Keine Auferstehung? Nur endloser Tiefschlaf?
Prolegomena von "Zweifel, Hoffnung und Liebe"
von Walter
Toman, Wien und Erlangen
Einladung
zu seinem Vortrag zu seinem 80. Geburtstag
PDF zum gesamten Vermächtniswerk "Zweifel, Hoffnung und Liebe"
Fach-Biographie_ Bildnis_ Literaturliste_ Englisch_ Inhaltsübersicht: "Zweifel, Hoffnung und Liebe"
Von allen Dogmen der christlichen und anderer Religionen war das unerhörteste die Behauptung, daß die Menschen nach dem Tode ewige Seligkeit erwarte, wenn sie im Leben gut gewesen sind und ewige Verdammnis, wenn sie böse waren oder, genauer gesagt, wenn sie im Zustand unvergebener Todsünden gestorben sind. Wie die ewige Seligkeit aussehen wird, können ihre Theologen allerdings nicht sagen, aber daß man dabei ganz in der Nähe Gottes sein und daß es ununterbrochen herrlich und begeisternd sein wird, glauben sie zu wissen. Fragt man sie, woher sie das wissen, dann berufen sie sich auf angeblich historische Persönlichkeiten, denen das unmißverständlich geweissagt wurde. Über den Wortlaut der jeweiligen Weissagung kann man in der Regel nicht mehr diskutieren. Von ihr ist nur ein schriftlicher Text übrig geblieben, der im konkreten Fall oft mehr als eine Version in der ursprünglichen Sprache und eine oder mehr Übersetzungen aus einer anderen Sprache hinter sich hat. Solche Umstände gefährden die Unmißverständlichkeit des Wortlautes und stellen ihn in Frage. Zieht man außerdem bei aller Anerkennung ihrer sprachlichen und kulturellen Leistungen die naiven, henidenhaften und magisch-wundergläubigen Vorstellungswelten unserer Vorfahren der letzten Jahrtausende und ihre geringe Empfindlichkeit für die Logik und Widerspruchsfreiheit ihrer Aussagen in Betracht, dann scheint auch das wenige, was über den Zustand der ewigen Seligkeit oder den Himmel übereinstimmend und häufig gesagt wurde, nicht sicher. So empfanden es auch schon einige unserer Vorfahren. Im Grunde wissen wir nichts über den Zustand der ewigen Seligkeit, was auch immer manche Propheten in Trunkenheit oder Ekstase oder Verklärung darüber ausgerufen und gesungen haben.
Für den Zustand ewiger Verdammnis stehen uns als Bilder und Beispiele die Kriegs- und Unfallverletzungen und Krankheiten und ihre vielen Schmerzen sowie die Höllen [Zur Hölle des Hieronymus Bosch]zur Verfügung, welche Menschen einander zu allen Zeiten bereitet und erlitten haben. Das reicht vom Rädern und Pfählen und Hängen und Köpfen, vom Zerschneiden, Zerhacken, Zerreißen und Durchbohren über Schleifung und Kreuzigung und Ertränkung und Verbrennung, über das Verhungern-, Verdursten-, Erfrieren- und Erstickenlassen bis zur Einkerkerung mit und ohne Qualen. Das Opfer stirbt an einer von diesen Qualen oder eines natürlichen Todes. Damit wäre allerdings die Misere zu Ende. Wenn den Quälern das Opfer vorzeitig zu verenden drohte, ließen sie mitunter ab von ihm, päppelten es sogar auf und quälten es weiter. In der ewigen Verdammnis würde der Quäler oder ein eingebauter Mechanismus ein Ende durch den Tod verhindern. Manche Theologen neigen indessen dazu, die ewige Verdammnis als Zustand der Gottferne zu deklarieren, einfach im Gegensatz zur unendlich beglückenden Gottnähe in der ewigen Seligkeit. Auch die ewige Verdammnis muß jedenfalls aushaltbar sein. Dann besteht aber die Möglichkeit, daß man sich daran gewöhnt. Das scheint etwa für die Teufel zu gelten, die wir uns ja als gefallene und verdammte Engel ausgedacht haben. Sie leiden nicht. Es sei denn, auch die ewige Verdammnis ist ein Märchen. Dann erübrigt sich die Frage.
Wenn aber die Prognosen für das Leben nach dem Tode erkenntnistheoretisch so kümmerlich sind, dann ist es das gute Recht der Menschen, die daran Anstoß nehmen, sich das Leben nach dem Tode auf eigene Faust nach allen ihren bisherigen Lebenserfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen vorzustellen, deren sie habhaft geworden sind.
Am Anfang steht da die Erkenntnis, daß alle Verstorbenen nicht mehr in die Geschehen und Handlungen der Weiterlebenden eingreifen können. Ihre Körper verwesen, sofern sie nicht zu Asche verbrannt wurden, und es gibt wissenschaftlich keine Möglichkeit, sie wieder zum Leben zu erwecken. Als Individuen sind sie für immer verloren. Sie gehören dann der Menge aller Menschen an, die einmal gelebt haben. Mehr wird von ihnen und allen derzeit noch überlebenden Menschen eines Tages kaum zu sagen sein, und auch das nur so lange, wie es Menschen gibt. Mit dem Tod des letzten von ihnen ist auch alle Erinnerung und alles Gedenken zu Ende. Vereinzelt werden sich überlebende Tiere unser vielleicht erinnern, aber sie können nichts darüber sagen. Sie sind untauglich als Zeugen. Das wissen im Grunde auch viele Gläubige aller Religionen. Danach richten sie de facto ihre Leben ein. Alles, was sie persönlich erreichen wollen, versuchen sie zu ihren Lebzeiten zu erreichen. Danach geht nichts mehr. Sie singen und träumen zwar vom ewigen Leben - schön wäre es ja - aber sie verlassen sich nicht darauf.
Bald danach kommt die Erkenntnis über den Beginn des eigenen individuellen Lebens. Dieser ist, für andere Menschen beobachtbar, für einen selbst allmählich erlebbar und erkennbar mit der Geburt gegeben, genauer genommen, sogar mit der Konzeption im Mutterleib. Außer der Existenz des Universums, das vom Mikrokosmos der Atombestandteile zum Makrokosmos des Weltalls reicht und in dem unsere Erde makrokosmisch ein Sandkorn und mikrokosmisch ein ungeheuer komplexes Subuniversum ist, außer der Existenz des Universums also ist nur noch das Leben und seine Möglichkeit der Weitergabe ein Wunder. Beide Wunder brauchten Milliarden Jahre für ihre Evolution, das Universum mindestens zwölf, das ganz seltene und ungemein spärlich im Universum verstreute Ereignis des Lebens auf unserer Erde drei Milliarden Jahre bis zu seinem eindeutigen Beginn und eine weitere Milliarde Jahre bis zu seiner gegenwärtigen unermeßlichen Vielfalt. Alle anderen Wunder folgen daraus. Sie sind blasser und von sekundärer und tertiärer Bedeutung. Viele Wunder, auf die sich die Religionen beziehen, sind rein menschliches Machwerk oder Märchen beziehungsweise Lüge. Auch Gott hat nicht die Menschen nach seinem Vorbild geschaffen, sondern die Menschen, dieses ganz rezente Spätprodukt der Evolution, haben sich Gott nach absolut menschlichem Vorbild ausgedacht. Deshalb schwören ja die Religionen auf unaufhörliche, ununterbrochene religiöse Indoktrination und Betätigung - nur so kann die wissenschaftliche Besinnung der Menschen verhindert werden - und bekämpfen einander bis aufs Messer. Auf unserer kleinen Erde wollen die Religionen einander verdrängen oder absorbieren. Mit diesem Hintergedanken sind sie fast alle für die schrankenlose Vermehrung ihrer Anhänger.
Mit der Konzeption im Mutterleib, der Vereinigung einer männlichen Samenzelle mit einer weiblichen Eizelle, beginnt die individuelle Existenz des jeweiligen Lebewesens Mensch. Das sekundäre Wunderwerk der Gene (etwa 100.000 im einfachen Gensatz der Geschlechtszellen) in insgesamt 23 Chromosomen gewährleistet nach millionenfacher Wiederholung in der Evolution unser intrauterines Wachstum, unsere Geburt und unsere individuelle somatische und intellektuelle Entwicklung. Vor der Konzeption haben wir noch nicht existiert, sicht- und hörbar für andere erst ab der Geburt. Der Zustand der Nichtexistenz ist unserem Leben vorausgegangen, aber erst im Laufe unserer persönlichen Entwicklung werden wir dieses Umstandes gewahr. Wir verlieren nämlich im Schlaf immer wieder das Bewußtsein. Wir benötigen den Schlaf zur Regeneration unserer Kräfte, die wir im wachen Leben verbrauchen. Im Tiefschlaf träumen wir nicht einmal. Wir können ohne technische Hilfsmittel oder Zeugen nicht sagen, wie lange wir tief oder überhaupt geschlafen haben. Im Tiefschlaf befinden wir uns subjektiv im Zustand der Nichtexistenz. Wir bleiben sozusagen im stetigen Rapport mit ihr, mit dem Zustand, in dem wir uns vor unserer Konzeption oder Geburt befunden haben, als wir noch gar nicht existierten und es keineswegs feststand, ob wir jemals existieren - und letztendlich existiert haben - würden.
Dann kommt die Erkenntnis, daß unser Bewußtsein ein kompliziertes, heikles und für die menschliche Persönlichkeit ganz wesentliches Phänomen ist, mit dem wir uns im Laufe der Kindheit und Jugend immer besser vertraut gemacht haben. Unser Bewußtsein, das sind wir selbst. Von unserer Existenz erfahren wir und erleben sie durch unser Bewußtsein. Wir vermögen uns über unterschiedliche Wachheitsgrade bis zu stark getrübten Bewußtseinszuständen mit anderen Menschen zu verständigen. Unsere psychische Vigilanz kann bei überlangem Wachsein ohne Entspannungspausen oder Schlaf, bei stickiger Atemluft, zu lange aufgeschobenen Bedürfnisbefriedigungen (Hunger, Durst, physischer Überanstrengung, Hitze, Kälte, sozialer Isolation oder sensorischer Deprivation), in akuten Krankheitszuständen mit Fieber oder nach Einnahme von (festen, flüssigen oder gasförmigen) Drogen leicht bis erheblich vermindert sein. Im Tageslauf erleben wir mehr oder weniger regelmäßig unterschiedliche Wachheitsgrade unseres Bewußtseins, deren hellste Phasen bei manchen Menschen am frühen Morgen, bei anderen am Nachmittag oder Abend zu finden sind, bei manchen vorwiegend, wenn sie unter vielen Menschen, bei anderen, wenn sie allein sind, oder wenn sie lesen, sich handwerklich, künstlerisch oder wissenschaftlich betätigen, von anderen unterhalten oder geschickt belehrt werden. Affektzustände von Angst und Furcht, von Ärger, Zorn und Wut oder von Trauer und Resignation beeinflussen und trüben mitunter unser Bewußtsein. Freude und alle Tätigkeiten, die wir gerne ausüben, die uns befriedigen, erhöhen und schärfen unser Bewußtsein.
Eng damit verbunden ist die Erkenntnis, daß unser Bewußtsein des Gedächtnisses bedarf, um zu funktionieren. Wir machen schon intrauterin, aber reichhaltiger und viel besser beobachtbar von der Geburt an, Erfahrungen mit unserer Umgebung, die wir unwillkürlich speichern und in wiederkehrenden oder ähnlichen Situationen mit Gewinn einsetzen. Wir verbessern dadurch unser Handeln, unsere Umgangsformen mit anderen Menschen und unsere Erinnerungen an wiederkehrende und neue Situationen sowie an betreuende, befreundete, benachbarte und fremde Personen. Unser Wissen über sie wird immer größer. Wir bauen uns zunehmend kompliziertere eigene Vorstellungen von der Umwelt, unseren Mitmenschen und uns selbst auf, die in der frühen Kindheit naiv und später märchenhaft sind, aber allmählich immer realistischer und sachgerechter werden. Es gibt eine Wirklichkeit, folgern wir, und freuen uns, wenn wir sie rascher erfassen und besser verstehen. Und es gibt Phantasiewelten, die aus Teilvorstellungen der Wirklichkeit kombiniert und in ihren Ausmaßen verändert sein können. In ihrer Kohärenz, Komplexität und Bedeutung für unser Überleben reichen sie an die Wirklichkeit nicht heran, auch wenn wir sie als schön und erbaulich und gar nicht langweilig erleben. Nur jene Vorstellungswelten, in denen sich die mit ihnen befaßten Menschen unbeirrbar um ihre Wirklichkeitsnähe bemühen, um ihr möglichst weitreichendes und tiefgehendes Verständnis, kommen in ihrer Kohärenz und Komplexität der Wirklichkeit nahe. Es sind die Vorstellungswelten der Wissenschaften. Sie haben die Erkenntnis der Wirklichkeit bis zu ihren grundsätzlich überprüfbaren, untereinander möglichst widerspruchsfreien und jederzeit durch neue Erkenntnisse revidierbaren innersten Wahrheiten in allen Richtungen und Dimensionen zum Dauerziel. Einzelne Wissenschafter können nur Teile der Wirklichkeit genau kennen, aber eine Mehrzahl verschiedener Wissenschafter zusammen wissen alles, was über die Wirklichkeit bislang erforscht ist, und neue Wissenschafter wachsen laufend nach.
Alle diese Bewußtseinszustände und alle Inhalte dieser Bewußtseinszustände, unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen und Vorstellungswelten, bedürfen zu allen Wach- und Schlafenszeiten eines intakten Gehirns, um weiter zu funktionieren. Der Phylogenese verdanken wir seine Größe, der Ontogenese die individuelle Entwicklung unserer Bewußtseinszustände sowie unserer Erinnerungen und Vorstellungswelten. Eine Erkrankung oder Verletzung unseres Gehirns stört und gefährdet unsere Bewußtseinszustände, unsere Erfahrungen, unsere Gefühle und Affekte und unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit im Alltag und in ihren spezifischeren (sozialen, sportlichen, kulturellen, technischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen) Bereichen. Eine Gehirnerschütterung oder Verletzung des Gehirns ist meistens mit sofortiger Bewusstlosigkeit und einer mehr oder weniger weitreichenden retrograden Amnesie verbunden. Wir können uns, wenn wir wieder aufgewacht sind, nur knapp oder kaum oder gar nicht an das Ereignis der Verletzung erinnern, je nach Schwere der Gehirnverletzung aber auch nicht mehr an das, was in den vorangegangenen Sekunden, Minuten, ja sogar Stunden vor dem Ereignis passiert ist. Bei ganz schweren Gehirnverletzungen kann sich dieses rückwirkende Vergessen auch über Tage und Wochen erstrecken und die Persönlichkeit des Verletzten nachhaltig verändern. In extremen Fällen weiß die betreffende Person gar nicht mehr, wer sie ist. Doch selbst in den Fällen leichter Hirnverletzungen und retrograder Amnesien von ein paar Sekunden oder einer Minute wurden die Gedächtnisprozesse, die normalerweise zu einer Speicherung von Erlebnissen und Erfahrungen führen und dafür Zeit brauchen, gestört. Die Erinnerung ist durch die Verletzung gar nicht zustande gekommen.
Das Gehirn verfügt über mindestens zwanzig Milliarden Ganglienzellen und etwa fünfmal so viele Gliazellen, die der Unterstützung und Ernährung der Ganglienzellen dienen. An verschiedenen Stellen im Gehirn haben die Ganglienzellen unterschiedliche Funktionen, aber sie arbeiten alle nach einheitlichen Prinzipien der Nervenleitung. Sie leiten nervöse Erregungen von den Sinnesorganen über Schaltstellen oder Synapsen zum Gehirn und nach mehrfachen Zwischenschaltungen im Gehirn weiter zu den Erfolgsorganen des tierischen und menschlichen Körpers, den quergestreiften Skelettmuskeln und glatten Eingeweide- und Gefäßmuskeln sowie den Drüsen. Diese Vorgänge liegen allen unseren Wahrnehmungen, Gefühlen, Vorstellungen, Überlegungen, Motiven, Entscheidungen und Handlungen zugrunde, einfachen und reflexartigen ebenso wie komplizierten Handlungen bis zu jenen von weitreichender Bedeutung auch für andere Menschen und die Umwelt. Auch große künstlerische, technische oder wissenschaftliche Werke, sportliche, politische oder wirtschaftliche Karrieren, religiöse, kriegerische und kriminelle Handlungen entstehen aus solchen Gehirnvorgängen. Verantwortlich dafür sind die betreffenden Menschen.
Das Gehirn ist ein ungeheuer kompliziertes Organ, das insgesamt mehr leistet als jeglicher Computer, aber dies ähnlich wie ein Computer oder ein Computer-System tut. Bei Tier und Mensch ist das Gehirn das wichtigste aller seiner Organe, jenes, das unter gar keinen Umständen unversorgt vom Blutkreislauf bleiben darf. Schon ein kurzer Entzug von Sauerstoff, den das Blut aus den Lungen zusammen mit den Nährstoffen aus dem Verdauungstrakt des Körpers ununterbrochen an alle Organe bis zu ihren letzten Zellen liefert, kann im Gehirn zum Absterben von Ganglienzellen, von einzelnen Gehirnregionen und zum Gehirntod führen. Andere Organe halten solche Versorgungsmängel viel länger aus, ohne Schaden zu nehmen.
Mit dem Gehirntod aber ist das Bewußtsein unwiderruflich verloren. Belebungsversuche des Körpers können diesen maschinell noch eine Weile am Leben erhalten, aber es gibt kein Erwachen mehr. Wenn nur einzelne Regionen des Gehirns abgestorben sind, etwa nach Schlaganfällen des Gehirns, erwachen Patienten zu einem mehr oder weniger reduzierten Bewußtsein. Eine Körperhälfte ist gelähmt. Manche können nicht sprechen und/oder verstehen Gesprochenes nicht. Ein Teil des Gesichtsfeldes kann ausgefallen sein. Manche Patienten haben Mühe, sich zu konzentrieren, vergessen unterwegs ihre Absichten, erinnern sich an manches oder vieles nicht mehr und denken egozentrischer oder kindischer als vor dem Schlaganfall. Die jeweils betroffenen Gehirnregionen sind neurologisch bekannt. Manche der verlorenen Funktionen können die Patienten durch besondere Übungen wiedergewinnen. Zum Unterschied von anderen Organen des menschlichen Körpers, die zur Heilung regionaler Ausfälle neue Zellen zu bilden vermögen, geschieht das im Gehirn durch Umleitungen der nervösen Erregungen. Intakt gebliebene Ganglienzellen springen für die abgestorbenen ein. Sie übernehmen zusätzliche Erregungsleitungsfunktionen. Die Gliazellen des Gehirns helfen ihnen dabei. Nur sie bilden im Gehirn nach Ausfällen neue Zellen.
Der Tod beendet das Leben des ganzen Körpers einschließlich seines Gehirns, und wir werden nie wieder erwachen. Wir sind, wie alles Leben, in den Zustand der Nicht-Existenz zurückgekehrt. Wir lebenden Menschen haben uns allerdings so sehr an das Leben gewöhnt, wir haben es so lieb gewonnen und uns so viele phantastische und unterhaltsame Vorstellungen von der Welt und uns selbst gemacht, daß wir ein solches sang- und klangloses Ende nicht wahrhaben wollen. Unser Gehirn ist in der letzten Jahrmillion unserer Phylogenese so groß und differenziert geworden, daß seine Vorstellungs- und Phantasietätigkeit überhand genommen hat. Wir müssen ihr frönen, ob wir wollen oder nicht. Wir können nicht glauben, daß wir eines Tages nicht mehr sein werden, auch nicht, daß unsere materiellen, kulturellen und wissenschaftlichen Werke und Gebilde und alles, was wir uns ausgedacht und schriftlich oder anderweitig festgehalten haben, nicht fortdauert. Alles das hat für viele von uns eine geistige Existenzform angenommen, die nicht mehr an unsere körperliche Existenz gebunden scheint. Wie sonst hätten wir in unser Geistesgut hineinwachsen und es letztlich vielleicht sogar mitgestalten können?
Diesen fast unwiderstehlichen Eindrücken sind unsere Vorfahren in ihren Mythologien und Religionen aufgesessen. Sie haben sich überschwänglichst Naturgöttinnen und -götter, himmlische und Geisterwelten, Gott, Engel, Teufel, Elfen und Gnome, Feen und Hexen, Heilige, Selige und Gespenster ausgedacht und gelehrt, daß auch wir Menschen, wenn unsere Körper gestorben sind, als Seelen und Geister weiterleben. Idealistische Philosophen haben sich ihnen angeschlossen. Sie glauben seit Plato an dessen Ideenlehre und einen Weltgeist als die eigentliche Existenzform, an der auch die denkenden Menschen Anteil haben. Nur ihre Körper sind vergänglich, die materielle Wirklichkeit ein ephemäres Traumbild. Idee und Geist sind ewig.
Was sich unsere Vorfahren in ihren Mythologien und Religionen als Moral und Erziehungsformen ausgedacht haben, war zwar oft löblich und im Sinne der Evolution in seinen Wirkungen wahrscheinlich lebenserhaltend und überlebenswirksam, aber es hält der wissenschaftlichen Analyse, der Logik und sogar dem Hausverstand nicht stand. Es bedarf der langwierigen und mühevollen Einführung aller neugeborenen Menschen in diese Geisteswelt, und sie müssen dafür biologisch und genetisch entsprechend ausgestattet sein. Sie müssen potentiell intelligent genug sein, ihre Gehirne voll entwickelbar. Sonst bleibt die Geisteswelt, die Kultur, die Kunst und Wissenschaft, die sie sich auf diese Weise aneignen und über die sie mit anderen Menschen - und nur mit Menschen - sprechen können, dürftig, auf Dauer vielleicht sogar überlebensuntauglich. Würden wir uns darauf beschränken, dann könnte das Ende der Menschheit früher kommen, als es die geophysikalischen und kosmischen Verhältnisse auf Erden erlauben würden. Irgendwann einmal, vielleicht in zwei oder drei Milliarden Jahren, werden sie es nämlich voraussichtlich nicht mehr erlauben. Dann werden nicht nur die Menschen, sondern alles Leben überhaupt auf unserer großen kleinen Erde versiegen.
Im ganzen Universum, das wir überblicken, gibt es möglicherweise zehn, vielleicht 100 oder 1000 ausreichend ausgekühlte Himmelskörper in günstiger Nähe von noch ein paar Milliarden Jahre weiterbrennenden Sonnen, auf denen Leben entstehen könnte, schon im Entstehen begriffen oder bereits entstanden ist, oder sogar zu Ende gegangen. Echte Möglichkeiten solcher Lebensinseln sind nach unserem bisherigen Wissen im Weltall so selten und verstreut, daß wir uns keine realistischen Hoffnungen machen können, zu einer solchen zu gelangen, wenn unsere Lebensinsel erlischt. Unsere kosmologische Wissenschaftsdichtung oder Science Fiction tut zwar so, als ob dies ein leichtes wäre, bleibt aber mit ihren Phantasien frühkindlich befangen in unserem menschlichen Erdenleben. Sie unterschätzt die Unwirtlichkeit des Weltalls total. Unseren Religionen verdanken wir zwar, daß wir von der Einmaligkeit des Lebens und der Einzigartigkeit der Menschheit überzeugt und begeistert sind und uns selbst einfach nicht mehr wegdenken können. In dieser Begeisterung haben wir vielleicht unsere Überlebenschancen kurzfristig verbessert. Mittel- und langfristig aber sind die Wahrheiten der Wissenschaften unentbehrlicher, das Leben auf Erden nicht einmalig und die Menschen unter allen irdischen Lebewesen nicht einzigartig. Mit keinem aller dieser Lebewesen haben wir nichts gemeinsam. In der Evolution sind wir Menschen etwa drei Millionen Jahre alt, wir beherbergen aber in unseren Körpern Lebewesen, die es seit einer Milliarde von Jahren gibt. Unsere Konjunktur begann vor etwa 100.000 Jahren, unsere Hochkonjunktur vor 10.000 Jahren, und seit einigen hundert Jahren überschwärmen und überstürzen wir uns selber immer mehr. Wir sind zwar die einzigen Lebewesen, die sich Gott und den Himmel ausgedacht haben und miteinander das ewige geistige Leben dort besprechen, wenn wir jedoch alle unsere Sinne und Gedanken zusammennehmen, so wie es in den Wissenschaften geschieht, muß diese Möglichkeit als äußerst unwahrscheinlich angesehen werden.
Warum sollte uns demnach ein anderer Tod als jener bevorstehen, dem alle Lebewesen zusteuern und der ihnen unausweichlich bevorsteht: Ein Tod der Nicht-Existenz. Aus ihr sind wir alle gekommen, Viren, Mikroben, Infusorien, Weichtiere, Insekten, Fische, Amphibien, Reptilien, Vögel und Säugetiere, nicht nur die guten und die bösen Menschen, sondern alle, alle Lebewesen überhaupt einschließlich der unglaublichen Vielfalt der Pflanzen. In die zeit- und leidlose Ruhe und Stille der Nicht-Existenz kehren wir alle zurück. Es ist ein Zustand, den wir im Tiefschlaf viele, viele Male, bei Langlebigkeit bis zu 35.000 mal und darüber hinaus geprobt und für gut befunden haben. Wir wachten immer wieder daraus auf. Eines Tages werden wir es nicht mehr tun. Dann sind wir im Schlaf gestorben. Mit weniger Glück leiden wir mehr oder weniger lang am Sterben, ehe uns der Tod erlöst. Poetisch könnte man ihn unseren eigentlichen Heiland nennen. Er hat auch Jesus Christus von seinen grausamen letzten Leiden erlöst.
In dieser unendlichen Gleichheit der letztendlichen Nicht-Existenz aller Lebewesen ist der Mensch nicht mehr und nicht weniger als jedes andere Lebewesen. Sie ist auch eine Gleichheit aller Menschen untereinander. Nur so könnte eine Abrechnung für Gut und Böse in ihrem Leben aufgehen. Erst hier werden wir nicht nur die Brüder und Schwestern aller Menschen einschließlich der von uns im Leben besonders geliebten, sondern aller Kreatur überhaupt. In der Nicht-Existenz treffen wir uns alle, und so können wir uns selbst und alle, alle anderen auf die Dauer aushalten, und diese uns.
Damit ist nicht das Ende unserer Religionen angekündigt. Sie sind aus unserer Menschheitsgeschichte ebenso wenig wegzudenken wie unsere Träume und Tagträume und unsere künstlerischen, literarischen und musikalischen Werke und Phantasien. Religionen sind mehr oder weniger konzertierte Lebens- und Weltdeutungsversuche ihrer jeweiligen Epochen, auch wenn sich diese Versuche schon für manche unserer Vorfahren und jedenfalls in den letzten fünf Jahrhunderten für wachsende Zahlen von Menschen wissenschaftlich und erkenntnistheoretisch als unzureichend, ja zum Teil geradezu märchenhaft und abergläubisch ausgenommen haben. Kinder stören sich im allgemeinen nicht daran, aber in der späten Kindheit und Jugend wächst die Intelligenz, das Bewußtsein und der Wirklichkeitssinn bei vielen Menschen auf das erkenntnistheoretische Niveau der Wissenschaften an. Wenn die Religionen diese Menschen nicht verlieren wollen, müßten sie ihnen eigentlich ihre Zweifel an den religiösen Dogmen und Glaubenswahrheiten gestatten, sie mit ihnen diskutieren und erkenntnistheoretisch ernsthaftere Dialogformen finden als bisher. Die Religionen und Kirchen können auf Dauer nicht erwarten, daß wissenschaftlich aufgeklärte heranwachsende Menschen ihre natürliche intellektuelle Entwicklung kappen und verstümmeln. Die Religionen müßten sich und ihre Lehren allenfalls adjustieren und verändern, wenn sie den hartnäckigsten Zweifeln ihrer Jugendlichen Rechnung tragen wollen.
Woher wissen denn die Religionen, daß man ohne den Glauben an ein ewiges Leben nach dem Tode nicht religiös oder spezifisch christlich fühlen, denken und handeln kann? Was ändert sich am liebenswürdigen, mutigen und heilsamen Vorbild Christi, wenn er nicht der leibliche Sohn Gottes gewesen und auch nicht wirklich von den Toten auferstanden sein sollte, aber in unserem Gedenken und unserer Erinnerung weiterlebt und -wirkt wie andere bedeutende Menschen, er vielleicht der bedeutendste unter ihnen? Andere als die christlichen Religionen halten ihn immerhin für einen Propheten und viele Menschen, darunter auch religiös ungebundene, für einen poetisch, sozial und psychotherapeutisch besonders begabten Menschen. Viele seiner Taten und Worte sind ja aufgezeichnet, entwickeln auch heute noch ihren Charme, ihre Faszination und Ansteckungskraft in der Praxis des täglichen Lebens und bedürfen nicht unbedingt der Zusicherung eines ewigen Lebens im Himmel, um von den Menschen angenommen zu werden. Christus hat zwar gelegentlich davon gesprochen, aber nicht gesagt, wie es dort zugeht. Daß er da vielleicht zu viel versprochen hatte, scheint ihm auf dem Kreuze in den letzten Minuten seines bewußten Lebens klar geworden zu sein. Da rief er angeblich aus: "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?!"
Etwas anderes als die endlose Nicht-Existenz können sich die meisten Menschen im Tode ernsthaft gar nicht vorstellen. Das spüren sie, nicht nur die Freidenker, sondern auch die Mehrzahl der Gläubigen aller Religionen. Danach verhalten sie sich jedenfalls. Ihre Ziele wollen sie alle noch im Leben erreichen. Danach geht nichts mehr, meinen sie im Vertrauen, selbst wenn sie nebenher dennoch auch einen kleinen Obulus auf das ewige Leben im Himmel ihrer jeweiligen Religion setzen. Es wird nichts nützen, sagen sie, aber es schadet nicht. In der Nicht-Existenz ist automatisch alles vergeben.
Zusammenfassung
Verläßt man sich nicht auf die romantischen, aber sachlich dürftigen Weissagungen der Religionen über das Leben nach dem Tod, sondern bezieht sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und eigene reale Lebenserfahrungen, dann stehen etwa folgende Überlegungen an:
Alle historischen Persönlichkeiten, die wir selbst kannten oder von denen wir wissen, haben nach ihrem Tod keinen direkten Einfluß mehr auf die Lebenden nehmen können und sind auch leibhaftig nie mehr aufgetaucht.
Der menschliche Organismus beginnt seine Existenz mit der Vereinigung einer männlichen und weiblichen Geschlechtszelle mit einfachem Gensatz im Mutterleib zu einer einzigen Zelle mit doppeltem Gensatz im Zellkern. Diese Zelle beginnt sich nach ihrer Ansiedlung in der Gebärmutterwand und Aufnahme von Nährstoffen aus dem Körper der Mutter zu teilen und somatisch zu wachsen.
Dabei entwickelt sich im Mutterleib, nach der Geburt auch für andere Menschen gut beobachtbar, allmählich ein individuelles menschliches Bewußtsein. Dessen unentbehrliche Voraussetzung ist das ebenfalls sich entwickelnde Gedächtnis und die somatische Voraussetzung dafür ist die Bildung eines Zentralnervensystems mit Gehirn. Von letzterem hängt nicht nur alles menschliche Leben und Handeln, sondern auch alle jemals geleistete Arbeit und alle menschliche Kultur einschließlich der Religionen und der Wissenschaften ab, und zwar sowohl in ihrer Entstehung als auch in ihrem Erleben und ihrer Konsummation.
Mit dem Gehirntod wechselt jedes Individuum in die (geistige oder gedachte) Menge aller Menschen über, die einmal gelebt haben und fortan nicht mehr leben. Ihre Existenz, ihr Bewußtsein, ihr Gedächtnis und ihr Gehirn hat mit der Konzeption im Mutterleib begonnen und mit dem Tod unwiderruflich geendet. Während ihres Lebens blieben sie mit dem Zustand der Nicht-Existenz vor der Geburt durch den subjektiv zeitlosen, traumlosen und bewußtlosen Tiefschlaf, in den jeder Mensch täglich mindestens einmal zu seiner Regeneration verfällt, in lebenslangem Rapport. Biologisch und psychologisch sind die Menschen nicht unbedingt auf das Sterben, wohl aber auf den Tod bestens vorbereitet und intimst mit ihm vertraut.
Damit ist nicht das Ende unserer Religionen angekündigt. Sie haben manches Gute für die Menschheit getan, insbesondere für ihre Zivilisierung. Sie müßten sich aber mit den intelligenten Zweifeln der heranwachsenden Menschen anders als bisher auseinandersetzen. Ihre kritischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollten deswegen nicht aus ihren Religionen ausgegrenzt werden oder ihren Zweifeln abschwören müssen. Solche Demütigungen bestärken eher die Zweifel.
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