Windelband Ueber die Gewissheit der Erkenntniss: eine psychologisch-erkenntnisstheoretische Studie
Recherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Windelband, Wilhelm (1873) Ueber die Gewissheit der Erkenntniss: eine psychologisch-erkenntnisstheoretische Studie — Berlin, 1873 https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/windelband1873/0054/image,info
Zusammenfassung-Windelband-1873:
Die Arbeit enthält 272 Fundstellen "Gewissheit". Auf den S.1-21 beschäftigt
sich Windelband mit der Frage, was unter Gewissheit zu verstehen "ist".
Kurz und bündig versteht Windelband unter Gewissheit das subjektive
für wahr halten. Danach erörtert er, wie wir zur Gewissheit gelangen.
S.8: "Somit ist die Gewissheit der
Erkenntniss dasjenige Prädicat unserer Urtheile, durch welches wir
dem Inhalt derselben Wahrheit zuschreiben. ... Die Gewissheit
gehört daher der psychologischen Seite des Denkens
an ..." und weiter S.18:
"Gewissheit
ist derjenige psychologische Zustand, in welchem sich die Seele der widerspruchslosen
Einheit ihrer Vorstellungen als einer objectiven Wahrheit bewusst ist."
Kommentar? Hier sehe ich einen Widerspruch: Wenn Gewissheit subjektiv ist,
wozu sollte sie dann als "objektive Wahrheit" bewusst sein? (S. 18) "...
S.19: "Hierauf stützt sich eine Terminologie,
welche wir im Folgenden der Kürze wegen anzuwenden gedenken. Wir wollen
den Zustand, in welchem die Seele sich der Einheit ihrer Vorstellungen
als einer objectiven Erkenntniss bewusst ist, die subjective
Gewissheit, die Eigenschaft der Urtheile aber, vermöge
deren sie die Verhältnisse der vom Vorstellungsprocess unabhängigen
Gegenstände ausdrücken, die objective Gewissheit
nennen. Dann dürfen wir nach dem Vorigen behaupten: die subjective
Gewissheit enthält immer die Vorstellung der objectiven;
allein sie garantirt dieselbe in keiner Weise, auch die stärkste
subjective Gewissheit kann niemals ein Beweis für die
objective
Gewissheit sein. Danach ist die subjective
Gewissheit nur eine psychologische Thatsache, welche ebensogut
berechtigt als unberechtigt sein kann. Die
objective
Gewissheit erst enthält ihre Berechtigung." Kommentar:
Hier ist natürlich zu fragen: von wem und wie?
S.7ff: "Wenn es deshalb zunächst wünschenswerth ist, sich
ganz klar darüber zu werden, was man unter Gewissheit
verstehe, so sei es gestattet, zu diesem Zwecke von dem allgemeinen Sprachgebrauche
des Wortes auszugehen.
Dasjenige Gebilde unserer psychologischen Thätigkeiten,
für welches wir das Prädicat der Gewissheit
in Anspruch zu nehmen nach dem Obigen überall so begierig sind, ist
niemals die einzelne Vorstellung oder der einzelne Begriff. Zwar pflegen
wir zu sagen, wir seien unserer einzelnen Vorstellungen gewiss, und man
nennt wohl diese unsere Gewissheit die
erste und unleugbarste aller unserer Erkenntnisse: allein einerseits kommt
eine solche Gewissheit allen unseren
Vorstellungen in ganz gleichem Maasse zu, und eine Vorstellung vom geringsten
Grad der Stärke, wenn sie überhaupt noch über der Bewusstseinsschwelle
liegt, ist uns genau so gewiss wie die
stärkste dominirende Vorstellung, andererseits drückt diese Gewissheit
gar nicht irgend eine Qualität der Vorstellung, weder ihrer Intensität
noch ihres Inhalts aus, sondern für gewiss wird dabei nur das erklärt,
dass das Ich diese Vorstellung habe. Dies aber ist eine Beziehung zwischen
zwei Vorstellungen, ein Urtheil. Von einer Gewissheit
kann daher erst auf derjenigen Stufe der psychologischen Complexionen die
Rede sein, auf der das Urtheil erscheint, und nur für dieses kann
das Prädicat der Gewissheit in
Anspruch genommen werden. Wenn von der Gewissheit
eines Begriffs gesprochen wird, so ist dies ein uneigentlicher Ausdruck,
mit welchem eigentlich die Gewissheit
des Urtheils gemeint ist, dass der Inhalt jenes Begriffs wirklich sei:
wenn z. B. der Glaube die Gewissheit des
Gottesbegriffs anerkannt wissen will, so verlangt er nicht nur, dass wir
zugeben, er habe die Vorstellung eines Gottes, sondern vor Allem, dieser
von ihm vorgestellte Gott sei. So lässt sich das Prädicat der
Gewissheit
stets in ein zweites Urtheil fassen, worin ausgesprochen wird, dass der
Inhalt eines ersten Urtheils wirklich sei, und so liegt in der Gewissheit
eine über das Gebiet des Denkens in dasjenige des Seins hinübergreifende
Tendenz; es ist dasjenige Prädicat, durch welches wir für unsere
Vorstellungen einen Werth in Anspruch nehmen, der ausserhalb unseres Vorstellungsprocesses
seine selbständige Geltung hat. Dieser Werth, vermöge dessen
sich die Erkenntniss identisch mit dem [S.8] Sein wissen will, wird die
Wahrheit genannt, welche danach als das ideale Bild eines Realen erscheint.
Somit ist die Gewissheit
der Erkenntniss dasjenige Prädicat unserer Urtheile, durch welches
wir dem Inhalt derselben Wahrheit zuschreiben.
Allein diese ganze eben entwickelte Bedeutung der
Gewissheit
als eines Prädicats unserer Urtheile deren wir uns gewiss sind, d.
d. der Erkenntniss dasjenige Prädicat unserer Urtheile, durch welches
wir dem Inhalt derselben Wahrheit zuschreiben. als eines Prädicats
unserer Urtheile ist eine abgeleitete. Wir nennen gewiss
im abgeleiteten Sinne diejenigen Urtheile deren wir uns gewiss sind, d.
h. die Gewissheit ist ursprünglich kein Prädicat der Urtheile,
sondern ein Zustand der erkennenden Seele*), in welchem
sich dieselbe zu dem Inhalte des Urtheils in einer gewissen, näher
zu untersuchenden Beziehung befindet. In diesem Character der Gewissheit
als eines psychologischen Zustandes liegt es begründet, dass die Frage
nach der Gewissheit nicht in's Unendliche
treibt. Denn wäre die Gewissheit
nur jenes oben beschriebene zweite Urtheil, worin irgend einem ersten Urtheil
Wahrheit in der bezeichneten Bedeutung zugeschrieben würde, so müssten
wir für dies zweite ebenfalls ein die Wahrheit desselben aussprechendes
drittes Urtheil verlangen, und frügen wir so nach der Gewissheit
der
Gewissheit,
so müssten wir wieder nach einer Gewissheit
der
Gewissheit der Gewissheit
fragen
u. s. f. bis in's Unendliche. Dadurch aber, dass bereits jenes zweite Urtheil
nur der logische Ausdruck eines psychologischen Zustandes ist, in welchem
sich die Fragethätigkeit der Erkenntniss beruhigt, wird dieser ganze
unendliche Process unmöglich gemacht. Schon die erste Frage nach einer
Gewissheit
der
Gewissheit
fällt uns gar nicht ein, und zwar lediglich aus dem Grunde, weil durch
das Urtheil der Gewissheit ein psychologischer
Zustand herbeigeführt ist, in welchem keinerlei Antriebe zu weiterem
Zweifel und weiterer Beunruhigung liegen. Die Gewissheit
gehört daher der psychologischen Seite des Denkens an, und wir werden
über jene nähere Beziehung, in welcher sich die erkennende Seele
im Zustande der Gewissheit zu ihren
Vorstellungen befindet, nur [>9] klar werden können, wenn wir auf
die psychologischen Grundbedingungen des Denkens überhanpt zurückgehen.
S.18: "Gewissheit ist derjenige psychologische Zustand, in welchem sich die Seele der widerspruchslosen Einheit ihrer Vorstellungen als einer objectiven Wahrheit bewusst ist."
S.19: "Hierauf stützt sich eine Terminologie, welche wir im Folgenden der Kürze wegen anzuwenden gedenken. Wir wollen den Zustand, in welchem die Seele sich der Einheit ihrer Vorstellungen als einer objectiven Erkenntniss bewusst ist, die subjective Gewissheit, die Eigenschaft der Urtheile aber, vermöge deren sie die Verhältnisse der vom Vorstellungsprocess unabhängigen Gegenstände ausdrücken, die objective Gewissheit nennen. Dann dürfen wir nach dem Vorigen behaupten: die subjective Gewissheit enthält immer die Vorstellung der objectiven; allein sie garantirt dieselbe in keiner Weise, auch die stärkste subjective Gewissheit kann niemals ein Beweis für die subjective Gewissheit sein. Danach ist die subjective Gewissheit nur eine psychologische Thatsache, welche ebensogut berechtigt als unberechtigt sein kann. Die subjective Gewissheit erst enthält ihre Berechtigung."
S.21: "Nachdem wir es versucht haben, eine genaue Vorstellung davon zu gewinnen, was eigentlich unter Gewissheit zu verstehen sei, können wir zu weit wichtigeren Fragen übergehen. Denn nicht das interessirte uns ursprünglich, was die Gewissheit sei, sondern vielmehr, was gewiss sei und wie wir zur Gewissheit gelangen. Es wird sich daher im Folgenden wesentlich um die Frage handeln, unter welchen Bedingungen die subjective Gewissheit als eine objective betrachtet werden dürfe. Zu diesem Zwecke werden wir die Natur derjenigen Denkresultate näher zu untersuchen haben, bei denen sich die Seele als in einer Gewissheit zu beruhigen pflegt, und dabei prüfen müssen, welche dieser Prädicate zugleich die Kriterien objectiver Wahrheit sein können. Ehe wir aber dazu übergehen, mögen einige Nebenbemerkungen zur Characterisirung der subjectiven Gewissheit hier den geeignetsten Platz finden. -"
S.22f: "Die subjective Gewissheit ist
ein Affect, und zwar ein durchaus freudiger.
Nun redet man freilich viel von traurigen, schmerzlichen,
grausamen, quälenden Gewissheiten: allein dabei liegt die Unlust nicht
in der Gewissheit als solcher, sondern
in dem Widerspruch, in welchen der Inhalt der gewissen Vorstellung mit
dem Objecte irgend eines andern psychologischen Strebens tritt, und da
die Vorstellungen des Interesses die stärksten sind, so wird in diesen
Fällen die Unlust so gross, dass sie den an sich freudigen Affect
der Gewissheit zurückdrängt.
Andererseits spricht man speciell von einer freudigen
Gewissheit, wenn der Inhalt der gewissen Vorstellung dem
Wunsche des Erkennenden entspricht, und in diesem Falle führt wieder
die Erfüllung des Wunsches einen so starken Affect der Freude herbei,
dass abermals der Affect der Gewissheit
als solcher für das Bewusstsein verschwindet. So lange also, wie es
fast immer der Fall ist, die persönlichen Interessen an dem Inhalt
unserer Vorstellungen betheiligt sind, kann der Affect
der Gewissheit gar nicht oder wenigstens nicht rein hervortreten:
er wird dies nur da können, wo sich die Objecte des Denkens und die
Interessen
des Subjects nicht berühren, er ist nur zu Hause auf dem Gebiete
wissenschaftlicher Forschung: und wenn man anerkennen muss, dass von allen
Leidenschaften diejenige des Denkens die edelste ist, so giebt es keine
höhere, reinere [>23] Lust, als diejenige, welche die Gewissheit
der Erkenntniss als solche in sich trägt. „Selig sind, die reines
Herzens sind; denn sie werden Gott schauen." Wir erinnern dabei an die
obige Bemerkung, dass es für die Stärke der subjectiven
Gewissheit ganz gleichgiltig ist, ob mit ihr die objective
Gewissheit erreicht ist oder nicht: die psychologischen
Affectwirkungen sind von dem objectiven Erkenntnisswerthe der für
gewiss gehaltenen Vorstellungen gänzlich unabhängig. So mag ein
späteres Denken die Voraussetzungen von Grund aus zerstört haben,
auf denen das System Spinoza's beruht: aber vielleicht kein Philosoph
ist jemals von der Gewissheit seiner
Gedankenarbeit so durchdrungen gewesen wie er, und keiner hat daher der
reinen Freude an der Gewissheit, der Lust an der Erkenntniss einen reineren,
inniger begeisterten Ausdruck gegeben, als er; über keinem philosophischen
Systeme liegt vielleicht jene sonnenhelle Klarheit der Einheit mit sich
selbst wie über dem Spinozismus. Es dürfte wohl zum grossen Theile
hierauf beruhen, dass diese Lehre eine so gewaltige Wirkung ausübt
und Jeden, der ihr näher tritt, wenigstens für eine gewisse Zeit
gefangen zu nehmen pflegt."
S.23: "... Es giebt Grade der Gewissheit, aber keine Grade des Gewissen. ..."
S.26f: "Wenn man den Menschen im empirischen Zustande der Wahrscheinlichkeit, z. B. beim Spiel, beobachtet, so wird man sich nicht verbergen können, dass in den meisten Fällen Dasjenige, was irgend welchen Vorstellungen und Erwartungen den Character der Wahrscheinlichkeit bestimmt und in vielen Fällen diesen psychologischen Zustand bis zu einer an die fixen Ideen des Wahnsinns grenzenden Gewissheit steigert, im Wesentlichen mit dem Interesse des Individuums auf das Innigste zusammenhängt. Es ist allbekannt, dass der Mensch hofft, was er wünscht, und dass er, je nach der Verschiedenheit des Temperaments, hier das Erfreuliche, dort das Schmerzliche für gewiss hält, ohne in beiden Fällen eine theoretische Berechtigung dazu zu haben. Diese wichtige Thatsache, dass Furcht und Hoffnung je nach Temperament und Verhältnissen die Erkenntnissthätigkeit in ausgedehntester Weise beeinflussen, zeigt sich allerdings am meisten da, wo von Wahrscheinlichkeiten die Rede ist: allein wir würden dieselbe nicht erwähnt haben, wenn nicht dieser Einfluss der Interessen auf die Erkenntniss eben so sehr den Zustand der subjectiven Gewissheit beträfe. Allerdings ist schon der rein theoretische Zweifel etwas Beunruhigendes; aber er wird zu einem desto stärkeren Unlustaffect, je werthvoller für das Individuum der Inhalt der zweifelhaften Vorstellungen ist: und das Streben nach Gewissheit ist daher desto stärker, je mehr mit dieser Gewissheit ein persönliches Interesse verwachsen ist. Indem nun die Seele mit aller Gewalt nach ihrem Wunsche auf eine in bestimmter Richtung erhoffte Gewissheit hindrängt, wird es ihr gar leicht begegnen, dass das Interesse die Klarheit des Denkens alterirt [>27] und dass die Hastigkeit des Wunsches die Seele in den Zustand der Gewissheit versetzt, wo dieser sonst keineswegs eintreten würde. Denn je werthvoller ihr die Gewissheit ist, desto eher überredet sich die Seele, dieselbe gefunden zu haben, sie vernachlässigt Vorstellungen, die ihr sonst unumstösslich gewiss waren, nur um andere, gewünschte aufrecht erhalten zu können, und bemächtigt sich mit ganzer Gewalt derjenigen, die ihren Wünschen entsprechen. Es ist klar, dass dieser innige Zusammenhang der Interessen mit dem Inhalte des Denkens dem objectiven Werthe der Erkenntniss ausserordentlich hinderlich ist, so förderlich er andererseits für die Anregung zur theoretischen Thätigkeit selbst sein mag: aber es geht daraus mehr und mehr hervor, dass die subjective Gewissheit an sich in keiner Weise als ein Kriterium der objectiven gelten darf, und es wird uns diese Erkenntniss an einem Puncte leiten müssen, wo in einer der schwierigsten Fragen der Erkenntnisstheorie uns das "Fürwahrhalten aus einem Interesse der Vernunft" wieder begegnen wird."
S.27: "Wenn somit die Wahrscheinlichkeit in gewisser Beziehung als ein
Grad
der Gewissheit aufgefasst werden muss, so muss man dabei
festhalten, dass die Grade der Gewissheit
niemals mit Gewissheitsgraden irgend eines Gegenstandes
correspondiren, sondern nur Grade der Erfüllung unseres Erkenntnissstrebens
und, vom Zweifel aufwärts gruppirt, Approximationen des subjectiven
Erkenntnisszustandes an denjenigen der Gewissheit
sind. In dieser Reihe bewegt sich all unser Denken, indem es, ausgehend
von dem unentschiedenen Widerspruche der im Zweifel begriffenen Vorstellungsmassen
nach den Eindrücken der Wahrscheinlichkeit einen Weg der Vereinigung
sucht, um auf demselben früher oder später zur Gewissheit
zu gelangen. Aber es ist eben keineswegs ausgeschlossen, dass die Gewissheit,
welche an einem bestimmten Puncte erreicht war, einem anderen Individuum
oder demselben Individuum zu einer anderen Zeit nur wahrscheinlich oder
gar völlig zweifelhaft wird."
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