Die kranke Gesellschaft und ihre Kinder
Wie krank sind wir wirklich?
Das Titelfoto wurde im Jahr 1975
in New York von Susanna Walter aufgenommen.
von Jörg Walter (2009),
mit Erlaubnis des Autors für das Internet aufbereitet
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Eine Internetpräsentiation dieses sehr interessanten und kritischen
Werke wird im Laufe des Jahres 2012 realisiert.
Zum Vorgänger des Werkes (2002): Die
Handicapgesellschaft.
Nach einer neuen Unicef-Studie bietet Deutschland Kindern nur mittelmäßige
Zukunftschancen. LEYEN: „Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten eine
Entwicklung verschlafen, die im Ausland früher erkannt wurde.
. . . [FN03] die Kinderarmut ist eines der beschämendsten
Probleme unsere Landes
Viele Menschen können nicht mehr sinnvoll beschäftigt werden,
weil Arbeitsplätze für Menschen fehlen, die auf eine Betreuung
angewiesen sind und die notwendige Betreuung aus Kostengründen gestrichen
wird. Die Erkrankungen in der Bevölkerung steigen.
Die Verschuldung privater Haushalte nimmt stetig zu. Mehr als 3,1 Millionen
Haushalte [FN04] bundesweit können nach
den letz-ten vorliegenden, für 2002 ermittelten Zahlen ihren Zahlungs[>10]verpflichtungen
nicht mehr nachkommen. Die Tendenz ist stark steigend, 1994 waren es erst
zwei Millionen Haushalte.
Die Medien verändern das Bewusstsein der Bevölkerung ebenso
wie die veränderte Lebensweise der Bevölkerung. Natürliche
Lebensrhythmen werden außer Kraft gesetzt, die Einnahme von Suchtmitteln
und Medikamenten prägen das Verhalten zukünftiger Generationen
ebenso wie eine ungesunde Ernährung.
Auch wenn diese Entwicklungen zunehmen und von oberen Bevölkerungs-
und Politikerschichten nicht wahrgenommen werden wollen, so reifte vor
allem bei Jugendlichen eine Frustreaktion auf diese Perspektivenlosigkeit
um sich. Zerrüttete Familienverhältnisse, Schulversagen, drohende
Arbeitslosigkeit, fehlende gesellschaftliche Ideale bereiten den Boden
für gefährliche politische Entwicklungen und eine zunehmende
Brutalisierung der Bevölkerung.
Durch das umfangreiche Daten- und Zahlenmaterial kann es zu fehlerhaften
Darstellungen gekommen sein. Durch die ge-nauen Quellenangaben soll eine
Überprüfung möglich werden.
Selbst wenn die vorgelegten Zahlen nur zur Hälfte stimmen würden
– die Situation gäbe wenig Anlass zu Optimismus.
Eine kranke Gesellschaft erzeugt kranke Nachkommen und Nachkommen mit körperlichen, seelischen und geistigen Defiziten.
Im Jahr 2002 vertrat ich die These, dass wir auf dem Weg zu einer „behinderten Gesellschaft“ sind. Ich möchte diese Feststellung ergänzen: Wir sind auch auf dem Weg, uns selbst und gegenseitig immer mehr zu behindern, weil wir nicht mehr ausreichend auf die ureigensten Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingehen, sondern uns in einer maßlosen Welt zurechtfinden müssen. Unsere demokratische Staatsform ent-wickelt sich zu einer Oligarchie. [>11]
Hohe Arbeitslosigkeit, ein krankes Gesundheitssystem, zunehmende Orientierungslosigkeit und ein Auseinanderklaffen der sozialen Gegensätze in unsrem Land kennzeichnen den Zustand unserer Gesellschaft.
Die vorliegenden, gesammelten Berichte und Daten sollen dazu beitragen,
sowohl den desolaten Zustand unserer Gesellschaft zu verdeutlichen, aber
auch aufzeigen, dass die einzige Möglichkeit, die Schwierigkeiten
zu meistern, in einer radikalen Umkehr unserer Denkweise liegt.
Die Medizin macht Fortschritte, dennoch werden die Men-schen immer
kränker, die Wirtschaft erzielt riesige Gewinne – und dennoch – die
Armut nimmt dramatisch zu.
Die Politik zeigt sich seit Jahren nicht in der Lage, eine entscheidende
Wende herbeizuführen.
Die vorliegenden Daten sollen in erster Linie zum Nachdenken anregen,
aber auch als Argumentationshilfen bei Diskussionen dienen.
Gleichzeitig soll verdeutlicht werden, dass eine Besserung auf lange
Sicht nicht absehbar ist. Wir müssen lernen, in einer Gesellschaft
der „Andersseienden“ friedlich miteinander zu leben.
Wir leben in einer kranken Gesellschaft und bewegen uns weg von der
Idee eines demokratischen Relativismus [FN05]
sowie einer humanistischen Orientierung.
Wenn ich in meinem ersten Buch [FN06]
nach den Ursachen fragte und die These vertrat, dass das synergistische
Zusammenwir-ken verschiedenster, vielfältiger Faktoren den Zustand
unserer Gesellschaft dramatisch verschlechtert, so habe ich wertvolle Erkenntnisse
hinzugewonnen.
Neben den vielen aufgezeigten Einflussmöglichkeiten vollzog sich
möglicherweise auch eine tiefgreifende Kränkung des Menschen
durch das Auftreten und Bewusstwerden neuer [>12] Erkenntnisse über
uns selbst [FN07] , die uns bei genauer Überlegung
unsere Zerbrechlichkeit, unsere Unfähigkeit und – wenn man nicht mit
CAMUS und seinem Mythos des Sisyphos der Sinnlosigkeit zu entrinnen versteht
– unsere Verletzbarkeit und den Zwang zur Suche nach Sinn und Erfolg verdeutlichen.
Vielleicht gehören wir genau betrachtet nicht zur Spezies des
„homo sapiens“.
Unsere Gesellschaft ist nach meiner Auffassung auch dadurch gekennzeichnet,
dass das Recht des Stärkeren gilt. Bei genauer Beobachtung der politischen
und der sozialen Situation ist anzumerken, dass eine Erziehung mit dem
Ziel, Menschen hilfsbereit, teamfähig und großzügig werden
zu lassen, sich fragwürdig zeigt, da sie nur dazu führt, die
Jugendlichen zu fragilen Spielbällen der Mächtigen zu machen.
In unserer Gesellschaft schaut jeder, „wo er bleibt.“
Eine relativ kleine Schicht von sehr einflussreichen Menschen bestimmt
ohne jegliches persönliches Risiko auf Kosten der Schwächeren,
was zu geschehen hat. Die Mächtigen verlieren nichts, denn sie haben
immer alles was sie brauchen oder sie können es sich ohne Probleme
durch ihre Beziehungen beschaffen. Sie leben aus einer anderen Perspektive
heraus, die nichts mehr mit der eines Arbeiters oder Mittelständlers
ge-meinsam hat.
Doch die Gier genau dieser Menschen hält die Mächtigen im
Amt und verschafft ihnen die Legitimation für noch höhere Gewinne.
Alle folgenden Gedanken können nur fragmentarisch sein und erheben erneut keinen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit. Da wir aber unser „Weltbild“ häufig aus einem Ozean von unüberprüfbaren Informationen schöpfen und aufbauen, ist es wichtig, Informationen mit unseren möglichen, persönlichen Erfahrungsbereichen zu vergleichen. [>13]
Viele Faktoren tragen dazu bei, dass sich unsere Gesellschaft rasant zu einer behinderten und sich behindernden Gesellschaft entwickelt.
Die sich immer deutlicher zeigenden Symptome weisen zumindest deutlich darauf hin.
Zugleich bin ich mir bewusst, dass – und diese Meinung wird auch durch
neuere Gehirn-Forschungen bestätigt – wir uns unsere Wirklichkeit
konstruieren. Es ist unumstritten, dass wir in erster Linie das sehen,
was wir sehen wollen, und dass wir nicht tun, was wir wollen, sondern wollen,
was wir tun. Unsere Vorstellung vom freien Willen scheint eine Täuschung
zu sein [FN08]. Das gilt offenbar für
jeden Menschen. Aus Sicht der Gehirnforschung gibt es kein Zentrum, in
dem sämtliche Vorgänge des Fühlens, Denkens und Wahrnehmens
zusammenlaufen. Unsere Gehirnstruktur ist vielmehr mit einer komplizierten
Schaltapparatur zu vergleichen, in welcher über Rückkopplungsschleifen
und Querverbindungen ein Modell der Wirklichkeit entsteht, von dem wir
genau genommen nicht sagen können, ob es mit der Realität übereinstimmt.
Zu allem Unglück sind wir als Konstrukteure unseres Daseins ständig
gezwungen, unsere eigenen Konstrukte zu beurteilen. Unser Gehirn ist darauf
ausgelegt, nach Sinn und kausalen Zusammenhängen zu suchen. Da wir
uns nur sehr ungern ein-gestehen, dass unsere Handlungen sinnlos oder unnötig
sind – vor allem dann, wenn finanzielle Möglichkeiten oder Notwendigkeiten
mit im Spiel sind – müssen wir unser Handeln von vorneherein als sinnvoll
deklarieren.
So entstehen auch die Lebenslügen der gutbürgerlichen Gesellschaft.
Viele Menschen in unserem Land gelten als abgeschrieben – und wir nehmen
das hin. Von Politikern, die gerne an der Macht wären, wird oft populistisch
ein hartes Durch{>14]greifen gefordert; sie übergehen dabei eine wichtige
Erkennt-nis PASTEURS, der am Ende seines Lebens äußerte: „Die
Mikrobe ist nichts – das Milieu ist alles!“
Wenn wir uns nicht an die Arbeit machen, das Milieu umzugestalten,
werden wir die Zunahme von Gewalt zu verantworten haben.
Große Bevölkerungsteile sind alleine nicht mehr in der Lage,
für eine Milieuverbesserung zu sorgen. Schwerwiegende politische Konsequenzen
sind zu befürchten.
Dennoch liegt hier zugleich die große Chance aller Eltern, Erzieher, Lehrer und der Menschen, denen Menschen anvertraut sind: Wir können im Kleinen das Milieu sehr wohl ändern, dürfen aber nicht darauf warten, dass von staatlicher Seite eine Förderung gewährt wird.
Nur (finanziell und geistig) unabhängige Menschen können heute
wirksam, ohne die Angst vor Konsequenzen haben zu müssen, auch unangenehme
Beobachtungen (das Wort Wahr-heit vermeide ich in diesem Zusammenhang bewusst)
laut in der Öffentlichkeit äußern.
Aus dieser Tatsache heraus lässt es sich auch erklären, warum
wir so wenig übereinander und voneinander wissen und den Mitmenschen
so oft nicht verstehen können. Unsere Interessen lenken unser Verhalten,
und es würde niemandem leicht fal-len, seine Arbeit oder sein Verhalten
als sinnlos oder wenig effizient zu erklären. Dennoch scheinen wir
als Gesellschaft nicht in der Lage zu sein, die grundlegenden Probleme
des menschlichen Zusammenlebens so zu lösen, dass es eine be-friedigende
Grundlage für unser Zusammenleben gibt.
Viele Menschen müssen inzwischen ihr Geld mit Tätigkeiten
verdienen, die dem Funktionieren der Gesellschaft eher hin-derlich sind;
das zeigt ein aufgeblähter Verwaltungsapparat. Andere Tätigkeiten
dagegen werden ausgeführt, weil sich Maschinen amortisieren müssen
oder weil Menschen dadurch ihre Familien ernähren. [>15]
Unser Gesundheitssystem – man sollte es besser in „Krank-heitssystem“
umbenennen, ebenso wie die Krankenhäuser zu Recht ihren Namen tragen
und nicht „Gesundheitshäuser“ heißen – ist ein Beispiel
dafür:
Ein Bekannter suchte wegen verschiedener Beschwerden wiederholt seinen
Hausarzt auf; der stellte eine Diagnose und überwies an einen Facharzt;
dieser wiederum überwies den Patienten ins Krankenhaus. Dort wurde
er von einem Assistenzarzt, einem Stationsarzt und zum Schluss vom Professor
und einem Facharzt beraten und untersucht. Dann wurde er nach Hause geschickt
mit der Bemerkung, das nächste Mal gleich die Klinik aufzusuchen.
Das ist kein Einzelfall – jeder will und muss leben – aber die Allgemeinheit kann weder solche Verhaltensweisen noch ein solches Gesundheitssystem auf Dauer finanzieren.
Presse und Medien tragen gezielt dazu bei, die Bevölkerung in Angst
zu versetzen. Das beste Beispiel ist die Berichterstattung und die damit
aufgekommene Angst vor der Vogelgrippe.
In einem freiheitlichen und demokratischen System hilft nur das selbstständige
Denken und Beobachten sowie ein intensiver Meinungsaustausch weiter.
Weder in Wissenschaft noch in der Politik besteht ein Interesse daran,
die wirklichen Ursachen für die enormen gesellschaftlichen Veränderungen
zu begreifen, da wir sonst erkennen würden, dass wir uns selbst zu
allererst ändern müssten.
Wir als Individuen dieser offensichtlich behinderten Gesell-schaft
sind in unvorstellbar großem Ausmaß krank und erzeugen seit
geraumer Zeit zunehmend kränkere Nachkommen, trotz medizinischer Fortschritte.
Selbst wenn die Zahlen zu den einzelnen Bereichen übertrieben sein
sollten – und keiner von uns kann sie letzten Endes kontrollieren
- so gibt der desolate Zustand der Bevölkerung [>16] Deutschlands
Anlass zu größter Sorge und erfordert ein radikales Umdenken
in allen Bevölkerungsschichten..
Wir sind nach meiner Beobachtung seit etwa 12 Jahren nicht mehr in
der Lage, wichtige Aufgabenbereiche wie die Grundversorgung der Kinder
und Jugendlichen zu erfüllen. Die notwendigen Geldmittel fehlen oder
werden für andere, wichtiger erscheinende Projekte ausgegeben.
Die Zahl der schwachen und hilfsbedürftigen Menschen steigt seit
Jahren – sie werden schlechter versorgt - während die Selbstbedienungsmentalität
in den oberen Einkommensschich-ten sowie in der Politik zunimmt. Geldgier
und Rücksichtslo-sigkeit vernichten immer mehr Arbeitsplätze.
Die Globalisierung muss als einer von vielen Entschuldi-gungsgründen
für die sich verschlimmernde Situation herhal-ten.
Eine Gesellschaft, die nicht mehr dafür sorgt, dass auch die Schwächsten
– die sie ja erzeugt - gut versorgt, wird Schiffbruch erleiden.
Sowohl die Armut unter Jugendlichen als auch die Tatsache, dass viele
Jugendliche intellektuell nicht mehr in der Lage sind, eine Berufsausbildung
zu absolvieren, lässt für die Zukunft Schlimmes befürchten.
Die Behinderungen und Störungen nehmen drastisch zu. Wir nehmen
das hin, ohne gemeinsam und unabhängig nach Lösungen zu suchen,
etwa wie EINSTEIN [FN09] es vorgeschlagen hat.
Der große Denker meinte außerdem:
„Der Staat ist für die Menschen und nicht die Menschen für
den Staat . . . Der Staat sollte also unser Diener sein, nicht wir die
Sklaven des Staates.“ [FN10]
Wir sind eine zerfallende Gesellschaft mit mangelhaften Wertevorstellungen,
der es an Durchhaltevermögen und klaren Zielvorstellungen fehlt. Die
Familienstrukturen lösen sich in [>17] beängstigender Weise auf.
Dadurch wird große Unsicherheit und Orientierungslosigkeit
bei den Kindern erzeugt.
Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft tragen kein persönliches
Risiko für gravierende Fehlentscheidungen.
Es wird schwer – wenn nicht gar unmöglich sein – die großen Probleme sozialer Art zu lösen.
Wenn wir nicht darauf hinarbeiten, dass die Menschen in unserer Gesellschaft
mit ihrer Arbeit eine Familie ernähren können, wird sich die
Situation weiter verschlechtern. Wir müssen wir uns die Frage nach
der Gerechtigkeit der Entlohnung in Deutschland stellen, wen eine Friseurin,
die mit abgeschlossener Lehre 800 Euro monatlich oder weniger verdient,
vor allem dann, wenn die Verdienste von „Spitzenpolitikern“ und Wirtschaftsbossen
zwischen 12 000 und 500 000 Euro monatlich betragen.
ACKERMANN bezieht ein Festgehalt von 1,15 Millionen Euro monatlich
(eine Steigerung von 18 Prozent gegenüber dem Jahr 2004 [FN11]),
Bundestagsabgeordnete erhöhen selbstreferentiell ihre Diäten
um fast zehn Prozent - die Verdienste der Bank-Mitarbeiter stiegen dagegen
um 1,6 Prozent, die Sozialleistungen für die ärmsten werden gekürzt.
Es hat nichts mit Sozialneid zu tun, solche Realität anzuprangern.
Werner von SIEMENS notierte vor 138 Jahren:
„Mir würde das verdiente Geld wie glühendes Eisen in der
Hand brennen, wenn ich treuen Gehülfen nicht den erwarteten Anteil
gäbe.“ [FN12]
KLEINFELD und ACKERMANN sind Stellvertreter des Raubtierkapitalismus,
während Firmen wie BMW und Porsche ihre Arbeitnehmer regelmäßig
am Geschäftserfolg beteiligen.
Wir bewegen uns auf eine Kluft unter den Menschen zu: Der Abstand zwischen
Gewinnern und Verlierern war noch nie so groß wie heute – und er
wird weiter zunehmen, wenn nicht [>18] Arbeitsplätze für die
vielen Menschen geschaffen werden, die wegen einer geringeren Leistungsfähigkeit
und wegen Entwicklungsverzögerungen oder -stillständen in unserer
Gesellschaft an den Rand gedrängt werden.
Allein in Bayern [FN13] sollten jährlich
etwa 20 000 entwicklungsverzögerte oder behinderte Kinder bis zum
Alter von sechs Jahren eine Frühförderung erhalten. Seit drei
Jahren ziehen sich die Verhandlungen darüber hin, wie diese finanziert
werden soll.
Die Kinder sind unserer Gesellschaft zu wenig wert. So wie eine Familie
unter Umständen Opfer für die Kinder bringen muss – wenn Wachstum
und Entwicklung stattfinden sollen – so muss dies auch für den Staat
gelten; die Unterstützung der Hilfebedürftigen darf nicht
weiter eingeschränkt werden, vor allem dann nicht, wenn keine Arbeitsplätze
vorhanden sind. Der Staat darf nicht selbst weiter auf Kosten der Bevölkerung
leben und sich selbst bedienen. Die obersten Staatsdiener müssten
in erster Linie wie in einer Familie die Opfer für die Bevölkerung
bringen.
Und so wie eine Familie nicht über ihre finanziellen Verhält-nisse
leben kann, so kann dies auch der Staat nicht auf Dauer tun. Wenn im Großen
nicht das eingehalten wird, was im Kleinen erforderlich ist, so muss unsere
Gesellschaft scheitern, denn der Staat ist nur notwendig, weil es Familien
und einzel-ne Menschen in großer Masse gibt.
Diese Handlungs-Gesetze müssen für alle gelten. Nur Kant`s
kategorischer Imperativ kann als Maßstab für unser Handeln herangezogen
werden.
Das, was für den einzelnen Menschen als verbindliches Hand-lungsgesetz
gelten muss, damit die Gesellschaft funktionstüchtig ist, muss auch
für den Staat Geltung besitzen und verbindlich für sein Handeln
sein. [>19]
Trotz des Ausbildungspakts zwischen Wirtschaft und Bundes-regierung
finden immer weniger Jugendliche eine Lehrstelle. Bundesweit gab es 2005
rund zehn Prozent weniger Neuabschlüsse für Lehrstellen als 2000,
aber rund drei Prozent mehr Schulabgänger. [FN14]
Zwei von drei Hauptschülern sind vor Be-ginn des neuen Ausbildungsjahres
noch ohne Lehrstellen. So suchen noch 40 000 Hauptschul-Abgänger eine
Lehrstelle. [FN15]
Eine andere Meldung nennt derzeit fast 100 000 Jugendliche, die derzeit
in Bayern eine Lehrstelle suchen. [FN16] Die Hälfte
davon sind so genannte Altbewerber – das heißt, sie warten seit mindestens
einem Jahr auf einen Ausbildungsplatz. Die Arbeitsagenturen geben jährlich
1,6 Milliarden Euro für Berufsvorbereitungskurse aus. Rund 17 Millionen
Euro kostet es den Freistaat, dass jedes Jahr mehr als 4700 Hauptschüler
freiwil-lig die 9. Klasse wiederholen, um ihre Chancen auf eine Lehr-stelle
zu erhöhen. Allein von diesem Geld könnten 200 Lehrer eingestellt
werden.
Über die Zukunft von Förderschülern wird politisch wenig
nachgedacht..
Viele Schüler schreiben mehrere Bewerbungen und erhalten nicht
einmal eine Antwort. Arbeitslosigkeit hat also nichts mit arbeitsunwilligen
jungen Menschen zu tun, sondern eher mit dem Unwillen, in junge Menschen
zu investieren und Arbeitsstellen zu schaffen, die für diese Jugendlichen
geeignet sind. Industrielle und Politiker haben nicht die politischen,
zu befürchtenden Folgen erkannt. [>20]
Wir werden gezwungen sein, viele technische Errungenschaften wieder
in Frage zu stellen. Die Wirtschaft muss sich dem Menschen anpassen – nicht
umgekehrt!
Es ist dringend notwendig, sich um die Schwächsten rechtzei-tig
zu kümmern – auch wenn die Kosten und der Aufwand hoch sind.
Gleichzeitig müssen wir nach den Ursachen für die sich ver-schlimmernde
Situation suchen. Es reicht nicht mehr aus, sich nur noch um die Besitzstandswahrung
zu kümmern.
Wir müssen erkennen, dass die menschliche Mithilfe, die Pflege
und Versorgung der Kranken und Schwachen nicht in Minuten abgerechnet werden
darf, sondern gerecht bezahlt werden muss.
Es ist notwendig, auch die iatrogenen Schäden zu erforschen und den Sinn und die Effizienz medizinischer Präventivmaßnahmen genau zu untersuchen.
Die Zeitgemäßheit des Beamtentums sollte in vielen Bereichen
überprüft werden, ebenso wie die Möglichkeit der Selbstbedienung
der Politiker. Während der deutsche Durchschnitts-verdiener heute
weniger Gehalt als im Jahr 1998 bekommt, [FN17]
sollen die Diäten der Abgeordneten automatisch steigen, weil sie seit
drei Jahren nicht mehr erhöht wurden und jetzt bereits zehn Prozent
unter Tarif-Niveau liegen. [FN18]
Diese hohen Folgekosten der Staatsbeamten müssen gesenkt werden.
Die Möglichkeit eines zumindest teilweise staatlichen Gesundheitssystems
sollten sorgfältig geprüft werden, damit zu[>21]mindest eine
Grundversorgung der ärmsten Bevölkerungsschichten gewährleistet
ist.
Staatliche Krankenhäuser, die ihre angestellten Ärzte gerecht
bezahlen und für gute Arbeitsbedingungen sorgen, könnten ergänzend
zum privaten Gesundheitsbetrieb eingerichtet werden.
Es müssen Arbeitsplätze für behinderte Menschen eingerichtet werden, die interessante und qualitativ hochwertige Produkte auf den Markt bringen können (z. B. Möbel).
Vor allem muss ein Umdenken in Bildung und Erziehung stattfinden. Der Orientierungslosigkeit der jüngsten Generati-onen sollte durch vermehrte Anstrengungen in den Familien, Kindergärten und den Schulen entgegengewirkt werden. Die nachwachsenden, orientierungslosen Generationen, die ihren Kindern aus verschiedensten Gründen keine Erziehung und Bildung mehr mitgeben können, benötigen die Hilfen des Staates. Wenn die „Entwicklungsfenster“ nicht mehr gesehen und genutzt werden, dann wird unsere Gesellschaft retardieren und von wenigen unkontrolliert gelenkt werden, weil wir nicht mehr intellektuell in der Lage sein werden, die Zusammenhänge zu verstehen.
Es muss der Mut für ein humanes Denken und Handeln aufgebracht
werden. Nicht die wirtschaftlichen Erfolge sind das Wichtigste – wohl aber
eine Gesellschaft, die gesund und auf ein Miteinander ausgerichtet ist.
So wie in einer Familie Opfer für die Kinder gebracht werden müssen
– so müssen in einer Gesellschaft Opfer für die Schwächsten
gebracht werden.
Wir opfern nur für zunehmende Gewinne.
Meinen Dank möchte ich an dieser Stelle erneut meinem Freund Heiner
Meier für seine Anregungen aussprechen. [>22] Meinem Freund Beppo
danke ich für die jahrelange, zuverlässige Lieferung von Zeitungen
und somit von Fachartikeln. Den jeweiligen Journalisten bin ich für
ihre Recherchen ebenso dankbar.
Es ist mir wichtig, auch Herrn Dr. Sponsel an dieser Stelle herzlich
zu danken. Er hat mich durch seine wohlwollende Internet-Kritik wesentlich
ermutigt, mich weiter intensiv mit dem Zustand unserer Gesellschaft zu
beschäftigen.
Trotz meiner großen Bemühungen um exakte Quellenangaben und
korrekte Übernahme des Zahlenmaterials kann ich Fehler nicht ausschließen.
Jörg Walter Schwabsoien, den 7. Mai 2006
___
Fußnoten Vorwort:
FN01: Mitteilung auf einer Schulleiterkonfernez
im Februar 2007.
FN02: SZ, Nr. 259, 2006, S. 12; Arztbesuche
pro Altersgruppe: Männer, 40 –jährig: 8,5 Arztbesuche / junge
Frauen :15 / Menschen über 80 Jahre: 35) Nach Deutschland folgen:
Tschechien, Slowakei und Japan.
FN03: MM, Nr. 38, 2007, S. 1; Ursula von der
LEYEN ist Familienministerin für Deutschland
FN04: SZ, Nr. 202, 2006, S. 12
FN05: FEYERABEND, 1980
FN06: WALTER, 2002, Die Handicap-Gesellschaft
FN07: Siehe dazu den Anhang: Das Selbstverständnis
des Menschen – oder: Die Kränkungen der Menschheit
FN08: SIEFER/WEBER, 2006, Wie wir uns selbst
erfinden; auch in DIE ZEIT, Nr. 14, 2006, S. 61
FN09: EINSTEIN, 1993, Mein Weltbild, S. 102
und 103;
FN10: 1931; zitiert in French, EINSTEIN, S.
285
FN11: MM, Nr. 70, 2006, S. 1
FN12: Zitiert in MM, Nr. 257, 2006, S. 2
FN13: MM, Nr. 74, 2006, S. 9
FN14: MM, Nr. 75, 2006, S. 1; Angaben des
Statistischen Bundesamts
FN15: MM, Nr. 121, 2006, S.1; auch in SZ,
Nr. 120, 2006, S. 7; hier wird die Zahl 40 000 auf die Bundesrepublik bezogen
– nicht wie im MM auf Bayern. Im Jahr 2005 waren es etwa 28 000 Jugendliche
in Deutschland, die keine Lehrstelle gefunden haben. Ende April – vier
Monate vor Beginn des neuen Ausbildungsjahres – waren bei den Arbeitsämtern
371 000 Jugendliche als unterversorgt registriert.
FN16: MM, Nr. 199, 2006, S. 3
FN17: DIE ZEIT, Nr. 14, 2006, S. 23
FN18: MM, Nr. 74, 2006, S. 2; ein Bundestagsabgeordneter
verdient mo-natlich etwa 7009 Euro. Nach achtjähriger Zugehörigkeit
hat ein Bundestagsabgeordneter einen Anspruch auf eine Altersversorgung
von monatlich 1 682 Euro – ein Straßenfeger verdient 1 600 Euro monatlich.
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Soziologie site:www.sgipt.org. |
kontrolliert: