Begriffsanalyse plausibel, Plausibilität, Plausibilitätskriterien in der Psychiatrie
Originalarbeit von Rudolf Sponsel, Erlangen
Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalysen Plausibilität.
Empirische Studie zu Begriff und Verständnis
von Plausibilität.
Haupt- und Verteilerseite
Begriffsanalysen * Methodik
der Begriffsanalysen nach Wittgenstein *
In den hier belegten Erwähnungen psychiatrischer Werke wird plausibel weder erklärt noch begründet, sondern vermutlich als allgemeinverständlicher und nicht näher erklärungs- oder begründungsbedürftiger Grundbegriff etwa im Sinne von verständlich, nachvollziehbar, glaubhaft, erklärlich betrachtet. Aber diese Worte erklären sich so wenig wie plausibel von selbst durch bloße Angabe oder Aufzählung, sondern verschieben das Erklärungs- und Begründungsproblem nur auf andere Worte (>Begriffsverschiebebahnhöfe). Denn wie bei plausibel stellte sich natürlich dann auch bei diesen Begriffen die Frage, was genau bedeuten sie und vor allem, wodurch wird ein Sachverhalt verständlich, nachvollziehbar, glaubhaft, erklärlich?
Gebrauchsbeispiele aus der Psychiatrie / Psychopathologie
Kodierleitfaden für die Psychiatrie
und Psychosomatik
"Die aktuelle Auflage dieses Kodierleitfadens für die Psychiatrie
und Psychosomatik mit einem Update 2021 fasst die wichtigsten Informationen
der im Rahmen des PEPP-Systems notwendigen Kodierung für alle psychiatrischen
und psychosomatischen Fachkrankenhäuser und Abteilungen zusammen.
In kurzen Einführungen und ausführlichen Zusammenstellungen werden
die für die stationäre Abrechnung relevanten Diagnose- und Prozedurenschlüssel
erläutert und durch einzelne Fallbeispiele plausibel
gemacht. Die dabei zu berücksichtigenden Regeln werden, genauso wie
die Grundlagen des Vergütungssystems, ebenfalls aufgeführt. Damit
stellt der Kodierleitfaden eine optimale Hilfestellung bei der Beantwortung
von Fragen im Hinblick auf die Kodierung und Abrechnung voll- und teilstationärer
Behandlungsfälle in Psychiatrie und Psychosomatik dar."
Quelle (Abruf 25.09.2021): Siam, Kristina (2021)
Kodierleitfadens für die Psychiatrie und Psychosomatik 2021
https://www.lehmanns.de/shop/medizin-pharmazie/56193378-9783862167708-kodierleitfaden-fuer-die-psychiatrie-und-psychosomatik-2021
Kommentar: Plausibel wird hier als allgemeinverständlicher
und nicht erklärungsbedürftiger Grundbegriff im Sinne von verständlich,
nachvollziehbar angesehen.
Nach dieser Definition ist 1. zu prüfen, um welches Modell
der Wirklichkeit es geht. Sodann ist 2. zu prüfen, welche Wege zur
Feststellung eines solchen Modells der Wirklichkeit a) möglich, b)
üblich oder unüblich und c) plausibel
sind. Schließlich ist 3. zu prüfen, ob das Modell der Wirklichkeit
mit rational unkorrigierbarer Gewissheit, also weder durch Logik noch durch
Erfahrung korrigierbar, vertreten wird. Nachdem 4. rational unkorrigierbare
Gewissheit auch für die meisten gewöhnlichen Erlebnisse oder
Wahrnehmungen der meisten Menschen gilt, ist zu begründen, warum die
hier festgestellte rational unkorrigierbare Gewissheit ein Wahnzeichen
sein soll. Denn es ist ja normal, dass ein richtiges Modell der Wirklichkeit,
das mit üblichen soziokulturellen Erkenntnismethoden gewonnen wurde,
rational unkorrigierbar vertreten werden kann, z.B. dass ich jetzt gerade
diese Zeilen in den Computer getippt habe.
Plausibel ist ein metapsprachlicher
Beurteilungsbegriff und bewegt sich zwischen möglich (denkbar
ist zu wenig) und fast wahr oder richtig. Man kann zwar auch richtige oder
wahre Sachverhalte plausibel nennen, aber es
entspricht nicht dem Sprachgebrauch. Kriterien sind:
"Patienten mit Verfolgungswahn zu behandeln, ist oft nicht einfach.
Ein neues Programm setzt bei Selbstvertrauen, Schlaf- und Sicherheitsverhalten
der Patienten an – und liefert in einer ersten Untersuchung gute Ergebnisse.
...
Ein häufiges Merkmal von Psychosen ist Verfolgungswahn, also der
Glaube, dass andere einem schaden wollen. Britische Wissenschaftler haben
ein neues Programm speziell gegen diese Wahnvorstellung entwickelt und
erprobt. Die Autorinnen und Autoren um Daniel Freeman gehören einer
Forschungsgruppe der University of Oxford an, die Therapieansätze
bei Psychosen untersucht. Die Behandlung orientiert sich an den Faktoren,
die eine Paranoia am häufigsten aufrechterhalten. Dazu gehören
geringes Selbstvertrauen, schlechter Schlaf sowie übertriebene »Sicherheitsmaßnahmen«.
Gemeinsam mit dem Therapeuten wählen die Patienten, welche dieser
Probleme sie vorrangig bearbeiten möchten.
Das »Feeling Safe«-Programm absolvierten im Rahmen der Studie 64 Menschen mit Verfolgungswahn. Ebenso vielen wurde eine Kontrollbehandlung zuteil. Dabei sprachen die Therapeuten mit ihnen zwanglos über alles Mögliche, setzten jedoch keine speziellen Therapietechniken ein.
Nach rund 20 Sitzungen hatten sich 50 Prozent der Patienten durch »Feeling Safe« erholt – manche von ihnen hegten zwar noch Wahngedanken, hielten diese aber selbst nicht mehr für besonders plausibel. In der Kontrollgruppe waren es 35 Prozent. Auch das Wohlbefinden und weitere Parameter verbesserten sich im Zuge der Therapie deutlich."
Kommentar: Plausibel bzw. nicht besonders plausibel
wird hier als allgemeinverständlicher und nicht erklärungsbedürftiger
Grundbegriff im Sinne von verständlich, nachvollziehbar angesehen.
Hier wird ein bemerkenswerter Befund vorgelegt, der auch die Bedeutung
des Plausibilitätsbegriff für Wahnentwicklungen belegt.
Plausibilität in der Forensischen Psychiatrie
HBFP 2.1. Psychopathologische Grundlagen der forensischen Psychiatrie von P. Hoff, H. Saß
Zusammenfassung-HBFP 2.1: In den 7 Erwähnungen wird plausibel nicht erklärt oder begründet. Man darf vermuten, dass plausibel als allgemeinverständlicher Grundbegriff im Sinne von verständlich, nachvollziehbar, erklärlich, stimmig, glaubhaft betrachtet wird. Das kann man für den Begriff der Plausbilitätsprüfung aber nicht gelten lassen, denn Plausibilitätsprüfung ist ein sehr wichtiger Begriff, der über Unterbringung oder Freilassung, über eine Rechtsgewährung oder einen Rechtentzug entscheiden kann.
HBFP 2.1-S.6
"Überdies betonen die Verfechter von subjektiven
Zugangsweisen die Individualität und personale Verantwortung, sie
beziehen ausdrücklich die komplexe, in straffen Algorithmen kaum erfassbare
Handlungsebene mit ein und betrachten einen subjektiven Zugang als eigentliche
Grundlage auch der Erkenntnis des „Objektiven“. Dies ist der idiographische
Zugang, steht bei ihm doch das verstehende Nachvollziehen der einzelnen
Biographie und die Behandlung des einzelnen Patienten im Vordergrund und
eben nicht die distanzierende Frage nach einer – als von der Person völlig
unabhängig gedachten – „Krankheit“. Hier wiederum haken die Gegner
ein und warnen vor dem Risiko der Beliebigkeit der idiographischen Hypothesenbildung.
Deren Inhalte seien nämlich weder hinreichend quantifizierbar noch
experimentell überprüfbar. Insoweit handele es sich dabei – so
die exponierteste Kritik – gar nicht um wissenschaftliche Aussagen, sondern
bestenfalls um 1plausible Narrative.
Diese könnten sogar verschleiernd oder verfälschend auf die Erfassbarkeit
der „eigentlichen“, der objektiven Daten wirken."
HBFP 2.1-S.8
"Wenn aber neurobiologische Befunde als solche
weder eine materialistische noch eine deterministische Position in der
Leib-Seele-Frage implizieren, dann folgt daraus auch, dass allein aufgrund
empirischer Ergebnisse der Hirnforschung die Annahme personaler Autonomie
oder der Eigenständigkeit anderer komplexer mentaler Phänomene
nicht widerlegt ist. Selbst Bernhard Libet (2005), dessen mittlerweile
berühmtes Experiment schon fast als populärwissenschaftlicher
„Beweis“ gegen die Existenz des „freien Willens“ gehandelt wird, warnt
in der Rückschau vor übereifrigen Schlüssen aus seinen Befunden.
In diese Richtung argumentiert auch Peter Bieri (2001), wenn er zwei Einwände
gegen die „starke“ neurobiologische These vom Illusionscharakter der personalen
Autonomie nennt: Zum einen werde nämlich die „höhere Tatsächlichkeit“
des neurobiologischen zuungunsten des subjektiven Phänomens bloß
behauptet, aber weder inhaltlich 2plausibel
gemacht
noch gar bewiesen. Zum anderen führe die kategorische Verneinung der
Existenz irgendeines nicht quantitativ neurowissenschaftlich erfassbaren
psychischen Phänomens zu einem prinzipiellen Verlust
des Gegenstandes bzw. Begriffes von „Freiheit“. Man könne in diesem
Fall nicht nur in neurobiologischen Termini nicht sinnvoll von Freiheit
sprechen, sondern überhaupt nicht mehr."
HBFP 2.1-S.12a
"Auch hier gilt es, die Grenzen des Ansatzes im
forensischen Kontext zu erkennen und nicht etwa aus dem Vorliegen bzw.
dem Fehlen von 3Plausibilität und Verständlichkeit
voreilige Schlüsse etwa auf die Schuldfähigkeit zu ziehen."
HBFP 2.1-S.12b
"Analoges aber gilt sehr wohl auch für die
anderen Ansatzweisen: Eine allzu straffe Operationalisierung psychiatrischen
Arbeitens durch Kriterienlisten und Entscheidungsbäume kann zu einer
unproduktiven Formalisierung führen, die die reliable Erfassung von
beobachtbaren Einzelsymptomen („Kriterien“) mit Psychopathologie schlechthin
verwechselt. Und eine unkritisch operierende biographisch-psychogenetische
Arbeitsweise schließlich läuft Gefahr, „psychologistisch“ zu
werden, also ein 4plausibel wirkendes
psychologisches Verstehensmuster für menschliches Verhalten als eindeutige
wissenschaftliche Erklärung misszuverstehen (Hoff 2010). In diesem
Sinne muss sich auch die sozialpsychiatrische Perspektive der Grenzen ihrer
Aussagekraft bewusst sein, um nicht einer „Sozialmythologie“ das Wort zu
reden. Als markante Beispiele für die letztgenannten Varianten psychiatrischer
Dogmenanfälligkeit sollen hier die beiden Hypothesen von der aufgrund
ihres „Double-bind-Kommunikationsstiles“ (Bateson et al. 1956) „schizophrenogenen
Mutter“ (Fromm-Reichmann 1950) erwähnt werden. Diese orteten die wesentliche
Ursache
für schizophrene Psychosen in der Mutter des Patienten bzw. der Patientin,
genauer gesagt, in deren unnahbarer Rigidität, verbunden mit pathogenen,
da systematisch mehrdeutigen Kommunikations- und Beziehungsmustern. Immerhin
konnte
diese Annahme zwischenzeitlich empirisch weitgehend entkräftet
werden, was man beileibe nicht für alle psychiatrischen Fehleinschätzungen
oder gar Dogmen behaupten kann."
HBFP 2.1-S.22f
"Das Vorgehen nach dem Prinzip der Komorbidität verringert das
Risiko, relevante Begleiterkrankungen und deren therapeutische Implikationen
zu unterschätzen oder gar zu übersehen. Operationale Systeme
sind in der studentischen Ausbildung und der ärztlichen Weiterbildung
wegen ihres hohen Strukturierungsgrades gut als inhaltliches „Gerüst“
zu verwenden. Der diagnostische Prozess und sein Ergebnis sind im Falle
der operationalen Systeme besonders dokumentations- und datenverarbeitungsfreundlich.
Freilich bedeutet allein dies keine qualitative Aufwertung des Prozesses
der psychiatri-[>23] schen Diagnostik schlechthin, es ermöglicht aber
doch eine einfachere Speicherbarkeit und spätere 5Plausibilitätsprüfung.
Die Nachvollziehbarkeit durch einen anderen Untersucher kann dadurch erhöht
werden. Das System zwingt den Untersucher schließlich, sofern er
es im Sinne der Autoren anwendet, sich mit jedem einzelnen Kriterium auseinanderzusetzen.
Dies kann zu einer Vervollständigung der Befunderhebung führen
und so verhindern, dass eine vorgefasste diagnostische Meinung die gründliche
Exploration all derjenigen psychopathologischen Phänomenbereiche verhindert,
die im Rahmen der Vorannahme für wenig relevant gehalten werden."
HBFP 2.1-S.30
"Ein Beispiel: Betrachten wir die Frage, ob für ein Betrugsdelikt
im Rahmen einer beginnenden Manie die Schuldfähigkeit in forensisch
relevanter Weise beeinträchtigt war oder nicht. Hier muss der psychiatrische
Sachverständige eine Aussage über die Befindlichkeit und die
Qualität der psychischen Funktionen des Probanden zum vorgeworfenen
Tatzeitpunkt machen, eine Aussage, die sich notwendigerweise auf eine ganze
Reihe von einzelnen Beobachtungen und Schilderungen stützen wird.
Seine Einschätzung wird weitgehend unabhängig von einer ätiologischen
Diagnose sein, es wird also keine entscheidende Rolle spielen, ob das manische
Syndrom endogener, drogeninduzierter oder anderweitig exogener Natur ist,
etwa als Folge eines hormonell aktiven Tumors. Schließlich wird er
seine Einschätzung nur durch die Einbettung aller vorliegenden Informationen
in die Lebensgeschichte und insbesondere die Persönlichkeitsentwicklung
und das Wertgefüge des Betreffenden 6plausibel
begründen können. Er wird etwa dazu Stellung nehmen, ob es sich
um eine Erst- oder Wiedererkrankung handelt, ob die prämorbide Persönlichkeit
auffällige, insbesondere hyperthyme oder depressive Züge trägt
und ob eine längere Erfahrung mit Drogenkonsum vorliegt."
HBFP 2.1-S.83f
"Wahnhafte Störung
Im Umkreis der schizophrenen Störungen, jedoch davon üblicherweise
diagnostisch abgegrenzt, liegen die wahnhaften Störungen. Sie sind
charakterisiert durch das Auftreten von einem oder mehreren Wahnphänomenen
nichtbizarrer Art, die mindestens einen Monat anhalten. Die Diagnose einer
wahnhaften Störung wird nicht gestellt, wenn die Kriterien einer Schizophrenie
vorliegen. Charakteristisch ist das relativ isolierte Auftreten eines Wahnes,
ohne dass wesentliche andere Denkstörungen formaler oder inhaltlicher
Art, Halluzinationen, charakteristische Gefühlsveränderungen
und andere psychotische Symptome des schizophrenen Formenkreises hinzutreten.
Die Bestimmung, ob Wahnphänomene als bizarr gelten, besitzt für
die Unterscheidung von wahnhafter Störung und Schizophrenie besondere
Bedeutung, kann jedoch im Einzelfall schwierig sein. Die Wahnphänomene
gelten als bizarr, wenn sie eindeutig 7unplausibel,
nicht verständlich und nicht aus alltäglichen Erfahrungen heraus
herleitbar sind. Nichtbizarre Wahnphänomene betreffen zum Beispiel
Situationen und Geschehnisse, die sich nachvollziehbar im realen Leben
ereignen können, zum Beispiel die Vorstellung, verfolgt oder benachteiligt
zu werden, infiziert zu sein, über größere Entfernungen
geliebt zu werden oder von einem Ehegatten betrogen zu sein. Forensisch
relevant sind vor allem die chronischen wahnhaften Störungen in Zusammenhang
mit krisenhaften Zuspitzungen in Partnerbeziehungen, etwa in der Form des
Eifersuchtswahnes oder des sensitiven Beziehungswahnes. Eine andere forensisch
bedeutsame Form wahnhafter Störungen ist der Querulantenwahn, der
sich im Laufe einer fanatisch-querulatorischen Entwicklung bei entsprechender
Persönlichkeitsdisposition einstellen kann.
Die psychosoziale Leistungsfähigkeit bei wahnhaften Störungen
ist unterschiedlich und führt meist zu geringerer Beeinträchtigung
als bei den schizophrenen Erkrankungen. Einige Personen erscheinen relativ
wenig in ihren beruflichen und zwischenmenschlichen Rollen tangiert, so
dass die Wahnphänomene lediglich im Bereich des speziellen Themas
störend in Erscheinung treten. Bei anderen kann es zu einer Beeinträchtigung
in vielen [>84] oder nahezu allen Lebensbereichen kommen, wenn die Wahnthematik
in der Vorstellungswelt und im Verhalten des Betroffenen eine bestimmende
Rolle erhält.
Das Ersterkrankungsalter bei der wahnhaften Störung ist uneinheitlich
und reicht von der Adoleszenz bis zum höheren Lebensalter. Insbesondere
beim Typus mit Verfolgungswahn kann die Störung chronisch sein, doch
auch die querulatorischen Formen wahnhafter Störungen neigen zu Chronizität
und hoher Penetranz. Die klassische Darstellung des sensitiven Beziehungswahnes
findet sich bei Kretschmer (1966), während die fanatischquerulatorische
Entwicklung in ebenfalls klassischer Form in der Novelle „Michael Kohlhaas“
von Heinrich von Kleist (1810) geschildert wurde. Tiefgründige forensisch-psychiatrische
Überlegungen hierzu gibt es bei W. v. Baeyer (1967)."
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z.B. Wissenschaft site: www.sgipt.org. |
korrigiert: 28.09.21 irs Rechtschreibprüfung / 03.12.2021 gelesen