoll u. fruchtbar
ist, kann nicht an den Begriffen ()
selbst, sondern nur dann beurteilt werden, wenn Versuche gemacht werden,
mit Begriffen () wiss. Typen, Aussagen,
Modelle od. Theorien zu bilden sowie Hypothesen u. Theorien zu überprüfen.
Notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzungen für die theoret.
Fruchtbarkeit von Begriffen () ist ihre
für alle an der betr. wiss. Fachsprache Beteiligten nachkontrollierbare
Präzision u. die allg. Konsistenz ihrer Anwendungsregeln.
H. M. Kcpplinger, Probleme der B.sbildung in den Soz.wiss.cn, in: KZfSS
29,1977.
"Operationalisierung
(BMDefiniendum),
Anwendbarmachen von theoret. Begriffen
() für die empir. Sozialforschung dadurch, daß präzise
Anweisungen für Ermittlungsverfahren u. Forschungsoperationen angegeben
werden, mit denen entschieden werden kann, ob in der untersuchten Realität
ein mit dem betr. Begriff () bezeichnetes
Merkmal oder Tatbestand vorliegt oder nicht. Solche Entscheidungen über
die den Begriff () repräsentierenden
Forschungsoperationen heißen »operationale Definitionen«
des Begriffs (). In der Soziologie haben
sie eine große Bedeutung, weil der empir. Bezug der meisten soziol.
Begriffe
() nur ein indirekter ist. »Einstellung«, »Werte«,
»Herrschaft«, »Prestige«, »Zufriedenheit«,
»Ideologie« sind z. T. theoretische Begriffe
(), die nicht unmittelbar wahrgenommen werden können. Darum bedarf
es der Regel zum empir. Nachweis. Operationale Definitionen werden auch
als »Indikatoren« für theoret, gemeinte, nicht unmittelbar
wahrnehmbare Tatbestände bezeichnet. >Gültigkeit, >Operationalismus,
>Lundberg, G. A.
H, Albert, Probleme der Wiss.lehre der Sozialforschg. (Hdb, d. empir.
Sozialforschg. 1, 1967); E. Topitsch (Hg,), Logik d, Sozial- wiss.en, 1965;
R, Mayntz, K. Holm, P. Hübner, Einführung i. d. Methoden d. empir.
Soziol,, 1969; R. Nippert, Quantifizierung der soz, Realität, 1972."
"Operationalismus (BMDefiniendum), wiss.theoret. Auffassung, nach der ein wiss. Begriff () nur insoweit für die wiss. Analyse zugelassen wird, wie Verfahrensregeln (Operationen) angegeben werden, die durchzuführen sind, um das Vorhandensein des vom Begriff () gemeinten Phänomens festzustellen. Nach dem O. decken sich also Begriff () u. operationale Definition (>Operationalisierung). Damit wird der Sinn einer mit wiss, Begriffen () vorgenommenen Aussage auf die Methode zur Verifikation dieser Begriffe () reduziert. Der auf den Physiker Bridgman zurückgehende O. wird in den Sozialwiss. bes. dann zu einermethodolog, leitenden Idee, wenn wiss. Begriffe () sich auf nicht direkt wahrnehmbare, komplexe, abstrakte Sachverhalte beziehen. Es wird in solchen Fällen oft das als Phänomen erklärt, was nach Maßgabe konventioneller oder individuell willkürl. festgelegter Verfahrensregeln ledigl. als solches gemessen wurde. P. W. Bridgman, The present state of operu- tionalism (The validation of scientific theories, hg. v. P. G. Frank, Boston 1956); G. Bergmann, Sinn u, Unsinn des O. (Logik der Sozialwissenschaften, hg, v, E. Topitscb, 1965); J. Klüver, O., 1975."
Schuetz Aufbau der Erfahrungswelt aus
Schematen
Schütz, Alfred (1960) § 15. Der Aufbau der Erfahrungswelt
und ihre Ordnung unter Sehematen.(83-88) In:
Schütz, Alfred (1960) Der sinnhafte Aufbau der Welt. Eine Einleitung
in die verstehende Soziologie. Wien: Springer.
Als wichtige Begriffe wurden hier Erlebnis(se),
Sinn, Begriff, Schema(ten) 14pt-fett-kursiv markiert.
"§ 15. Der Aufbau der Erfahrungswelt und ihre Ordnung unter
Schematen
Machen wir uns die komplizierten Strukturzusammenhänge
der Selbstauslegung am Beispiel der Konstitution eines Gegenstandes unserer
äußeren Erfahrung klar. In erfahrenden Akten von den Erlebnissen
der mannigfachen Dingerscheinungen konstituiert sich der Gegenstand der
äußeren Erfahrung, das Ding der Außenwelt. Die einzelnen
Erlebnisse
der Erscheinungen stehen untereinander in einem Sinnzusammenhang:
Denn sie konstituieren in phasenweisem Vollzug die Erfahrung vom Gegenstand
und auf unsere Erfahrung von diesem Gegenstand, ineins damit auf ihn selbst
als den Gegenstand unserer Erfahrung, vermögen wir in monothetischem
Blickstrahl als ein Einheitliches hinzusehen. Daß [>84] sich Erlebnisse
von den einzelnen Erscheinungsweisen eines Gegenstandes zu der Erfahrung
vom Gegenstand verknüpfen, ist aber wiederum selbst erfahren84-1
und, als Erfahrung von der Konstitutionsweise von Gegenständen schlechthin,
im jeweiligen Jetzt und So der Zuwendung auf die Gegenstandserscheinung
vorrätig. Zeigt sich schon hier die ungeheure Komplikation der verschiedenen
Sedimentierungen im Aufbau der Erfahrungswelt, deren Geschichte phänomenologisch
zu erfragen ist, so deckt ein näheres Eindringen in den Sachverhalt
eine noch viel mannigfaltigere Aufschichtung und Durcheinanderschachtelung
der Konstitutionsphänomene auf. Jedes erfahrende Erlebnis,
welches die Gegenstandserfahrung mitkonstituiert, ist von einem Hof
von Retentionen umgeben, die auf vergangene
Erlebnisse zurück-, und von Protentionen, die auf kommende
Erlebnisse vorweisen: Daß die einzelnen Erlebnisphasen,
in welchen sich der polythetische Aufbau vollzieht, auf diese Weise untereinander
verknüpft sind, gehört zum Wesen der Synthesis. Denn ein erfahrendes
Erlebnis
von einem Gegenstand konstituiert sich mit einem ihm vorhergegangenen Erlebnis
von diesem Gegenstand nur dadurch zur Synthese der Erfahrung von diesem
Gegenstand, daß das „spätere“ Erlebnis
in einem Jetzt erlebt wurde, dessen So durch die Retention des vorvergangenen
erfahrenden Erlebnisses von diesem Gegenstand
mitbestimmt ist. Und unterhalb dieser Schicht liegt noch jener Zusammenhang,
den jedes Erlebnis mit seinem Früher
und Später hat, und den wir oben als Zusammenhang der Jemeinigkeit
aller meiner Erlebnisse gekennzeichnet
haben.
Die Aufschichtungen setzen sich aber auch nach der
anderen Seite fort. Ist einmal die Synthese aus dem phasenweisen Aufbau
meiner einzelnen erfahrenden Erlebnisse
zu dem Gegenstand meiner Erfahrung vollzogen, etwa zu dem Gegenstand: „dieser
Tisch da“, so schließen sich neue synthetische Akte, neue Einordnungen
in Erfahrungszusammenhänge an, wie dies etwa der Fall ist, wenn ich
den konstituierten Gegenstand meiner Erfahrung, nämlich diesen
Tisch, als „Tisch“ bezeichne. Lassen wir hier alle jene Probleme
beiseite, die das Phänomen der Sprache als solches in sich schließt
und die in der Zuordnung des lautlichen oder schriftlichen Zeichens „Tisch“
zu dem Gegenstand meiner Erfahrung, „dieser besondere und einmalige Tisch
meiner Erfahrung hier und so“ beschlossen sind: Zweifellos weist das in
der Namensgebung implizierte Urteil:
„dies da ist ein Tisch“ auf selbst wieder konstituierte vorvollzogene Erfahrungen
von anderen Gegenständen der Außenwelt (nämlich Erfahrungen
von Tischen überhaupt) zurück, die im Jetzt und So der Vollziehung
des Urteils: „dies da ist ein Tisch“ vorrätig sind.84-2
[>85]
Man bedenke, daß mit diesem Begriff
erst die niederste jener „Syntaxen“ gewonnen ist, auf welchen der Aufbau
der sprachlichen und logischen Welt beruht. Die transzendentale Logik wird
auch alle Prozesse der Formalisierung und Generalisierung, die nunmehr
anheben, nach ihrer Sinnesgeschichte zu befragen und alle diese Prozesse
der formalen Logik als Konstitutionsphänomene im Bewußtsein
des ego cogito, also als erfahrende Akte des ego cogitans zu deuten haben.
Denn für das erlebende ego cogitans ist ja auch „erfahren“ (in dem
Sinn unserer Ausführungen), daß es Formalisierung und Generalisierung
gibt, wie sich diese Prozesse vollziehen und wie sich im Formalisieren
das Formalisierte, im Generalisieren das Generalisierte erzeugt.
Unsere Analyse zog den Aufbau der Erfahrung von
einem Gegenstand der Außenwelt selbstverständlich nur als Beispiel
für die Implikate heran, die in dem Begriff
der vorgegebenen Erfahrung enthalten sind. Sie läßt sich aber
prinzipiell für jeden Bereich von Erlebnissen durchführen. Zunächst
für Synthesen aller Art des „doxischen Kolligierens“ im rein logischen
Sinn, also für die Konstitution des Urteils aus dem Urteilen, aber
auch für praktische und axiologische Synthesen jeder Art. Denn schließlich
sind auch die praktischen und axiologischen Syntaxen rückführbar
auf kolligierende Synthesen, nur daß diesen nicht ein doxologisches
Und, sondern ein praktisches und axiologisches Und zugrunde liegt.85-1
Auch sie aber sind gleichermaßen erfahren in jenem Sinn, in dem wir
von einem vorgegebenen Vorrat von Erfahrungen als oberstem Sinnzusammenhang
in einem jeweiligen Jetzt und So des ego cogitans sprechen.
Angesichts der hochkomplexen Struktur von fertig
konstituierten Sinnzusammenhängen, in welche ein in Zuwendung erfaßtes
Erlebnis eingeordnet werden kann, ergibt sich die Notwendigkeit, ein Kriterium
für den Begriff der Selbstauslegung
des eigenen Erlebens, des spezifischen ' gemeinten Sinnes also, aufzufinden.
[>86]
Wir haben dieses Kriterium bereits aufgezeigt, als
wir von der pragmatischen Bedingtheit der Tiefenschichte sprachen,
bis zu welcher der reflexive Blick vordringt. Dieses Begriffes
können wir uns nunmehr bedienen.
Wenn wir ein in den Blick gefaßtes Erlebnis
nach seiner Sinnesgeschichte befragen, können wir die Analyse der
aufbauenden Akte, aus welchen sich dieses Erlebnis konstituierte, prinzipiell
immer bis zur Konstitution der erfahrenden Akte in der inneren Zeitform
selbst, also in der reinen Dauer, vortreiben. Demgegenüber aber weist
unser Vorrat von Erfahrungen keineswegs unmittelbar und originär auf
die innere Zeitform zurück. Vielmehr ist der Sinnzusammenhang der
Erfahrung Sinnzusammenhang von Sinnzusammenhängen höheren Grades,
welche selbst aus Sinnzusammenhängen konstituiert sind, usf. Die Unterschichten
des vorfindlich Erfahrenen sind uns aber fraglos gegeben, d. h. sie liegen
in einer Tiefenschichte, auf welche die reflexive Blickzuwendung nicht
vollzogen wird. Dies gilt alles freilich relativ auf das jeweilige Jetzt
und So: Die Abgrenzung der Schichte des fraglos Gegebenen hängt von
den attentionalen Modifikationen der Zuwendung auf das in den Blick gefaßte
Erlebnis ab, jenen Modifikationen, die ihrerseits wieder von der attention
à la vie im jeweiligen Jetzt und So der Zuwendung abhängig
sind. Gewiß kann bei passender Zuwendung die Rückführung
aller polythetischen Synthesen zur Urkonstitution des Erlebnisses in der
reinen Dauer vollzogen werden. Wir selbst haben vorhin an dem Beispiel
eines Erfahrungsgegenstandes der Außenwelt diese Möglichkeit
dargetan. Aber es bedarf hiezu eines Aktes streng philosophischer Selbstbesinnung,
die ihrerseits wieder, einen besonderen Modus der attention à la
vie zur Voraussetzung hat.
Nun werden wir aber Sinnanalyse auch für das
Ich in seiner natürlichen Weltanschauung zu betreiben haben.86-1
Auch der natürliche Mensch findet in jedem Jetzt und So seines Erlebens
Erfahrungen in seinem Bewußtseinsvorrat vor, er weiß von der
Welt, er hat von ihr ein Vorwissen. Diesem Vorrat von Erfahrungen wächst
mit jedem Erlebnis, wofern es ein erfahrendes ist, neue Erfahrung hinzu
und sei es nur kraft des Umstandes, daß vom neuen Jetzt (das ein
So nur ist, weil es ein Anders ist als das Soeben-Gewesen) durch das Soeben-Vergangene
„hindurchgeblickt“ werden kann. All dies liegt, wie wir gesehen haben,
wesensnotwendig in der Konzeption einer mannigfaltigen, kontinuierlichen
und in Unumkehrbarkeit verlaufenden Dauer. Aber auch in der Einstellung
des naiv natürlichen Menschen, welcher sein Altern und damit seinen
„Zuwachs an Erfahrungen“ erlebt, sind alle diese Momente aufweisbar. Dem
natürlichen Menschen sind nun seine Erfahrungen (und zwar in der Weise
des [>87] Wissens oder Vorwissens) „geordnet“ vorgegeben, wie ihm
die ganze gegenständliche Welt geordnet vorgegeben ist, ohne daß
er nach der Konstituierung dieser geordneten Welt in seinem Bewußtsein
fragt, solange er nicht hiezu durch eine besondere Problemstellung genötigt
wird. Die Ordnungen innerhalb des Erfahrungszusammenhanges bleiben dabei
als synthetische Sinnzusammenhänge erfahrener Erlebnisse bewußt.
Machen wir uns an einigen Beispielen klar, was unter
diesen Ordnungen von Synthesen erfahrener Erlebnisse zu verstehen
ist. Da sind zunächst87-1 Erfahrungen
von der äußeren natürlichen Welt, in welche der naive Mensch
hineingestellt ist, und von ihren Dingen, zunächst den unbelebten,
dann den belebten. Er „hat“ also Erfahrungen von Dingen und Nebenmenschen,
von sozialen Kollektiven, weiter von jenen Gegenständen der materiellen
Welt, welche durch Handlungen seiner Nebenmenschen hervorgebracht wurden,
also von Artefakten, und zwar von diesen auch in ihrer besonderen Funktion
als „Kulturobjekte“. Er findet weiters Synthesen vor, die dem Bereich der
im wohlverstandenen Sinne so genannten inneren Erfahrung angehören.
Hiezu zählen nicht nur die Urteils-Inhalte aus seinen vorvergangenen
urteilenden Akten, also sein jeweiliges Wissen oder Vorwissen (in engerer
Bedeutung), sondern auch alle Erzeugnisse aus Aktivitäten des Gemütes
oder des sogenannten Willensbereiches, gleichgültig, ob diese Erzeugnisse
sich aus tatsächlich positional vollzogenen Akten oder aus Gleichsam-Vollziehungen
in einem neutralisierenden Bewußtsein, etwa in der Phantasie, konstituierten.
Jede dieser Erfahrungen, mag es sich um äußere oder innere handeln,
steht für den natürlichen Menschen selbst in einem Sinnzusammenhang
höherer Ordnung und auch von diesem hat er Erfahrung. Zu seinen Erfahrungen
im jeweiligen Jetzt und So gehört daher auch alle Erfahrung von der
Einordnung der Erfahrungen in Wissenschaften und Techniken, sowie die Erfahrung
von dem Sinnzusammenhang dieser Wissenschaften selbst, z. B. der formalen
Logik, aber auch die Erfahrungen von den entsprechenden Korrelaten dieser
Einordnungen in der praktischen und axiologischen Sphäre, also von
den Sinnzusammenhängen der Maximen des Handelns und der Einordnung
des Gewerteten in Wertzusammenhänge.
Wir wollen die Ordnungen, in welche sich der jeweilige
Erfahrungszusammenhang gliedert und die wir soeben zu kennzeichnen versucht
haben, Schemata unserer Erfahrung871 nennen
und diesen Begriff wie folgt definieren:
Ein
Schema unserer Erfahrung ist ein Sinnzusammenhang unserer erfahrenden Erlebnisse,
welcher zwar die in den erfahrenden Erleb-[>88]nissen fertig konstituierten
Erfahrungsgegenständlichkeiten erfaßt, nicht aber das Wie des
Konstitutionsvorganges, in welchem sich die erfahrenden Erlebnisse zu Erfahrungsgegenständlichkeiten
konstituierten. Das Wie des Konstitutionsvorganges und dieser selbst
bleibt vielmehr unbeachtet, das Konstituierte ist fraglos gegeben.88-1
Allerdings kann ich jedes fraglos gegebene Schema der Erfahrung jederzeit
durch passende attentionale Zuwendung zu einem „fragwürdigen“, zu
einem problematischen machen.
Indem wir die Schemata der Erfahrung als Sinnzusammenhänge
definierten, haben wir sie formal und material bestimmt: formal, indem
wir ihre Konstitutionsweise als Synthesen höherer Stufe aus polythetischen
Akten der erfahrenden Erlebnisse aufzeigten, material insoferne, als wesensmäßig
jeder polythetischen Synthesis, auf die monothetisch zurückgesehen
wird, ein Gesamtgegenstand entspricht, welcher sich in ihr konstituierte.
Von unseren erfahrenden Erlebnissen, welche in einem den aufgezeigten formalen
und materialen Bestimmungsgründen entsprechenden Sinnzusammenhang
stehen, sagen wir aus, daß sie untereinander in Einstimmigkeit
sind. Mit diesem Ausdruck ist einmal die wechselweise Fundierung der erfahrenden
Erlebnisse und deren synthetischer Aufbau zu einer Ordnung der Erfahrung
gemeint, darüber hinaus aber auch der Sinnzusammenhang zwischen diesen
Ordnungen selbst, welcher „Gesamtzusammenhang unserer Erfahrung im jeweiligen
Jetzt und So“ oder, wie wir es früher nannten, „oberster Sinnzusammenhang
unserer erfahrenden Erlebnisse“ heißt. In jedem Jetzt und So also,
steht unsere Erfahrung in Einstimmigkeit und das heißt nichts anderes,
als daß der Gesamtzusammenhang unserer Erfahrung selbst eine in phasenweisem
Aufbau unserer erfahrenden Erlebnisse vollzogene Synthesis ist, welcher
ein Gesamtgegenstand, nämlich der Inbegriff unseres Wissens im jeweiligen
Jetzt und So entspricht. Freilich können innerhalb dieses Erfahrungszusammenhanges
widerstreitende Erfahrungen auftreten, immer aber bleibt die Einheit der
Erfahrung gewahrt. „Vor allem Urteilen liegt ein universaler Boden
der Erfahrung, er ist stets als einstimmige Einheit möglicher Erfahrung
vorausgesetzt. In dieser Einstimmigkeit hat alles mit allem sachlich ,zu
tun‘. Aber Einheit der Erfahrung kann auch unstimmig werden, jedoch
wesensmäßig so, daß das Widerstreitende mit demjenigen,
dem es widerstreitet, eine Wesensgemeinschaft hat, so daß in
der Einheit zusammenhängender und selbst in der Weise von Widerstreiten
noch zusammenhängender Erfahrung [>89] alles mit allem in wesensmäßiger
Gemeinschaft steht. So hat jedes ursprüngliche Urteilen in seinem
Inhalt und so jedes zusammenhängend fortschreitende Urteilen Zusammenhang
durch den Zusammenhang der Sachen in der synthetischen Einheit der Erfahrung,
auf deren Boden es steht.“89-1
Die Einheit der Erfahrung, in welche alle Schemata
der Erfahrung als konstituierte Gegenständlichkeiten eingehen, darf
aber nicht so verstanden werden, als ob deren Vorgegebensein im jeweiligen
Jetzt und So strukturell homogen wäre, als ob etwa alle diese vorhandenen
Erfahrungsschemata in ein und derselben Klarheitsstufe präsent und
als ob alle „bewußtseinsmäßig“ seienden Gegenstände
„hinsichtlich der möglichen Affektion des Bewußtseins gleichgestellt“
wären.89-2 Vielmehr haben
auch die Schemata der Erfahrung ihre Horizonte und Perspektiven, ihre Dunkelheiten
und Aufhellungen, und diese empfangen sie von dem attentionalen Strahl,
in welchem ihnen das Ich kraft der wechselnden attention à la vie
im jeweiligen Jetzt und So zugekehrt ist.
Begriff im kleinen politischen Woerterbuch
(DDR)
"Begriff (): -grundlegende Form
der rationalen > Erkenntnis, die auf. logisch-abstrakte Weise bestimmte
Gruppen von Gegenständen, Eigenschaften, Beziehungen in ihren charakteristischen
Merkmalen widerspiegelt. Dadurch wird von allen besonderen, zufälligen
Merkmalen jener Gegenstände, Eigenschaften, Beziehungen usw. abgesehen
und' im B. (), das Allgemeine fixiert.
Infolge der untrennbaren Einheit von >-Denken und —Sprache kann der B.
() als logisches Gebilde nur' in der sprachlichen Form des Wortes existieren.
B.
() und Wort sind jedoch nicht identisch, vielmehr ist der B.
() die Bedeutung des Wortes. .Allerdings ist zu beachten, daß es
Synonyme (mehrere Wör[>104]ter mit gleicher Bedeutung) und Homonyme
(Wörter mit mehreren Bedeutungen) gibt Die wissenschaftlichen B.
() sind das Ergebnis des historisch fortschreitenden Erkenntnisprozesses.
In ihnen ist die jeweils erreichte Stufe der Erkenntnis der Wirklichkeit
und ihrer Gesetzmäßigkeiten zusammengefaßt. Sie müssen
der.sich verändernden Wirklichkeit. und der sich entwickelnden Erkenntnis
der Wirklichkeit entsprechend angewandt und in ihrem Inhalt fortgebildet
werden. Dabei ist zu beachten, „daß ... die Kunst, mit Begriffen
() zu operieren, .nicht eingeboren und' auch.nicht mit dem gewöhnlichen
Alltagsbewußtsein gegeben ist, sondern wirkliches Denken erfordert,,
welches Denken ebenfalls eine lange erfahrungsmäßige Geschichte
hat" (Engels). Die theoretisch-weltanschauliche und methodologische Grundlage
für eine wissenschaftliche Bildung, Anwendung und Entwicklung der
B.
() zur wahrhaften Erkenntnis und praktisch-revolutionären Veränderung
der Wirklichkeit ist ,. . . die materialistische > Dialektik, > Abstraktion,
> Logik."
Quelle: Redaktionskollektiv (1973) Kleines politisches
Wörterbuch. Berlin: Dietz
"Zur Bedeutungsanalyse von Begriffen
(BMAnalyse)
Werden bei Explikationen vage und mehrdeutige Begriffe durch exaktere
Begriffe
(BMpraez) präzisiert,
so wird bei einer Bedeutungsanalyse untersucht, welche Bedeutung mit einem
Wort innerhalb einer Sprachgemeinschaft verbunden ist. Eine Bedeutungsanalyse
ist folglich auch nicht die Präzisierung eines
Begriffs
(BMAnalyse) durch einen
anderen, und d.h. auch nicht konventioneller Natur und empirisch unentscheidbar,
sondern die empirische Untersuchung über die Verwendung eines sprachlichen
Zeichens durch einen bestimmten Personenkreis, und somit eine Aussage,
die empirisch ’wahr’ oder ’falsch’ sein kann. Unterziehen wir bspw. die
Worte ’Regierung’ und ’Staat’ einer Bedeutungsanalyse, so zeigt sich, daß
diese Worte in Europa unterschiedlich verwendet werden. In Großbritannien
bspw. wurde für lange Zeit ’government’ gegenüber ’state’ präferiert
und hat das französische Wort ’état’ und das deutsche Wort
’Staat’ in ’government’ übersetzt. In Kontinentaleuropa dagegen wird
’government’ als Regierung bezeichnet, als Teil des generelleren
Begriffs
(BMBspGeg) ’Staat’.
Die Bedeutungsanalyse wird von HEMPEL (1974:19)
auch als analytische Definition bezeichnet. Die analytische Definition
kann aber nicht als eine Definition im reinen Sinne verstanden werden (s.u.),
da sie nicht sprachliche Ausdrücke mit anderen sprachlichen Ausdrücken
äquivalent setzt, sondern ein empirisches Resultat über die Verwendungsweise
eines Begriffs (BMBGebr)
innerhalb einer Sprachgemeinschaft zum Ziel hat.
Zur Definition von Begriffen
()
Unter ’Definieren’ ist ein Prozeß zu verstehen, in dem einem
sprachlichen Ausdruck eine exakte Bedeutung gegeben wird. Das Resultat
dieses Prozesses stellt dann eine ’Definition’ dar. Innerhalb dieses Prozesses
bezeichnet man den zu definierenden sprachlichen Ausdruck als Definiendium
(A) und den Ausdruck, der das Definiendium definiert, als Definiens (B).
Ziel einer Definition ist so auch, daß das Definiendium dem Definiens
äquivalent ist. Formal läßt sich dieser Sachverhalt wie
folgt angeben: A =df B
Mit dieser Bestimmung von ’Definition’ dürfte
auch klar sein, daß eine Definition, wie die Explikation auch, immer
auf sprachlichen Konventionen beruht und für sich selbst weder empirisch
’wahr’ noch ’falsch’ sein kann, sondern nur für den empirischen Forschungsprozeß
nützlich oder unnützlich (BMdefNZK).
Welche Formen von Begriffsdefinitionen
(BMDefArt) lassen sich
unterscheiden bzw. welche Formen von Begriffsdefinitionen
(BMDefArt) sind innerhalb
der empirischen Wissenschaften gebräuchlich? Wie die nachfolgende
Darstellung zeigen wird, werden manche Präzisierungsvorhaben zwar
mit dem Etikett ’Definition’ versehen, ohne jedoch Definitionen im oben
erläuterten Sinn darzustellen. Wenn wir diese Präzisierungsvorhaben
dennoch als Definitionen bezeichnen, so sollten die mit ihnen verbundenen
wissenschaftstheoretischen Bedenken bei ihrer Verwendung im empirischen
Forschungsprozeß nicht außer acht gelassen werden.
Betrachten wir zunächst eine Definitionsform,
über die innerhalb der wissenschaftstheoretischen Literatur Konsens
besteht: die Nominaldefinition. Sie [>143] kommt unserer eingefuhrten Bestimmung
von ’Definition’ am nächsten. Nach HEMPEL (1974:14) kann eine
Nominaldefinition "als Festsetzung des Inhalts charakterisiert werden,
daß ein spezifizierter Ausdruck, das Definiendum, mit i;a einem gewissen
anderen Ausdruck, dem Definiens, synonym sein soll, dessen Bedeutung
bereits bekannt ist". Max WEBER (1976:28) definiert so bspw. ’Macht’ über
eine Nominaldefinition als "jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung
den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleich“", viel
worauf diese Chance beruht". Wie wir sehen, muß das Definiens nicht
nur aus einem Wort, sondern kann auch aus einer verbundenen Wortgruppe
bestehen. Ebenso können wir bspw. auch die Eigenschaft, für eine
Bundestagswahl ’wahlberechtigt zu sein’ definieren mit:
Oberflächlich betrachtet hat es den Anschein,
daß wir jeden Begriff (BMDefNom)
über eine Nominaldefinition präzisieren können. Es wäre
jedoch verfehlt, mit Nominaldefinitionen unbedenklich umzugehen, und das
sowohl für die Definition schon bestehender Begriffe
(BMDefNom) als auch für
die Neueinfuhrung von Begriffen (BMDefNom).
Zumindest »sollte jede Nominaldefinition, die wir vornehmen, primär
auf zwei Kritierien hin überprüft werden: Auf das Kriterium der
Eliminierbarkeit und auf das Kriterium der Nichtkreativität.
Mit dem Kriterium der Eliminierbarkeit wird je nach
Kontext gefordert, daß die Ausdrücke im Definiendum und im Definiens
austauschbar sind, d.h. daß der Wahrheitswert der den Ausdruck beinhaltenden
Sätze gleich bleibt (extensioneller Kontext) oder daß die Ausdrücke
den gleichen Sinn in beiden Sätze| besitzen (intensioneller Kontext)
(RADNITZKY 1989:28). Technischer und für die Mathematik ausgedrückt
bedeutet das, daß ein definiertes Zeichen in jeder Formel der Theorie
eliminierbar sein muß (SUPPES 1980:126).
Mit dem Kriterium der Nichtkreativität wird
gefordert, daß durch die Definltion keine zusätzliche Information
in das Definiens aufgenommen wird (RADNITZKY 1989: 28f). Dies bedeutet
technischer und für die Mathematik, daß eine neue Definition
nicht den Beweis von bisher unbeweisbaren Beziehungen zwischen Grundzeichen
und schon früher definierten Zeichen ermöglichen sollen (SUPPES
1980:126).
Neben diesen beiden fundamentalen Kriterien für
eine Nominaldefinition ist des weiteren bei der Definition sicherzustellen
(MENNE 1973:271f; 1984:32f), daß die Definition adäquat, klar,
möglichst einfach und möglichst aussagekräftig ist. .
Im Gegensatz zur Nominaldefinition steht die Realdefinition.
Sie kann unter zwei Gesichtspunkten verstanden werden. Unter dem ersten
Gesichtspunkt ist mit dieser Form der Definition die Intention verbunden,
das ’Wesen’ einer Entität zu bestimmen bzw. zu definieren. Gewöhnlich
geht eine solche Definition von einer ’Was ist ...?’-Frage aus, bspw. ’Was
ist Macht?’ oder ’Was Ist Gemeinwohl?’ bzw. ’Was ist das Wesen von Macht?’
oder ’Was ist das Wesen" [>144] von Gemeinwohl Wie RADNITZKY (1989:30)
anmerkt, ist jedoch eine solche Frage unsinnig, da sie auf einer begründungsphilosophischen
Einstellung beruht, die meint, die wahre Definition einer Entität
geben zu können. Werden Realdefinitionen in diesem Sinne verstanden,
so sind sie für den empirischen Forschungsprozeß untauglich
bzw. auch gefährlich. Unter dem zweiten Gesichtspunkt ist mit dieser
Form der Definition eine Sacherklärung durch Aufzählung ihrer
charakteristischen Merkmale gemeint. So kann eine Realdefinition für
Wein bspw. lauten: ’Wein’ ist ein aus dem ausgepreßten Saft von Weintrauben
durch alkoholische Gärung gewonnenes Getränk.
Neben der Nominal- und der Realdefinition existieren
noch eine Menge weiterer ’Definitionsfonnen’, die an dieser Stelle mit
all ihren Pro- und Contraargumenten anzusprechen, über die Intention
dieses Kapitels weit hinausgehen würde.16 Erschwert würde
eine umfassende Darstellung aller existierenden Definitionsformen auch
durch den Umstand, daß eine einheitliche Theorie der Definition bis
heute noch aussteht.
Für den empirischen Politikwissenschaftler selbst dürften
aus der Menge der existierenden Definitionsfonnen neben der Nominal- und
Realdefinition (nach dem zweiten Gesichtspunkt) noch die folgenden von
theoretischer und praktischer Relevanz sein:
Wie unsere Ausführungen zeigen, können
Begriffe
(BMpraez) sehr unterschiedlich
präzisiert werden, sei es durch Explikationen, Bedeutungsanalysen
oder Definitionen. Erschwert wird die jeweilige Wahl einer dieser Präzisierungsmethoden
dadurch, daß sie, wenn auch gut ausgearbeitet, innerhalb der wissenschaftstheoretischen
Literatur oftmals kontrovers diskutiert werden.18 Als eine Richtlinie
für den empirischen Politikwissenschaftler kann vor diesem Hintergrund
die Empfehlung gegeben werden, bei der Präzisierung seiner Begriffe
(BMpraez) sowohl die jeweilige
Präzisierungsmethode explizit anzugeben als auch die mit der gewählten
Methode verbundenen Schwierigkeiten bzw. Unzulänglichkeiten zu reflektieren.
Für die Theoriebildung selbst ist zu empfehlen, mit möglichst
wenigen
undefinierten Grundbegriffen
(BMBGrund) zu operieren."
Sachregistereinträge zu Begriff
Gerechtigkeit nach Rawls
Aus: Rawls, John (orig 1971, dt. 1975) Der Hauptgedanke der Theorie
der Gerechtigkeit. Aus: Eine Theorie der Gerechtigkeit. In (143-153)
Münkler, Herfried (1994, Hrs.) Politisches Denken im 20. Jahrhundert.
3.A. 1999. München: Piper. S. 146:
"Bei der Erarbeitung des Begriffs (BMDefCha)
der Gerechtigkeit als Fairneß
(BMvergl) besteht eine
Hauptaufgabe offenbar in der Bestimmung der Gerechtigkeitsgrundsätze
(BMBziel),
die im Urzustand (BMunklar),
(BMAnf) gewählt würden.
Dazu müssen wir diesen Zustand aufführlicher beschreiben und
das vorliegende Entscheidungsproblem sorgfältig formulieren. Ich werde
mich damit in den unmittelbar folgenden Kapiteln beschäftigen. Übrigens
ist es eine offene Frage, ob bei einer Einigung auf die Grundsätze
der Gerechtigkeit in einer Situation der Gleichheit
(BMmerkm), (BMBKrit)
das Nutzenprinzip (BMmerkm),
(BMBKrit) (»Principle
of utility«. Gemeint ist das Prinzip der Maximierung der Summe oder
des Durchschnittswerts des Nutzens. [Anm. d. Übers.]) anerkannt würde
(BMFrage). Auf den ersten
Blick erscheint es kaum als naheliegend, daß Menschen, die sich als
Gleiche sehen und ihre Ansprüche gegeneinander geltend machen können,
sich auf einen Grundsatz einigen sollten, der einigen geringere Lebenschancen
auferlegt, nur weil die Summe der Vorteile für die anderen größer
ist. Da jeder seine Interessen - die Möglichkeit, seiner Vorstellung
vom Guten nachzugehen - schützen möchte, gibt es für niemanden
einen Grund, sich selbst mit einem dauernden Verlust zufriedenzugeben,
um insgesamt mehr Befriedigung hervorzubringen. Ohne starke und beständige
altruistische Motive würde kein vernünftiger Mensch eine Grundstruktur
akzeptieren, nur weil sie die Summe der Annehmlichkeiten für alle
zusammengenommen erhöht - ohne Rücksicht auf ihre dauernden Wirkungen
auf seine eigenen Grundrechte und Interessen. Das Nutzenprinzip scheint
also unvereinbar zu sein mit der Vorstellung gesellschaftlicher Zusammenarbeit
zwischen
Gleichen zum gegenseitigen
Vorteil, mit dem Gedanken der Gegenseitigkeit, der im Begriff
einer wohlgeordneten Gesellschaft (BMmerkm),
(BMBKrit), (BMunklar)
enthalten ist. Diese Auffassung werde ich jedenfalls vertreten."
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Wissenschaft site:www.sgipt.org. |
noch nicht end-korrigiert