Dysfunktionale Selbstaufmerksamkeit
Klinisch-psychologische und gesundheitspsychologische
Untersuchungen.
Jürgen Hoyer
Ein Buchhinweis mit Leseproben von Rudolf Sponsel, Erlangen
Aus dem Vorwort
* Inhaltsverzeichnis * Einleitung
*
Anwendungsperspektiven
in der Psychotherapie: Aufmerksamkeitstraining
Querverweise
Aus dem Vorwort |
TEIL I: Theorie und Konzeptentwicklung
1 Einleitung 11
2. Theorien der Selbstaufmerksamkeit 15
2.1 Theorie der objektiven Selbstaufmerksamkeit
2.2 Aktuelle und dispositionelle, private und öffentliche Selbstaufmerksamkeit
17
2.3 Empirische Ergebnisse 19
2.4 Selbstaufmerksamkeit und Selbstregulation I: 23
Carver & Scheier
2.5 Selbstaufmerksamkeit und Selbstregulation II: 28
Pyszczynski & Greenberg
3. Klinische Psychologie der Selbstaufmerksamkeit 32
3.1 Selbstaufmerksamkeit und Depression
4. Gesundheitspsychologie der Selbstaufmerksamkeit 63
4.1 Selbstaufmerksamkeit als Schutz- oder Risikofaktor der körperlichen
Gesundheit
4.2 Selbstaufmerksamkeit als Schutz- oder Risikofaktor der seelischen
Gesundheit
4.3 Zusammenfassung
5 Dimensionen der Selbstaufmerksamkeit
5.1 Inhaltliche Dimensionen
5.2 Prozeßdimensionen
5.3 Metaanalyse: Private Selbstaufmerksamkeit und Depressivität
77
5.4 Funktionale versus dysfunktionale Selbstaufmerksamkeit 79
6. Entwicklung eines Fraebegenverfahrens
6.1 Vorüberlegungen 85
6.2 Beschreibung der Fragebogenkonstruktion und ersten Validierung
88
6.3 Faktorenanalytische Replikation und Retestreliabilität 96
6.4 Bewertung 99
TEIL II: Empirische Untersuchungen 108
7. Führt erhöhte Selbstaufmerksamkeit im Alltag zu vermindertem
Wohlbeffnden?
7.1 Einleitung 101
7.2 Kritik und Replikation des Experiments von Siegrist 104
7.3 Erweiterungen der Studie 106
7.4 Methoden und Stichproben 108
7.5 Ergebnisse: ErsterTeil 113
7.6 Diskussion: Erster Teil 122
7.7 Ergebnisse: ZweiterTeil 128
7.8 Diskussion: ZweiterTeil 133
7.9 Integrierende Diskussion 136
8. Führt die Konfrontation mit kognitiven Inkonsistenzen zu
übersteigerter Selbstaufmerksamkeit?
8.1 Einleitung 139
8.2 Kognitive Inkonsistenzen und erhöhte Selbstaufmerksamkeit
141
8.3 Methoden 152
8.4 Ergebnisse 167
8.5 Diskussion 175
9 Ist Grübeln spezifisch für Depression und Sich-
Sorgen spezifisch für Angst?
9.1 Einleitung 183
9.2 Dysfunktionale Selbstaufmerksamkeit als unspezifisches, Sich-Sorgen
und Grübeln als spezifische Merkmale 186
9.3 Methoden 188
9.4 Ergebnisse 192
9.5 Diskussion 199
10. Verminderte Selbstaufmerksamkeit bei Atemwegserkrankten?
10.1 Einleitung 203
10.2 Informationsverarbeitungstile und Selbstaufmerksamkeit 208
10.3 Methoden 210
10.4 Ergebnisse 216
10.5 Diskussion 221
11. Selbstaufmerksamkeit und Veränderung
Eine Studie an stationären Alkoholpatienten
11.1 Selbstaufmerksamkeit und Veränderung bei Alkoholpatienten
229
11.2 SelbstaufmerksamkeitundVeränderungsmotivation 232
11.3 Methoden 234
11.4 Ergebnisse 238
11.5 Diskussion 243
12. Gibt es einen "healthy degree of introspection"?
Untersuchungen am Datenpool der Studien
12.1 Zur These des "healthy degree of introspection" 246
12.2 Faktorenanalytische Fragestellungen 249
12.3 Methoden 250
12.4 Ergebnisse 251
12.5 Diskussion 261
13. Integration und Forschungsausblick 262
Literatur 272
Anhang 302
"Gleich vielen anderen, die wie ich auf eine puritanische Erziehung zurückblicken, war es mir Gewohnheit, über meine Sünden, Torheiten und Mängel nachzudenken. Ich erschien mir selbst - gewiß mit völligem Recht - als ein jammervolles Wesen. Allmählich lernte ich dann, mir und meinen Unzulänglichkeiten gegenüber gleichmütig zu bleiben; ich gelangte dahin, meine Aufmerksamkeit in wachsendem Maße äußeren Dingen zuzuwenden...Auch äußere Interessen tragen zwar ihre Leidensmöglichkeiten in sich... Doch Schmerzen dieser Art zerstören nicht wie jene, die dem Ekel am eigenen lch entspringen, den wesentlichen Gehalt des Daseins. Und jedes äußere Interesse belebt irgendeine Tätigkeit... Ein Aufgehen in sich selbst dagegen verhilft zu keinerlei ersprießlicher Tätigkeit. Es vermag zur Abfassung eines Tagebuchs, zu einer psychoanalytischen Kur, vielleicht auch ins Kloster zu führen". |
In der zitierten biographischen Notiz fällt der englische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell (1977, S. 14) ein (nicht nur für einen Philosophen) bemerkenswert negatives Urteil, was das "Nachdenken über sich selbst" anbetrifft: Es zerstöre "den wesentlichen Gehalt des Daseins". Andere große Denker hätten dem durchaus zugestimmt. Für Goethe galt "der Mensch kennt nur sich selbst, insofern er die Welt kennt", Introspektion sei "Selbstquälerei" (Goethe, 1823/ 1955, S. 38). Von Kant stammt der Rat, "mit der Ausspähung ... des Laufs seiner Gedanken und Gefiihle sich durchaus nicht zu befassen.... weil es der gerade Weg ist, in Kopfverwirrung ... zu geraten". Es sei "entweder schon eine Krankheit des Gemüts (Grillenfängerei) oder fiihrt zu derselben und zum Irrhause" (Kant, 1798/1968, S. 415f.).
Demgegenüber setzt bereits mit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine Bewegung ein, in der Introspektion als Mittel der Psychoprohylaxe propagiert wird, so in Karl Philipp Moritz' "Magazin zur Erfahrungsseelenkunde" (1783 - 1793, zit. nach Perrez & Baumann, 1991) oder in Lavaters "Nachdenken über sich selbst" (1770), einer Art Anleitung zur Selbstbeobachtung.
Diese kursorischen Hinweise mögen ausreichen, um ein Thema zu skizzieren, das offensichtlich nicht nur Psychologen schon lange beschäftigt hat: Welche Bedeutung hat es für das psychische Wohlbefinden wie für psychische Störungen, wenn Menschen ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst richten? Fördert oder hemmt die Beschäftigung mit sich selbst menschliche Entwicklung? Bringt es "aus der Balance" oder stellt es Balance wiederher?
Die in den vorgetragenen literarischen Fundstücken sichtbaren Tendenzen finden sich in aktuellen sozial-, motivations- und klinisch-psychologischen Positionen wieder: Der Zustand der sogenannten "objektiven Selbstaufmerksamkeit" (s.u.) wird als in der Regel aversiv beschrieben; er werde, wenn möglich, vermieden (Duval & Wicklund, 1972; Wicklund, 1975). Experimentelle Befunde zeigen, daß Nackdenken die Konsistenz zwischen Einstellung und tatsächlichem Verhalten sowie die Güte von Entscheidungen verringert (Miller & Tesser, 1989; Wilson & Schooler, 1991). Die Disposition, häufiger in den Zustand der "objektiven Selbstaufmerksamkeit" zu wechseln gilt als wesentlicher Faktor zur Erklärung der Entstehung und Aufrechterhaltung von Depressionen (Pyszczynski & Greenberg, 1987, 1992), Ängsten (Gibbons, 1991) oder psychischen Störungen überhaupt (Ingram, 1990a, 1991). Alkoholismus, Masochismus, Eßstörungen und andere potentiell selbstschädigende Verhaltensweisen seien als Versuche beschreibbar, der Last des Selbst-Seins" (burden of selfkood) zu entfliehen (Baumeister, 1990, 1991, "Escaping the self ").
Selbstvergessenheit, wohl in gewisser Weise das Gegenteil von Selbstaufmerksamkeit, wird als Konstitutens der seelischen Gesundheit angesehen (Becker, 1989, 1995). Begriffe wie "Selbst-Distanz" oder "Selbst-Transzendenz" (Frankl,1994) oder das Gleichsetzen von "selbst-losen" Zuständen wie dem "Flow"-Erlebnis mit Glück (Czikszentmihalyi, 1993) zeigen ein wissenschaftliches Credo, das die oben gestellte Frage recht einseitig beantwortet.
Andererseits fragt man sich, warum Menschen "Selbsterfahrung" suchen und noch dafür bezahlen oder sich von einsichtsorientierten Therapien Hilfe oder persönliche Weiterentwicklung versprechen (vgl. Wicklund & Eckert 1992). "Gesunde" Selbstregulation kann sicher nicht nur automatisiert und ohne Wahrnehmung innerer Zustände und Problemdeterminanten stattfinden sondern sie muß flexibel auf multiple Umwelt- (und Selbst-) Anforderungen leagieren können. Wie aber sollte die De-Automatisierung der Selbstregulation ohne Selbstaufmerksamkeit vonstatten gehen? Nicht umsonst also wird Selbstaufmerksamkeit als Bestandteil elaborierter Modelle menschlicher Selbststeuerung aufgefasst (Carver & Scheier, 1981). Bleiben selbst-relevante Problemdetenninanten zu stark ausgeklammert, so kann auch dies zu Störungen führen (vgl. Sachse, 1995). Selbstaufmerksamkeit (oder Selbstreflexion) ist nichts Geheimmsvolles" (Dörner, 1987); das Denken kann "sich selbst zum Objekt machen, ohne daß z.B. ein infiniter Regreß durch diese Relation des Denkens zu sich selbst begründet wird", und: " 'Wollen' ist ohne 'Denken' (nämlich selbst-reflexives Denken) gar nicht vorstellbar" (ibid., S.247).
Man sieht bereits bei der ersten Beschäftigung mit dem Thema, daß eine pauschale Position nach dem Gut- oder Schlecht-, Pro- oder Contra- Muster der Komplexität der Funktionen von Selbstaufmerksamkeit nicht gerecht werden kann (vgl. Hoyer & Korntheuer, 1996; Hoyer, 1997a). Die Frage, ob letztere sich positiv oder negativ auf das Wohlbefinden auswirkt, ist schon vor einer eingehenderen Untersuchung als zu einfach erkennbar. Sie sollte vielleicht eher lauten "When does introspection bear fruit?" (Hixon & Swann, 1993). Oder präziser: Sind Randbedingungen zu finden, die angeben, (1) wann (d.h. unter welchen Bedingungen), (2) bei welchen Personen, (3) in Interaktion mit welchen Variablen, (4) welche Form von Selbstaufmerksamkeit sich (5) kurz- oder langfristig positiv oder negativ auf das psychische Wohlbefinden (oder andere Variablen) auswirkt? Zumindest einige dieser Randbedingungen auf der Basis empirischer Ergebnisse zu präzisieren - oder sie in Frage zu stellen -, ist die übergeordnete Zielsetzung der hier vorliegenden Arbeit.
Als theoretischer Ausgangspunkt wird die Theorie der objektiven Selbstaufmerksamkeit (Duval & Wicklund, 1972) herangezogen. Sie wird in Kapitel 2 zusammen mit neueren, auf dieser Theorie fußenden Ansätzen dargestellt. Den großen Einfluß dieser Theorie auf Arbeiten im Bereich der Klinischen Psychologie macht Kapitel 3 deutlich: Hier werden Theorien zur Erklärung psychischer Störungen dargestellt, in denen das Selbstaufmerksamkeits- Konstrukt eine bedeutsame Rolle spielt, und eine Verbindung zur Handlungskontralltheorie von Kuhl (1994a) wird hergestellt. Im vierten Kapitel erweitern wir den Bezugsrahmen um eine gesundheitspsychologische Perspektive: Selbstaufmerksamkeit ist nicht nur im Hinblick auf psychische Störungen, sondern auch sub-klinisch oder in der Verarbeitung von körperlichen und Alltagsproblemen relevant.
Eine wesentliche Kritik bisheriger Studien und vor allem der in ihnen verwendeten Operationalisierungen von Selbstaufmerksamkeit, wird im folgenden, fünften, Kapitel vorgetragen: Es wird häufig so getan, als sei der Zustand der Selbstaufmerksamkeit etwas Homogenes, als seien die in ihm ablaufenden Prozesse stets gleichförmig. Offensichtlich sind es aber spezifische Merkmale des Selbstaufmerksamkeitsprozesses, die klinisch und gesundheitspsychologisch relevant sind. Auf der Basis früherer Ansätze von Ingram (1990a) und Pyszczynski & Greenberg (1992) werden diese Merkmale unter dem Begriff "dysfunktionale Selbstaufmerksamkeit" expliziert, und im sechsten Kapitel wird die Entwicklung eines eigenen Fragebogenverfahrens zu ihrer Erfassung dargestellt (vgl. Hoyer, 1996a).
Der (im engeren Sinn) empirische Teil der vorliegenden Arbeit gliedert sich in experimentelle Analog- (Kap. 7 und 8) und klinische, korrelative Studien (Kap. 9 - 12).
Da Wirkungen des Selbstaufmerksamkeitszustands nur in Laborstudien gut beschrieben sind, wird in Kapitel 7 gefragt, wie sich Selbstaufmerksamkeit im Alltag auswirkt. Außerdem interessiert hier, ob Wirkungen einer Erhöhung der Selbstaufmerksamkeit durch personale Ressourcen wie die optimistische Kompetenzerwartung (Schwarzer,1994) moderiert werden. Aufgrund ihres feld- experimentellen Designs wird diese Studie auch Aussagen [> S. 14] darüber erlauben, ob Selbstaufmerksamkeit prospektiv- kausal Bedeutung für Veränderungen des Wohlbefindens hat. In Kapitel 8 kehren wir die gedachte Verursachungsrichtung um: Welches sind mögliche Antezedenzbedingungen chronifizierter Selbstaufmerksamkeit? Steigert speziell die Aktivierung von Selbst-Diskrepanzen (Higgins, 1987) oder kogrutiven Konflikten (Lauterbach, 1996a) das Nachdenken über sich selbst?
In den klinisch-korrelativen Studien werden u.a. folgende Fragen untersucht: Wie spezifisch ist (erhöhte) Selbstaufmerksamkeit für klinische Störungen wie Angst und Depression (Kap. 9)? Ist Selbstaufmerksamkeit bei chronischen körperlichen Erkrankungen (hier: Asthma bronchiale) wirklich reduziert, wie dies frühere Ergebnisse von Sachse (1995) erwarten lassen (Kap. 10)? Und schließlich: Wie verändert sich die Tendenz, selbstaufmerksam zu sein, im Verlauf stationärer Psychotherapie (hier: bei Alkoholpatienten, Kap. 11)? Im abschließenden empirischen Kapitel (12) werden Untersuchungen am Datenpool der Untersuchungen durchgeführt: Die anfallenden grossen Stichproben ermöglichen u.a. die Untersuchung der Frage, ob die Beziehung zwischen Selbstaufmerlcsamkeit und Wohlbefinden nicht am besten als kurvilineare Funktion zu beschreiben ist; ob es, mit anderen Worten, einen healthy degree of introspection (Olbrisch & Ziegler, 1982) gibt.
Die referierten Studien sind sowohl methodisch als auch im Hinblick auf die untersuchten Populationen recht unterschiedlich. Gemeinsam ist ihnen aber die Leit-These, die von uns postulierte Unterscheidung zwischen privater (im Hinblick auf das Wohlbefinden neutraler) und dysfunktionaler (klinisch relevanter) Selbstaufmerksamkeit ließe sich validieren und könne zur Interpretation mancher bisher unklarer Befundlage beitragen. Das Spektrum der Fragestellungen haben wir bewußt weit gewählt, weil bisher wenig Verbindung zwischen verschiedenen klinisch relevanten Einzelthemen zur Aufmerksamkeitsthematik besteht. Themen wie übersteigerte selbstzentrierte Aufmerksamkeit (Ingram, 1990a) oder Erfahrungsvermeidung (experiential avoidance; Hayes, Wilson, Gifford, Follette & Strosahl, 1996), also verminderte Aufmerksarnkeit auf das Selbst, gelten gleichermaßen als Schlüsselvariablen zur funktionalen Erklärung von psychischen Störungen wie auch von Alltagsproblemen. Es liegt nahe, keine dieser Extremausprägungen der Tendenz zur Selbstfokussierung außer acht zu lassen."
"Anwendungsperspektiven in der Psychotherapie: Aufmerksamkeitstraining
Wenn dysfunktionale SAM ein zentrales Merkmal klinischer Störungen darstellt, funktionale SAM hingegen einen wesentlichen Schutzfaktor für die seelische Gesundheit, so stellt sich die Frage nach der Modifikation: Wie kann aus perseverierender selbstbezogener Aufmerksamkeit flexible Aufmerksamkeit werden? Wie kann man die kegnitiven Regeln modifizieren, die zumindest mit-determinieren, ob exzessives Grübeln oder Sich- Sorgen als Problemlösestrategie gewählt wird? Hier liegt die Anwendungsperspektive einer klinischen Betrachtung habitueller Aufmerksamkeitsprozesse, und sie gewinnt umso mehr Bedeutung, als bisherige therapeutische Strategien vor allem die Modifikation dysfunktionaler inhaltlicher Überzeugungen anstreben und weniger auf die Umstrukturierung von prozeduralen Annahmen über & Selbstregulation abzielen.
Bei der Entwicklung von therapeutischen Strategien zur Modifikation meta-kognitiver Überzeugungen, die Aufmerksamkeitsprozesse kontrollieren sind aktuelle Vorschläge der Oxforder Arbeitsgruppe zu beachten (Clark &: Wells, 1995; Fennell & Teasdale, 1984; Wells, 1990, Wells 1997, Wells & Matthews, 1994a; 1996; Wells, White & Carter, 1997). Weils (1990, 1997) hat ein Aufmerksamkeitstraining entwickelt, zu dem erste Ergebnisse auf der Basis von Einzelfallstudien bei Angstpatienten vorliegen (Wells, White & Carter, 1997). In der ersten Treatment-Phase wird das Treatment-Rationale vermittelt: Erhöhte SAM intensiviere Emotionen und körperliche Reaktionen und lasse körperliche Empfindungen alarmierend erscheinen, sie sei mit der Auslösung von Angst verbunden und somit wesentlicher Teil des Problems wenn sie habituell werde. Das Aufmerksamkeitstraining sei geeignet, dies und damit die Angst zu reduzieren. Interessant ist, daß das eigendiche Training keine reizkonfrontativen Elemente enthält und sich auch nicht auf die Flexibilität von Selbst-Aufmerksamkeit bezieht, sondern die Patienten lediglich dahingehend trainiert, ihre Aufmerksamkeit auf auditive Stimuli besser zu verteilen. Während eines Zeitraums von ca. 10 Minuten werden die Patienten instruiert, sich zunächst auf ein Geräusch im Behandlungsraum und später auf ein zweites, nicht zu weit entferntes Geräusch so stark wie möglich zu konzentrieren (selektive Aufmerksamkeit). Im zweiten Schritt (Aufmerksam [> S. 269] keitswechsel) sollen sie ihre Aufmerksamkeit zwischen beiden Stimuli hin und her bewegen. Schließlich werden sie im dritten Schritt (verteilte Aufmerksamkeit) aufgefordert, so viele Geräusche wie möglich gleichzeitig wahrzunehmen und diese zu zählen. Die Patienten erhielten die Therapieaufgabe, diese Übung zweimal täglich durchzuführen; jedoch nicht als Coping, sondern nur außerhalb von Angstepisoden. Alle drei mittels dieses Trainings behandelten Patienten (zwei mit Panikstörung, einer mit sozialer Phobie) zeigten sich klinisch signifikant weniger überzeugt vom Wahrheitsgehalt ihres gefürchtetsten Angstgedankens (während Angstepisoden) und wiesen klinisch signifikante, katamnestisch stabile Veringerungen ihrer Symptomatik (Zahl der Angstanfälle, BAI-Wert) auf. Bei einem der Patienten wurde zwischenzeitlich ein selbstfokusinduzierendes Treatment gegeben, woraufhin die Symptome rezidivierten. Da die Strategie unkonfundiert mit anderern gängigen kognitiv- behavioralen Techniken angewendet wurde, können die Behandlungserfolge eindeutig auf den durchgeführten Versuch, kognitiv-attentive Kontrolle zu trainieren, zurückgeführt werden. Da Wells, Carter und White (1997) jedoch weder ein Maß (dysfunktionaler) SAM, noch Maße meta-kognitiver Überzeugungen eingesetzt haben, muß zunächst offen bleiben, ob die erzielten Veränderungen tatsächlich auf die im Modell von Wells und Matthews (1994a, 1996) hypostasierten Wirkvariablen, nämlich veränderte meta-kognitive Überzeugungen über die Kontrollierbarkeit des kognitiv-attentiven Systems, zurückgehen.
Ein anderes Beispiel für eine gezielte Intervention zur Veränderung von habituellen Aufmerksamkeitstendenzen ergibt sich aus dem von Clark und Wells (1995) vorgelegten kognitiven Modell der sozialen Phobie. Danach fokussieren Soziophobiker häufig ihre Aufmerksamkeit auf die körperlichen, emotionalen und kognitiven Symptome der sozialen Angst, weil dies ihnen subjektiv das Gefühl einer gewissen Kontrolle oder Sicherheit vermittelt; man spricht in diesem Zusammenhang von Sicherheitsheitsverhaltensweisen (safety behariors). Nach den aus diesem Modell abgeleiteten Vorschlägen von Clark und Wells (1995) bzw. Wells, Clark, Salkovskis, Ludgate, Hackman und Gelder (1995) können Patienten in Verhaltensexperimenten erproben, ob ihre das Sicherheitsverhalten begründenden dysfunktionalen meta-kognitiven Überzeugungen zutreffen. Erste Erfahrungen in einem laufenden DFG-Projekt zur Soziophobie (vgl. Peitz, Heidenreich & Stangier, 1998) sprechen für die Effektivität dieses Ansatzes. Zur Evaluation der therapeutischen Effekte wird in dieser Studie umter anderem auch der DFS eingesetzt.
Insgesamt geben die zitierten Arbeiten einen deutlichen innovativen Impuls für die Weiterentwicklung kegnitiv- behavioraler Therapie. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht in der Veränderung therapeutischer Strategien, sondern in der Erweiterung der Verhaltensaspekte, die therapeutisch modifiziert werden sollen: Der Blick richtet sich dabei insbesondere auf eine vermehrte Modifikation meta-kognitiver, die Selbstregulation (und spezifisch die Aufmerksamkeitsrichtlmg) steuernder Regeln.
Daß der Steuerung derAufmerksamkeitsrichtung bzw. der Modifikation inflexibler Aufmerksamkeitsprozesse unter der hier vorgetragenen Perspektive erheblich größere Bedeutung für die Psychotherapie zuzumessen ist, als bisher erkannt wurde, dürfte längst klar geworden sein. Andererseits kann man davon ausgehen, daß therapeutische Interventionen auch bisher schon Aufmerksamkeitsprozesse modifiziert haben, und es wäre reizvoll zu untersuchen, inwieweit der Erfolg bewäbrter therapeutischer Verfahren auf eine implizit erfolgte Manipulation von Aufmerksamkeitstendenzen re-attribniert werden kann. So kann man das wirksame therapeutische Agens bei der Aktivitäten- und Freizeitplanung zwar in der Wiedererlangung von verstärkenden Erlebnissen und sozialen Kontakten sehen; es ist aber auch zu beachten, daß durch solche Maßnahmen gleichzeitig ein Wechsel vom Selbst- zum Außenfokus begünstigt wird. Diese Überlegung ließe sich für eine Reihe von verhaltenstherapeutischen Strategien fortsetzen: Problemlösetraining (Kaiser & Hahlweg 1996; Liebeck, 1993) oder Ziel- und Wertklärung im Rahmen des Selbstmanagementansatzes (Kanfer, Reinecker & Schmelzer, 1996) stellen geeignete Strategien dar, um unerreichbare Ziele zu identifizieren und schaffen damit die Voraussetzung dafür, daß eine unfruchtbare Weiterbeschäftigung unterbunden werden kann. Die Ergebnisse aus der stationären Alkoholikertherapie (Kap. 11) belegen eindrucksvoll, daß Psychotherapie funktionale SAM fördert und dysfunktionale SAM abbaut, und dies nur mit dem Verweis darauf zu erklären, daß die relevanten Probleme "gelöst" wurden, scheint uns zu einfach. Es ist aus unserer Sicht ein Forschungsfeld für die Zukunft, hier elaboriertere Erklärungen zu liefern. DerAnsatz, neuere motivations- und volitionspsychologische Konzepte (z.B. Kuhl, 1994a, Kuhl &: Goschke, 1994b) auf die Therapie von Depressiven zu beziehen, könnte - wie de Jong-Meyer und Engberding (1996) aufgezeigt haben - hier eine Perspektive bieten. Auch diese Autorinnen gehen davon aus, daß in der "Entwicklung und Klärung von Zielvorstellungen sowie im Aufdecken und Modifizieren unrealistischer Ziele" mitunter das "Hauptergebnis der Therapie" liegt (S. 297).
Betrachtet man die Vorgehensweise einsichtsorientierter Therapieforrnen (Psychoanalyse, Gesprächspsychotherapie), so fällt auf, daß dort Selbstfokussierung sogar aktiv angestrebt wird. Dies läßt sich zumindest für die Gesprächspsychotherapie behaupten, welche "Selbstexploration" als entscheidende Voraussetzung für "Selbstaktnalisierung" bzw. Persöulichkeitsentwicklung ansieht (vgl. Leibing dt Rüger, 1997). Besonders im Ansatz von Sachse (1996) wird allerdings deutlich betont, daß es sich um eine spezifische Fonn von Selbstfokussierung handelt, die "zielorientiert" von seiten des Therapeuten angestrebt wird und die der "Klärung" (vgl. Grawe,1996) von Problemdeterminanten dient. Selbstfokussierung ist hier also kein Selbstzweck.
Eine Aussage zur Behandlung der Selbstfokussierung
im Rahrnen psychoanalytischer Therapie soll hier angesichts der kaum überschaubaren
und innerhalb dieser Grundorientierung heterogenen Literatur nicht versucht
werden. Die Vermutung liegt aber nahe, daß das klassische psychoanalytische
Setting [>S. 271]
der Selbstfokussierung großen Raum einräumt. Es wäre
zum einen reizvoll zu untersuchen, ob und im Hinblick auf welche spezifischen
Aspekte der Selbstfokussierung diese Vermutung zutrifft (vgl. Mergenthaler,
1996). Zum anderen wäre zu fragen, wie sich ein solches Setting auf
die Selbst-Fokussierung im Alltag auswirkt. (Wir fanden eine empirische
Studie von Natale, Dahlberg und Jaffe [1978], die Merkmale des Sprachverhaltens
von außer- therapeutischen "Monologen" von sieben Psychnanalyse-
Patienten über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren aufzeichneten
und fanden, daß bei vier der Patienten die Häufigkeit non-personaler
Äußerungen mit der Therapiedauer stieg und die Häufigkeit
emotionsbezogener Äußerungen mit der Therapiedauer abfiel -
was man so interpretieren könnte, daß auch Psychoanalyse die
Selbstfokussierung in außertherapeutischen Monologen senkt.)
Diese knappen, kursorischen Hinweise mögen ausreichen, um den psychotherapeutisch interessierten Leser zu eigener Auseinandersetzung mit dem Thema anzuregen und zu verdeutlichen, wie wenig reflektiert das Thema Selbstfokussierung versus Außenfokussierung im Bereich der Psychotherapietheorie und der Psychotherapieforschung noch ist.
Schlußbemerkung
Das oben diskutierte kognitiv-attentive Syndrom und die ihm gegenüberstehende gesundheitspsychologische Modellvorstellung flexibel fluktuierender Aufmerksamkeit, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit standen, wurden von uns mit dem Terminus "dysfunktionale versus funktionale Selbstaufmerksamkeit" benannt. Der Begriff mag problematisch erscheinen. Zum einen ist Verhalten - das ist besonders dem klinischen Psychologen vertraut objektiv immer in irgendeiner Weise funktional, und, wie wir im letzten Abschnitt gesehen haben, muß gerade von Patienten "dysfunktionale SAM" nicht als dysfunktional erlebt werden. Zum anderen ist ihm vermeintlich ein eher mechanistisches Menschenbild implizit, was ähnlich wie die häufige Verwendung der Computermetapher in der Psychologie nicht zu Unrecht kritikwürdig erscheint (vgl. Jüttemann, 1991). Wir haben uns dennoch für diesen Begriff entschieden, weil er für eine deutliche, theoretisch begründbare Abgrenzung zwischen kognitivem Syndrom und "normaler" Selbstaufmerksamkeit steht. Daß diese begriffliche Differenzierung bisher nicht zur Verfügung stand, erklärt unseres Erachtens auch, warum bisherige Debatten um dm Nutzen der Selbstaufmerksamkeit so fruchtlos bleiben mußten."
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Dysfunktionale Selbstaufmerksamkeit site:www.sgipt.org. * |