Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=07.03.2002
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 30.03.23
Impressum:
Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
Stubenlohstr.
20 D-91052 Erlangen * Mail:_sekretariat@sgipt.org_
Reader (Bewertung und Hinweise):
System der Werttheorie. I. Band. Allgemeine Werttheorie. Psychologie des Begehrens.
Christian von Ehrenfels (1897)
Erster Teil: Der allgemeine Wertbegriff und
seine Derivate.
1. Die sprachübliche und die wissenschaftlichen Auffassungen vom Werte.
§ 1. Es ist in der Wissenschaft immer von Vorteil, sich vor der theoretischen Bearbeitung und Feststellung eines Begriffes über dessen sprachübliche Anwendung Klarheit zu verschaffen; denn häufig liegt in dieser, gleichsam concentrirt, das Ergebniss einer nicht unbedeutenden Gedankenarbeit vieler Generationen vor, an welches die wissenschaftliche Forschung anknüpfen kann; wo dieß aber nicht der Fall ist, und die Gedankenarbeit der Generationen eine falsche Richtung eingeschlagen hat, ist es, um unbemerkte Rückfälle in den Sprachgebrauch und hieraus sich ergebende Äquivocationen zu vermeiden, wieder nötig, sich jener falschen Richtung deutlich bewusst zu werden und ihr in offenem Widerspruch zu begegnen. [FN01]
In Bezug auf den hier zu untersuchenden Wert- Begriff nun dürfte die zweite der angeführten Alternativen von vornehmlicher Wichtigkeit sein; - nicht als ob alle sprachüblichen Anwendungen des Wertbegriffes sich auf irreführender Bahn bewegten - aber doch so weit, dass, wer immer von [>2] der sprachüblich gewohnten zu einer wissenschaftlich begründeten Anwendung des Begriffes überzugehen sich anstellen mag, hiebei vor allem eines mit den gebräuchlichen Constructionen eng und unausrottbar verwobenen Vorurteile; sich zu entscheiden hat, welches er als Hypothese beizubehalten zwar ermächtigt, als Fiction weiterzuführen sprachlich sogar gezwungen, als wissenschaftliche Behauptung aber aufzustellen nimmermehr berechtigt ist: - wir meinen nämlich das Vorurteil von der objectiven Bedeutung des Wertbegriffes. Die Sprache verwendet das Wort und den Begriff 'Werth' zu allermeist in Wendungen, welche nur dann einen eigentlichen, d.h. nicht methaphorischen Sinn haben, wenn man unterstellt, dass der Wert eine Eigenschaft oder gar ein Bestandteil der äußeren Dinge sei, etwas wir ein ideeller Feingehalt oder eine übersinnliche Essenz der Dinge, welche diese, unabhängig von dem subjectiven Verhalten des Menschen zu ihnen, erwerben, vermehren oder vermindcrn, verlieren, ja sogar einander übertragen könnten, und deren Vorhandensein in den Dingen diese dem Menschen erst begehrbar machten. Die Sprache gibt hierdurch einem dem menschlichen Verstande tief eingcwurzelten Drange nach Vergegenständlichung seiner Objecte Ausdruck. Bedenkt man aber, dass das menschliche Denken seit Jahrtausenden in dieser Richtung thätig war, ohne dass es sich hiebei ihrem Zielpunkt - jenes mysteriöse Wertfluidum in einer wirklichen oder auch nur begriftlichen Retorte herauszudestillieren- auch nur im geringsten genähert hätte, so kann man dem Versuche mindestens nicht die Berechtigung absprechen, welcher die gemeinübliche Auffassung umzukehren sich unterfängt, etwa in dem Satze:
- Nicht deswegen begehren wir die Dinge, weil wir jene mystische, unfassbare Essenz „Wert" in ihnen erkennen: sondern deswegen sprechen wir den Dingen „Wert" zu, weil wir sie begehren.
Begreiflicher Weise wird ein so radicales Vcrfahren mannigfachem Widerspruche begegnen.
Die Einen werden einwenden, dieß hieße doch die Probleme auf den Kopf stellen. Wenn wir auch zugeben mögen, dass wir das Wesen des Wertes in den äußeren Objecten [>3] noch nicht ergriindet haben, so sei es eben deswegen notwendig, die Forschung weiterzuführen, nicht aber statt dessen den objectiven Begriff in das bloß subjective Moment der Begehrtheit eines Objectes aufzulösen, was viel eher als die angestrebte Erkenntniss den principiellen Verzicht auf jede mögliche Lösung des eigentlichen Problems involvire.
Andere werden der Ausdeutung des Wertbegriffes auf ein subjeetives Element hin zwar zustimmen, sie aber, wesentlich abweichend, etwa in folgender Weise formuliren: Die gemeinübliche Auffassung, wonach wir die Dinge begehren, weil wir sie als wertvoll erkennen, bleibt doch zu Recht bestehen, nur ist der in den Dingen erkannte „Wert" weder eine Eigenschaft noch eine Essenz jener, für sich betrachtet, sondern lediglich ihre Unentbehrlichkeit bei der Befriedigung unserer Bedürfnisse. Ein Ding ist wertvoll, heißt demnach nichts anderes, als, jenes Ding ist (vermöge seiner wie auch unserer Beschaffenheit und derjenigen etwaiger causaler Mittelglieder) unentbehrlich, um unsere Bedürfnisse zu befriedigen, oder uns Lust oder Freude zu verschaffen, oder Schmerz hintanzuhalten oder zu vertreiben. Einzig umwillen jener erkannten oder doch angenommenen Unentbehrlichkeit zur Bedürfnissbefiedigung begehren wir die Dinge. [FN-S3]
Eine dritte Partei endlich wird ebenfalls die Werterforschung auf subjectivem Wege gelten lassen, aber nur als eine Methode, dem in den Dingen selbst gelegenen objectiven und absoluten Wert auf die Spur zu kommen, etwa nach folgender Anweisung: das ist richtig, dass wir bei der Wertbestimmung voll der Thatsache der Begehrtheit der Objecte auszugehen haben; nur bietet dieselbe noch keineswegs ein hinreichendes Merkmal. Nicht alle begehrten Dinge sind wertvoll, sondern nur diejenigen, welche auch würdig sind, begehrt zu werden. Ob einem Ding aber diese Würde zukomme, ergibt sich nur einzelnen Fall nicht aus einer Unter-[>4]sucheng der objectiven Beschaffenheit des Dinges, sondern aus der subjeetiven Betrachtung des auf das Ding gerichteten Begehrens. Aus der Erforschung unserer eigenen Gemütsthätigkeit, beim Begehrensacte erkennen wir, ob dieser sich auf etwas an sich Wertvolles richtet, oder nicht. [FN-S4a]
Dieß in summarischem Überblick die Gruppirung der Meinungsdifferenzen, welcher jene proponirte Umstellung des sprachüblichen Wertbegriffes begegnen dürfte. Dass hiebei nur solcheWerttheorien berücksichtigt wenden konnten, welche den Wertbegriff in seiner Allgemeinheit definiren wollen, und nicht etwa auch diejenigen (an späterer Stelle zu behandelnden), die sich von vorne herein auf ökonomische Werte, oder gar nur auf eine Kategorie dieser beschränken [FN-S4b] - bedarf wol keiner näheren Erläuterung. Wenn es kein Irrtum und keine Marotte des Sprachgebrauches ist, welche etwa jemandem auszusagen erlaubt, es besitze die Charakterfestigkeit scines Freundes, die aufbewahrte Haarlocke seiner verstorbenen Mutter und das gemünzte Gold in seinem Schranke ,,Wert" für ihn, so sind wir nach jener umffassenden Wortbedeutung zu forschen wissenschaftlich verpflichtet.
Schon aus einer so kurzen Umschau ergibt sich jedoch die Erkenntnis, dass es unmöglich ist, auchl nur über die Bedeutung und Tragweite der verschiedenen, gangbaren Werttheorien, geschweige denn über dem Wertbegriff selbst zur Klarheit zu gelangen, ohne die mit den Wertthatsachen jedenfalls in engstem Zusammenhange stehenden Phänomene des menschlichen Begehrens und Fühlens einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, Wir sind daher gezwungen, umwillen dieses an sich rein psychologischen Zieles den Gang unserer Wortbedeutung schon hier, an der Schwelle, zu unterbrechen.
II. Das Verhältniss zwischen Fühlen und Begehren.
§ 2. Was zum Zwecke der Erhellung des Wertbegriffes an psychologischen Einblicken auf dem Gebiete des Fühlens und Begehrens Not thut, ist weniger eine systematische und dcscriptive Feststellung jener Phänomene mit ihren Merkmalen und Unterclassen, als vielmehr die Erkenntnis, ihres gegenseitigen genetischen Verhältnisses im psychischen Leben. In Bezug auf die Umgrenzung jener Begriffe können wir uns kurz fassen und an den Sprachgebrauch appelliren.
Unter Gefühlen verstehen wir alle psychischen Zustände, welche das Merkoral des Lust- oder Leidvollen in sich tragen, gleichgültig, ob du die näheren als Freude, Annehmlichkeit. Wolbehagen, Lust, oder als ,Schmerz, Qual, Pein, Unbehagen, Unlust bezeichnet werden. - Die erste dieser Kategorie'n, welche als positiv sich über dem, als Nullpunkt gedachten Indifferenzzustand des Gemütes erhebt, benennen wir - mit bewusster Erweiterung der sprachüblichen Wortbedeutung - dem pychologischen Herkommen gemäß als Lust, die zweite, unter dem Nullpunkt gelegene, als Unlust schlechthin. Die verschiedenen Intensitätsgrade von Lust und Unlust lassen sich demnach in ein eindimensionales Continuum, darzustellen als eine lotrechte Linie, geteilt durch den Indifferenz- oder Nullpunkt, einordnen. Die oberhalb und unterhalb des Nullpunktes gelegenen Intensitätsgrade können mit einander verglichen werden. Es hat einen deutlichen Sinn, eine bestimmte Unlust einer bestimmten Lust gegenüber als größer, gleich oder geringer zu schätzen. Aus diesem Grunde, und weil de Merkmale von Lust und Unlust gegen einander contrastiren, kann man Unlustgrößen als negative Lustgrößen in Rechnung setzen? [FN-S5] Die Größenbestimmungen freilich sind hier wie auf den meisten anderen psychischen Gebieten nicht exacter als etwa auch bei räumlichen und zeitlichen Maßbestimmungen, wenn wir solche ohne technische Hilfsmittel (Maßstäbe, [>6] Uhren etc.) auszuführen haben. Die qualitativen Verschiedenheiten, welche neben jenen prinzipiell durchaus vergleichbareu Intensitätsgraden die Gefühle nach der Meinung mancher noch aufweisen mögen, können hier vorderhand unberücksichtigt bleiben.
Unter dem gemeinsamen Begriffe des Begehrens umfassen wir alles Wünschen, Streben und Wollen, psychische Acte also, welchen es gemeinsam ist, auf ein bestimmtes Ziel oder einen Zweck gerichtet zu sein, nämlich entweder auf die Existenz oder die Entstehung eines Dinges. Das Eintreten oder Zutreffen eines Vorganges, oder aber auf die Nichtexistenz oder Vernichtung eines Dinges, das Hintanbleiben oder Aufhören eines Vorganges. Demnach unterscheiden wir positive und negative Acte des Begehrens, erstere als Begehren im engeren Sinne, letztere als Verabscheuen zu benennen.
§ 3. Fragen wir, älmlich wie bei der augebahnten Wertdefinition, auch nun, bei der Aufhellung des genetischen Verhältnisses zwischen jenen zwei Kategorien psychischer Phänomen, zunächst nach dem Urteil der praktischen Volksweisheit, so stellen wir auf den Widerstreit zweier nicht unerheblich differirender Anschauungsweisen. Vielen scheint es selbstverständlich zu sein, dass die Richtung und die Stärke des Begehrens nur durch die Gefühlsdispositionen des Menschen bestimmt werde. Wenn man weiß, woran ein Mensch seine Freude hat, und was ihm Schmerz bereitet, so glaubt man auch über den Charakter seines Wünschens, Strebens und Wollens hinlänglich orientirt zu sein. Sich über das Unglück eines anderen zu freuen, gilt fast ebensosehr als ein Charakterfehler, wie nach jenem Unglück zu streben. Über die Art und Weise jenes Parallelismus der Gefühls- und Begehrensdispositionen bestehen zwar die verschiedensten, mehr oder weniger klaren psychologischen Voraussetzungen. Im allgemeinen aber wird man wol behaupten dürfen, dass die gebräuchliche Anschauung entschieden dahinneigt, dem Gefühl die verursachende Rolle zuzuschreiben. „Ich will dieß und jenes, weil es mich freut" - diesen Satz dürfen wir wol, mit all seinen Zweideutigkeiten, als das Endergebniss aller in der [>7] einen Richtung sich bewegenden populären Reflexionen betrachten. - Eine andere Richtumg erkennt zwar an, dass das Begehren häufig, ist vielleicht in den meisten Fällen durch das Gefühl (durch "Neigung") bestimmt werde, bestreitet aber die Allgemeingültigkeit dieses Satzes, um es als ein Privilegium des Menschen anzusehen, dass er seinem Willen des Gefühlszwanges zu entledigen und damit dem höheren Gebote der Vernunft unterzuordnen vermöge.
Uns scheint nun entschieden der ersten jener beiden Aufassungen der Vorzug zu gebühren, Da aller die Philosophie (schon aus natürlicher Parteilichkeit der einzelnen Philosophen für die "Würde der Vernunft") seit Alters her eine gewisse Vorliebe für die letztere an den Tag gelegt hat, (man erinnere sich unter anderem der KANT'schen Ethik, welche ja allem durch „Neigung" causirten Begehren das Prädicat des Sittlichen schlechterdings abspricht) - so haben wir zunächst die zweite der angeführten psychologischen Fundamentalpositionen eincr Kritik zu unterziehen.
Wer des öfteren schon gegenüber philosophischen Doctrinen von umfassender Tragweite theoretisch Stellung zu nehmen versucht hat, der wird es bestätigen, dass man hiebei dann den größten Schwierigkeiten in der überzeugenden Darstellung seiner Anschauungen unterworfen ist, nicht wenn es etwa gilt, versteckte Widersprüche in der Beweisführung des Gegners aufzudecken, oder ein Gespinnst von Trugschlüssen zu entwirren, - sondern, wenn man das Fundament, auf welchem das ganze gegnerische Gebäude errichtet ist, einfach abzuläugnen sich gezwungen sieht. Nichts ist leichter, als ein solches Verdict auszusprechen, nichts dagegen schwieriger, als diejenigen, welche sich in jenes Gebäude bereits eingelebt haben, voll der Hinfälligkeit seiner Fundamente zu überzeugen. Viele werden unserer Behauptung, es sei schlechterdings unmöglich, dass die Vernunft den Willen direct ohne Vermittlung des Gefühlslehren beeinflusse, unbedingt und rückhaltslos zustimrnten, diejenigen aber, welche ihrer psychologischen Empirie das Gegenteil entnehmen zu können glauben, werden durch die Vcrsicheruug, dass sie sich irren und nur besser zusehen sollen, um zur richtigen Ueberzeugung zu gelangen, schwerlich von der einmal [>8] gefassten Meinung abgebracht werden können. Mehr aber lässt sich im Wesentlichen kaum entgegnen. Der negative Satz, dass niemals die Vernunft allein ohne einen irgendwie beschaffenen Anteil des Gefühlslebens ein Wollen, oder überhaupt ein Begehren hervorzubringon im Stande sei, — dass wir also, wenn wir nicht fühlen würden, auch nicht begehren könnten, — dieser Satz kann nur durch Berufung an die gesunde psychologische Phantasie eines jeden Einzelnen begründet werden. Lediglich als Beihilfe zu den hierauf bezüglichen Ueberlegungen wollen wir es nun aufgefasst wissen, wenn wir im Folgenden jene Wirkungen zu charakterisiren versuchen, welche, jedoch unter Vermitt1ung des Gefüh1es, durch die Vernunft auf das Begehren ällerdings ausgeübt werden können; (das Wort Vernunft im weitesten Sinne als Denkthätigkeit überhaupt verstanden).
Solcher Wirkungen gibt es nämlich zweierlei, indem dio Denkthätigkeit erstlich einem bestimmten Wunsche die Erkenntniss derMitte1 zur Erreichung seines Objectes zu eröffnen und ihn dadurch zum Streben und Wollen zu erweitern, zweitens aber auch überhaupt solche Vorstellungscomplexe zu bilden vermag, welcbe dann durch das gefühlsmäßigeVerhalten des Individuums zu letzten Zielen von Wünschen und Strebungen erhoben werden können. Wenn also in jedem Willensacte die Vorstellungen von Zweck und Mitteln unterschieden werden können, sowie äuch die Meinung, dass aus der Verwirklichung der Mittel sich der Zweck ergeben werde, so sind hiemit jene Bestandteile namhaft gemacht, welche der begehrenden durch die denkende Bethätigung beigestellt werden. Die Thätigkeit der anschanlichen und begrifflichen Phantasie im Verein mit der Fähigkeit, Urteile zu bilden, machen uns erfinderisch in der Wal von Zwecken und Mitteln; diese Wal selbst aber, das heißt die Erhebung eines unter den uns zur Verfügung stehenden Vorstellungsinhalten zum Ziele eines thatsächlichen Wollens, — wird lediglich durch llnser Gefühlsleben ermöglicht. Die Vernunft mag uns sagen, dass wir, wenn wir jetzt nicht die Hand erheben, zweifellos bei lebendigem Leibe geschunden und geröstet werden, im entgegengesetzten Falle aber alle Gefahr ebenso zweifellos beseitigt sei; — wenn uns diese [>9] Einsicht gleichgiltig lässt, das heißt, wenn wir so beschaffen sind, dass uns die Erwartung, zu Tode gequält zu werden, kein Gefühl der Unlust erweckt und uns überhaupt gefühlsweise nicht anders afficirt als ihr Gegenteil, so worden wir trotz der allerbestimmtcsten vernünftigen Ueberzeugung doch nichtt zu dem Entschlusse fällig sein, für unsere Rettung auch nur den Finger zu rühren. Ebenso verhält es sich in allen analogen Fällen. Wenn irgend ein — etwa KANT's kategorischem Imperative verwandtes — Vornunftgesetz selbst bestehen würde, so könnte es uns doch niemals durch Vernunft allein, oder durch diese im Verein mit anderen von dem Gefühlsleben verschiedenen Kategorie'n psychischer Kräfte zu irgend welchen Acten des Strebens oder Wollens veranlassen. Wenn wir so beschaffen sind, dass uns die Ueberzeugung, gegen irgend welche moralische Vorschrift verstoßen zu haben, gleichgiltig lässt, d. h. kein Gefühl der Unlust in uns erweckt oder uns überhaupt gefühlsmässig nicht anders afficirt als ihr Gegenteil, so sind wir auch unfähig, uns in unserem Streben und Wollen durch jene beeinflussen zu lassen. Und noch mehr; nicht nur das Eintreten oder Ausbleiben, sondern auch die Stärke des Begehrens wird einzig von dem Gefühlsanteil abhängen, welchen wir aus dem Hinblick auf Sein oder Nichtsein des zu begehrenden Geschehnisses zu hegen im Stande sind. Wer irgend mit unbefangenem Sinn und frei von Vorurteil psychische Thatbestände aufzufassen vermag, muss dem beistimmen.
Die Art und Weise, in welcher Denkthätigkeit und Gefühlsleben an dem Zustandekommen unseres Begehrens Anteil haben, besteht also darin, dass das Denken uns in jedem bestimmten Falle eine gewisse Zahl von Möglichkeiten oder Richtungen des Verhaltens oder der Bethätigung vorhält, von denen abor erst vermöge unserer gefühlsmaßigen Beschaffenheit dic eine durch den betreffenden Act des Begehrens, oder auch durch däs Ausbleiben eines solchen, thatsächlich eingeschlagen wird. Da aber die Vernunft des Normalmenschen hinreicht, um ihm den Ausblick auf sämmtliche Richtungen offen zu halten, nach denen man menschliche Bestrebungen gemeiniglich zu classificiren pflegt, so hängt es lediglich von seinen Gefühls[>10]dispositionen ab, welcher von diesen er sich nun wünschend, strebend und wollend wirklich hinwendet. In diesen Sinne nun kann man im Allgemeinen ohne erheblichen Fehler Begehrens- mit Gefühlsdispositionen idcntificiren, wie dieß die Psychologie des praktischen Lebens auch zu thun gewohnt ist, da man ja, wenn man zur Kenntniss dessen gelangt, was irgend Jemanden freut und was ihm Schmerz bereitet, auch über seine Handlungen ein dementsprechend sicheres Urteil sich zugetraut, oder, so oft sich irgend eine Individualität in ihrer gewollten Handlungsweise ausspricht, den Grund hievon, und zwar mit Recht in ihren Gefühlsdispositionen aufsucht.
Soviel hier zur Rechtfertigung der ersten von den angeführten gemeinüblichen Auflassungen gegenüber der Theorie von der unmittelbaren Herrschaft der Vernunft über den Willen, welche, in ihren Consequenzen ebenso unnatürlich wie in ihren einzelnen Begründungen, die; Behandlung aller einschlägigen Probleme in Unklarheit und Verwirrung zu bringen droht.
§ 4. Indessen ist es uns hiermit noch nicht gestattet, an eine nähere directe Erforschung unseres Problenes selbst heranzutreten, da es vielmehr noch einige psychologische Positionen abzuweisen gilt, welche zwar mit uns eine unmittelbare Herrschaft der Vernunft über das Begehren bestreiten und den durchgängigen Parallelismus zwischen Gefühls- und Begehrensdispositionen anerkennen, diesem letzteren aber eine von der unsrigen abweichende, oder ihr sogar entgegengesetzte Deutung erteilen würden. Es sind ließ, kurz bezeichnet, die beiden Auffassungen, einerseits der Zugehörigkeitvon Fühlen und Begehren zu einer einzigen Grundklasse psychischer Phänomene, andrerseits der Abhängigkeit des Fühlens vom Begehren statt dieses von jenem.
§ 5. Die erstere dieser beiden Positionen gehört allgemein der älteren Psychologie an, findet aber auch heute noch in theoretischen und in praktischen Fassungen namhafte Vertreter. - Es ist klar, dass, wenn Lust und Unlust, Wünschen und Verabscheuen, Begehren und Widerstreben u.s.w. wir specielle Individualisirungen eines gemeinsamen Grundphäno- [>11] menes darstellen würden, dann der Parallelismus von Gefühls- und Begehrungspositionen sich von selbst verstünde, keiucswegs aber auf irgend eine genetische Prävalenz der einen Specialklasse vor der anderen, d. h. also auf eine causale Abhängigkeit des Begehrens vom Fühlen, oder auch umgekehrt, hinweisen müsste, indem dann vielmehr die Frage aufzuwerfen wäre, anter welchen Umständen Jenes gemeinsame Grundphänomen zu Lust und Unlust, und unter welchen es sich zu Wünschen, Streben oder Wollen ausgestalte.
Die hiemit kurz charakterisirte Auffassungsweise erfuhr eine eingehende wissenschaftliche Bearbeitung durch einen der scharfsinnigsten und logisch bestgeschulten Philosophen unserer Zeit, durch FRANZ BRENTANO (FN-S11) dessen Fundamentalpositionen zur ethischen Werttheorie wir auch später noch ausführlich in Betracht za ziehen genötigt sein werden. Ausgehend von der Überzeugung, dass, wer immer die Lehre von der Wesensvcrswandtschaft zwischen Fühlen und Begehren aufrechtzuhalten versuchen möge, hiebei, sofern er logisch correct verfährt, entweder direct die Brentano'sche, oder doch eine ihr sehr nahe stehende 'Fassung werde annehmen müssen, wollen wir daher die zu untersuchende Position speciell in Brentano's Formulirung uns vorführen.
BRENTANO bezeichnet als das Wesentliche jener gemeisnamen Grundklasse, welche er dem Vorstellen und Urtheilen als dritte zur Seite stellt, die weiter nicht zu defnirenden Merkmale des "Liebens oder Hassens", welche seiner Darstellung nach, (analog wie das Anerkennen oder Verwerfen dem Urteil,) jedem Gefühl sowol wie auch jedem Acte des Begehrens innewohnen. Die Verschiedenheiten aber der durch die Sprache bestimmter oder unbestimmter charakterisirten einzelnen Phänomene der Liebe und des Hasses sind nach Brentano in einer wechselnden qualitativen Beschaffenheit jenes inneren Kreises je nach den Objecten, auf welche er sich bezieht, sowie auch in der Verschiedenheit dieser selbst, und in begleitenden Urteilen begründet.
Christian von Ehrenfels (1859-1932) hat in seiner psychologisch-analytischen
Arbeit zum System der Werttheorie Wichtiges geleistet, so daß ich
mich wundere, weshalb diese wertvolle Arbeit des Begründers der Gestaltpsychologie
so in Vergessenheit geraten konnte. Vielleicht hat es mit seiner Beschränkung
auf das Begehren als Wertquelle zu tun oder/ und mit der Kritik von Victor
Kraft (1951), S. 28f..
Die psychologisch kognitive Funktion ywerten ist elementar und fundamental und ist grundsätzlich vom yurteilen oder yaussagen zu unterscheiden. y Werten können heißt sich orientieren und sein Leben ich- angemessen einrichten können. Sehr wichtig und in engem Zusammenhang mit dem Heilmittel Jwerten steht J wünschen und wollen, J gestalten und anpassen. |
Ehrenfels, Christian von (1898). System der Werttheorie. II. Band. Grundzüge einer Ethik. Leipzig: Reisland.