Bedürfnis - Begriffsanalyse,
Sprachgebrauch, Modelle und Theorien
bei Franz Cuhel
Haupt- und Verteilerseite Bedürfnis: Begriff,
Modelle, Theorien, Modelle in der Wirtschaftswissenschaft.
Haupt- und Verteilerseite Bedürfnis: Begriff,
Modelle, Theorien, Modelle.
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Originalarbeit von Rudolf
Sponsel, Erlangen
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Sachregistereinträge mit Bedürfnis. Darstellung Cuhels von Begriff und Lehre der Bedürfnisse anderer Autoren: 1. v. Hermann (Z 92-95) S.78-80. 2. Wagner (Z 96-100). S. 81-83. 3. Schäffle (Z 101-103). S. 83-84. 4. Schmoller (Z 104-106). S. 84-85. 5. Schwiedland (Z 107) S. 85-86. 6. Gossen, Jevons, Menger, v. Böhm-Bawerk (Z 108-111) S. 86-87. 7. v. Wieser (Z 112-115). S. 87-88. 8. Sax (Z 116-119) S. 88-91. 9. Pantaleoni (Z 120-121). S. 91-92. 10. Sulzer (Z 122-123) S. 92 11. Döring (Z 124-127) S. 92-94 12. Kraus (Z 128-130) S. 94-95 Anmerkung: Lehr Fußnote 2, S. 82 Wissenschaftlicher Apparat: Literatur; Links; Glossar, Anmerkungen und Endnoten; Zitierung; Copyright; Querverweise; Änderungen. |
Cuhel, Franz (1907) Zur Lehre von den Bedürfnissen. Innsbruck: Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung.
Das ganze Buch handelt von den Bedürfnissen, wie der Titel schon zum Ausdruck bringt und daher ist es auch als Monographie zu klassifizieren, nach meiner Kenntnis bislang die Einzige dieses Umfangs. Das Inhaltsverzeichnis können Sie hier als PDF herunterladen. Auch das ganze Buch ist downloadbar (Lit).
Cuhel entwickelt eine eigene, schwierige und ungewöhnliche, Terminologie mit erheblichen Definitionsproblemen (> Definitionen), die er nicht realisiert. Es fehlen oft operationalen Beispielen und klaren Referenzierungen. Zu seinen Grundbegriffen gehören z.B.: Begehren (S. 20f), Wohlfahrtszustand (S. 5), Streben, Instinkt (S. 20), Gefühle, Lustgefühle. Seine umfangreiche Begrifflichkeit kann seinem Sachregister entnommen werden. Cuhels Kritik (91: "... Obzwar sich unter den anzuführenden einige der hervorragendsten Vertreter unserer Wissenschaft befinden, so werden wir doch konstatieren müssen, daß die von ihnen aufgestellten Begriffsbestimmungen ganz und gar ungenügend sind. ...") bleibt vielfach abgehoben auf der Metaebene und begründet nicht sorgfältig und gründlich am Sachverhalt. Kraus hat Cuhels Arbeit in seiner umfangreichen Rezension kritisch beleuchtet.
Seine drei Hauptbegriffe sind Wohlfahrtsbegehren, Verwendungsbegehren, Verfügungsbegehren (> Definitionen):
"Bedürfnis" hat über zwei Seiten Einträge im Sachregister:
S. 311-312:
Bedürfnisse, absolute 166, (v. Hermann) 167.
Bedürfnisse, aktuelle 159.
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Z := Ziffern, S := Seite(n)
1. v. Hermann (Z 92-95) S. 78-80.
2. Wagner (Z 96-100). S. 81-83.
3. Schäffle (Z 101-103). S. 83-84.
4. Schmoller (Z 104-106). S. 84-85.
5. Schwiedland (Z 107) S. 85-86.
6. Gossen,
Jevons,
Menger,
v.
Böhm-Bawerk (Z 108-111) S. 86-87.
7. v. Wieser (Z 112-115). S. 87-88.
8. Sax (Z 116-119) S. 88-91.
9. Pantaleoni (Z 120-121). S. 91-92.
10. Sulzer (Z 122-123) S. 92
11. Döring (Z 124-127) S. 92-94
12. Kraus (Z 128-130) S. 94-95
Kritik der bemerkenswerteren Ansichten anderer Autoren über das Wesen der Bedürfnisse
90. Im vorhergehenden Kapitel glaube ich in überzeugender
Weise dargelegt zu haben, daß die Wirtschaftswissenschaft, obzwar
sie sich direkt nur mit den Verfügungsbedürfnissen zu befassen
hat, dennoch auch die Verwendungsbedürfnisse in den Kreis ihrer Untersuchungen
ziehen muß, da sie sonst die Existenz und Intensität der Verfügungsbegehren
nicht zu erklären vermöchte. Meine Behauptung, daß das
Verwendungsbedürfnis den Ausgangspunkt und den ersten Grundbegriff
der Wirtschaftswissenschaft bildet, konnte ich zwar nicht durch Widerlegung
der gegenteiligen Ansichten bekräftigen, da dies die Entwicklung aller
Grundbegriffe der Wirtschaftswissenschaft erfordert hätte; trotzdem
dürfte aber der Leser die Überzeugung gewonnen haben, daß
eine große Wahrscheinlichkeit zu Gunsten meiner Ansicht spricht und
daß daher die Bedürfniserscheinung und der Bedürfnisbegriff
für die Wirtschaftswissenschaft von besonderer Wichtigkeit sind.
Deshalb muß es sehr befremden, daß die volkswirtschaftlichen
Schriftsteller diesem Thema bisher ein so geringes Interesse entgegengebracht
haben. So viel mir [>77] bekannt geworden, existieren bis jetzt nur
vier
monographische Arbeiten, welche sich mit den Bedürfnissen befassen,
nämlich eine kleine Schrift von Kraus1),
welcher aber nur die Aufstellung einer Definition des Bedürfnisbegriffes
versucht hat, dann drei Artikel von Voigt2),
Cohn3)
und Kleinwächter4), von welchen aber
der erstere nur die Dringlichkeit der Bedürfnisse erörtert, während
die beiden letzteren nur auf einigen wenigen Seiten von den Bedürfnissen
handeln, im übrigen aber mit anderen Gegenständen sich befassen.
Zu diesen drei Artikeln wären noch allenfalls zwei Abhandlungen von
v.
Schubert- Soldern5) und Schwiedland6)
hinzuzurechnen, welche einige beachtenswerte Bemerkungen über die
Bedürfnisse enthalten. Von den systematischen Werken enthält
immer noch dasjenige von
v. Hermann die ausführlichsten Belehrungen
über das Wesen und die Einteilungen der Bedürfnisse. Ihm reihen
sich an
Wagner's Grundlegung, Samter's Soziallehre, Schäffle's
Gesellschaftliches System und Gide's Économie politique.
Von den älteren verdienen auch jetzt noch einige Beachtung Mischler's
Nationalökonomie und Kautz's Nationalökonomik.
Man hätte erwartet, daß die Grenzwerttheoretiker,
welche die Wertlehre in so hohem Grade psychologisch vertieft haben, auch
den Bedürfnissen, welche doch die wichtigste Ursache des wirtschaftlichen
Güterwertes bilden, eine gründlichere Untersuchung als es bis
dahin der Fall war, werden zuteil werden lassen. Doch ist diese Erwartung
bis jetzt nicht in Erfüllung gegangen. Gossen, Jevons, Menger
und v. Böhm-Bawerk haben zwar manche sehr wertvolle Bemerkungen,
namentlich über die Intensität der Bedürfnisse, ausgesprochen,
aber über das Wesen und den Begriff der Bedürfnisse würde
man bei ihnen vergebens Belehrung suchen. v. Wieser und Sax
haben sich zwar mit diesen Fragen systematischer befaßt, doch waren
sie bei der Lösung derselben nicht so glücklich wie bei ihren
anderen Untersuchungen. Von den auf der Grenznutzentheorie be-[>78] ruhenden
systematischen
Werken sind hauptsächlich zu nennen: Pantaleoni's Economia
pura, v. Philippovich's Politische Oekonomie und Sulzer's
Grundgesetze der menschl. Wirtschaft.
Eine sehr anschauliche Illustration für die
geringe Wichtigkeit, welche der Lehre von den Bedürfnissen bisher
in der Volkswirtschaftslehre beigemessen wurde, liefert insbesondere der
Umstand, daß das Handwörterbuch der Staatswissenschaften
dieses
Thema mit acht kleinen Zeilen, die in dem Artikel "Gut" eingeschaltet
sind, abtut.
91. Die Klarheit, welche unsere Untersuchung
in das bisherige Gemengsel der Bedürfnisbegriffe gebracht haben dürfte,
und die Bestimmtheit der für diese Begriffe aufgestellten Definitionen
dürfte wohl bereits den Beweis geliefert haben, daß die von
uns gewählte Methode als zweckmäßig anzusehen ist.
Diese Überzeugung wird sich sicherlich noch verstärken, wenn
wir im Nachstehenden die bemerkenswerteren Aussprüche anderer Volkswirtschaftslehrer
über das Wesen und den Begriff des Bedürfnisses anführen
und einer kritischen Prüfung unterziehen. Obzwar sich unter den anzuführenden
einige der hervorragendsten Vertreter unserer Wissenschaft befinden, so
werden wir doch konstatieren müssen, daß die von ihnen aufgestellten
Begriffsbestimmungen ganz und gar ungenügend sind. Da diese Schriftsteller
von den sprachüblichen Bedürfnisbegriffen ausgegangen sind, so
können wir darin einen zweiten, den indirekten Beweis für
die Richtigkeit unserer Methode erblicken.
An die Spitze der nachfolgenden Übersicht haben
wir, um mit v. Hermann beginnen zu können, solche Autoren gestellt,
welche nicht zu den Grenzwerttheoretikern zugezählt werden
können, dann folgen einige Grenzwerttheoretiker und schließlich
zwei Philosophen.
92. Unter den gegenwärtig kurshabenden Definitionen des Bedürfnisbegriffes ist wohl die v. Hermann'sche die älteste. Bei vielen Schriftstellern kann man lesen, v. Hermann hätte das Bedürfnis definiert als 'das Gefühl eines Mangels mit dem Streben ihn zu beseitigen.' Wenn man in der zweiten Auflage seiner „Staatswirtschaftlichen Unter-[>79]suchungen" nachschlägt, so wird man dort diesen Wortlaut nirgends finden. Zwar heißt es dort auf Seite 5: „Dieses Gefühl eines Mangels mit dem Streben ihn zu beseitigen, heißt Bedürfnis," aber das Demonstrativpronomen weist auf den vorhergehenden Satz und dieser lautet: „In allen diesen Beispielen . . . macht sich das Gefühl oder Bewußtsein eines Mangel. geltend, welcher den Gang des Lebens beengt, behindert, gefährdet, verbunden mit dem Streben, demselben abzuhelfen." Ferner darf man nicht übersehen, daß v. Hermann an anderen Stellen das Gefühl des Mangels dem „Gefühl der Beschränkung, der Behinderung, des Druckes, der Gefährdung gleichsetzt. so daß also nach ihm ein Bedürfnis nicht bloß dann als vorhanden anzunehmen ist, wenn etwas fehlt, sondern auch dann, wenn von etwas zu viel ist.
93. Wenn wir diese und die übrigen Stellen,
in welchen der Begriff des Bedürfnisses erläutert wird, zusammenfassen,
so kommen wir zu der Überzeugung, daß v. Hermann unter
dem Bedürfnis bald ein Wohlfahrts-,
bald ein Verwendungsbegehren
versteht, in welchen er aber nicht den Hauptbestandteil der Bedürfniserscheinung
erblickt, sondern er stellt die durch das Gefühl vermittelte Erkenntnis
eines negativen Wohlfahrtszustandes (arg.: Mangel, welcher den Gang
des Lebens beengt, behindert, gefährdet, Schwäche, Beschränkung,
Behinderung, Druck, Gefährdung)1) in den Vordergrund.
Ja aus dem auf S. 4 vorkommenden Satze: „Allem Streben nach der Verwendung
von Sachen und Dienstleistungen (= Verwendungsbegehren) liegt ein Gefühl
des Mangels, der Schwäche zu Grunde, welches die Aufnahme bestimmter
Gegenstände in den Lebensbereich . . . fordert," könnte man sogar
schließen, daß er diese Gefühle für das wahre Wesen
der Bedürfniserscheinung hält. Doch stehen mit dieser Annahme
zahlreiche andere Stellen im Widerspruch, in welchen die früher angeführte
Ansicht deutlich zum Ausdruck gelangt.
An ein Wohlfahrtsbegehren dürfte v.
Hermann gedacht haben, wenn er als Ziel des Strebens die „Erhaltung
und Ergänzung, den Fortschritt und die Veredlung des Lebens" oder
die „Ergänzung, Kräftigung, Förderung, Erleichterung, Erheiterung"
oder die „Erweiterung oder Beseitigung von Schranken, Aufhebung von Druck,
Wegräumung von Hindernissen, Sicherung gegen Gefahren, Minderung von
Verlusten, Heilung von Leiden" angibt, vorausgesetzt, daß mit den
letzteren Verbalsubstantiven die bezüglichen Effekte und nicht die
Vorgänge gemeint sind. Hiebei scheint er einmal das Ziel der Wohlfahrtsbegehren
in der Förderung der objektiven Wohlfahrt (Beseitigung des Mangels
etc.), das andere Mal aber nur in der Erhöhung der Glückseligkeit,
der subjektiven Wohlfahrt, nämlich der Beseitigung des Gefühles
des Mangels, der Schwäche zu erblicken.
Dagegen berechtigt wieder der Satz „denn bald ist
es die Aufnahme von materiellen Gegenständen in den Lebenskreis des
bezüglichen Subjektes, bald der unmittelbare Genuß von Dienstleistungen
anderer, bald die Ver-[>80]stärkung der Tätigkeit des Einzelnen
durch Beihilfe anderer zur Erreichung gleichartiger oder gemeinsamer Lebenszwecke,
was jenem Mangel abhilft," zu der Annahme, daß v. Hermann
bei dem Streben ein Verwendungsbegehren im Sinne gehabt hat, und
diese Vermutung erhält eine starke Bekräftigung durch den bereits
zitierten Satz auf S. 4. So sehen wir denn, daß
v. Hermann
über eines der wichtigsten Merkmale des Bedürfnisbegriffes sich
keine
Klarheit verschafft hat.
Wahrscheinlicher dürfte es sein,
daß er in dem Streben, welches er für ein wesentliches Merkmal
des Bedürfnisbegriffes erklärt, ein Woh1fahrtsbegehren
erblickte, wofür auch der Umstand spricht, daß er es mit dem,
das Vorhandensein eines negativen Wohlfahrtszustandes anzeigenden Gefühls
verbunden sein läßt, während das Verwendungsbegehren, wie
wir wissen, mit diesem Gefühle nur mittelbar, nämlich durch das
Wohlfahrtsbegehren zusammenhängt.
94. Ein weiterer Mangel der Begriffsbestimmung v. Hermann's ist, daß darin das Gefüh1, welches den Hauptbestandteil der Bedürfniserscheinung bilden soll, zu eng gefaßt ist; es werden nur unangenehme Gefühle (des Mangels, der Schwäche, der Beschränkung, der Behinderung, des Druckes, der Gefährdung) angeführt, welche nur solche Wohlfahrtsbegehren auslösen können, die auf die Beseitigung eines negativen Wohlfahrtszustandes gerichtet sind. Wir wissen aber, daß unter gewissen Voraussetzungen (vgl. § 26) auch bei Vorhandensein von Lustgefühlen durch die Vorstellung lustvollerer Gefühle Wohlfahrtsbegehren und somit auch Bedürfnisse ausgelöst werden können, was auch v. Hermann nicht entgangen ist, da er ja unter den Bedürfnissen auch solche aufzählt, die auf Kräftigung, Förderung und Erleichterung hinzielen. Aus dem gleichen Grunde kann man diesem Autor nicht beistimmen, wenn er das Bedürfnis für eine Äußerung des Triebes der Selbsterhaltung erklärt, denn der Mensch hat ja auch Triebe zur Entwicklung, welche sich gleichfalls in Bedürfnissen äußern, was übrigens auch v. Hermann schließlich zugeben muß, in dem er Bedürfnisse auch aus dem „Streben nach Lösung aller Lebensaufgaben, welche über die bloße Sicherung der Subsistenz hinausliegen", hervorgehen läßt.
95. Schließlich ist darauf aufmerksam zu machen , daß das Gefühl keine präsentative Funktion hat und daher niemandem einen Mangel, eine Schwäche oder Beschränkung oder Behinderung, einen Druck oder eine Gefährdung zum Bewußtsein bringen kann ; dies ist nur die Empfindung, oder Wahrnehmung oder das Urteil im Stande. Durch das Gefühl werden wir uns bloß der Bedeutung bewußt, welche dasjenige, was Objekt der Empfindung, Wahrnehmung oder Vorstellung ist, für unsere körperlichen oder geistigen Lebensfunktionen hat. „Ohne ein Etwas (Aliquid), das empfunden oder vorgestellt wird, kann natürlich auch kein Wie (Quomodo) zum Bewußtsein kommen."1) Dieser Fehler dürfte übrigens v. Hermann nicht ganz entgangen sein, denn er führt einmal auf S. 5 das „Gefühl des Mangels" neben dem richtigen Ausdruck „Bewußtsein des Mangels" an.
96. Wagner1)
hat die vermeintliche Definition v. Hermanns adoptiert, denn er
erblickt in den Bedürfnissen „Gefühle des Mangels mit dem
Streben, diesen Mangel zu beseitigen."2)
Indem wir hinsichtlich der Unzulässigkeit des
Ausdruckes „Gefühl des Mangels" auf das im § 95 Gesagte
verweisen, müssen wir vor allem darauf aufmerksam machen, daß
Wagner
es unterlassen hat, genauer anzugeben, was er unter „dem Mangel" versteht.
Wir wollen daher selbst versuchen, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Das Wort Mangel hat bekanntlich eine zweifache Bedeutung, eine quantitativeund
eine qualitative. Im ersteren Sinne bedeutet es, daß etwas
nicht in der Quantität vorhanden ist, in welcher es vorhanden sein
soll, d. h. deren Vorhandensein begehrt, bedurft wird, deren Vorhandensein
also das Ziel eines Bedürfnisses bildet; im letzteren Sinne dagegen
(vgl. § 923 a. b. G.-B.), wo es ein Synonymum des Wortes „Fehler"
bildet, bedeutet es, daß etwas nicht jene Qualität besitzt,
die es besitzen soll, d. h. deren Vorhandensein begehrt, bedurft wird,
also das Ziel eines Bedürfnisses bildet.
Wenn wir nun die für das Wort „Mangel" gefundenen
Bedeutungen in die Wagner'sche Definition einsetzen, so würde
sie lauten: „Bedürfnisse sind Gefühle des Nichtvorhandenseins
derjenigen Qualität oder Quantität, deren Vorhandensein das Ziel
eines Bedürfnisses bildet," oder falls wir die bezüglich des
Ausdruckes „Gefühle des Mangels" erforderliche Korrektur durchführen:
„Bedürfnisse sind Gefühle, welche die Erkenntnis des Nichtvorhandenseins
derjenigen Quantität oder Qualität begleiten, deren Vorhandensein
das Ziel eines Bedürfnisses bildet." Wir sehen also, daß sich
die Definition Wagners, wenn man ihren richtigen Kern herausschält,
als ein [TspovTcprepov] entpuppt.3)
Wagner läßt es unentschieden,
ob man sich unter dem Mangel eine quantitative oder eine qualitative Unzulänglichkeit
denken und ob dieselbe sich auf den Wohlfahrtszustand der bedürftigen
Person oder auf gewisse äußere Dinge beziehen soll. Aus dem
bestimmten Artikel („Gefühl des Mangels") könnte man schließen,
er habe an die Mangelsgefühle gedacht, während der Zusatz „Streben,
diesen Mangel (also nicht das Gefühl) zu beseitigen," dieser Vermutung
wieder im Wege steht. [>82]
97. Jedenfalls ist aber die Definition, indem sie die in den Bedürfnissen sich äußernden Gefühle bloß durch die Erkenntnis eines Mangels entstehen läßt, viel zu eng; denn solche Gefühle entstehen nicht bloß dann, wenn gewisse Reize gänzlich fehlen oder im Verhältnis zu dem aufnehmenden Vermögen zu schwach oder zu flüchtig sind, sondern auch dann, wenn die Reize, sei es durch Steigerung ihrer Intensität, sei es durch übermäßig lange und unveränderte Fortdauer, über die Kraft des aufnehmenden Vermögens allmählich hinauswachsen, oder auf einmal mit einer so überwältigenden Intensität auftreten, daß sie die Funktionsfähigkeit des angegriffenen Organs zu zerstören geeignet sind.1) Nur im ersteren Falle kann man füglich von einem Mangel sprechen, während im letzteren Falle vielmehr ein Überfluß oder Übermaß vorhanden ist.
98. Aus der oben zitierten Definition ist man zu dem Schlusse berechtigt, daß Wagner das „Gefühl des Mangels" für einen wesentlichen Bestandteil des Bedürfnisses hält. Dieser Vermutung widerspricht aber ein späterer Satz (S. 76), wonach „das unbefriedigte Bedürfnis Gefühle des Unbehagens und der Unlust hervorruft," so daß diese Gefühle erst die Wirkung des Bedürfnisses wären. Dieser Widerspruch läßt sich m. E. nur entweder auf die Art beseitigen, daß im ersteren Falle nur an solche Bedürfnisse gedacht wird, deren Ziel die Beseitigung eines negativen Wohlfahrtszustandes bildet, im zweiten Falle aber bloß an solche, deren Ziel die Erhöhung eines schon vorhandenen positiven Wohlfahrtszustandes auf eine höhere Stufe der Wohlfahrtsskala ist, oder daß man dem Worte ,,Bedürfnis" auf S. 76 eine andere Bedeutung beilegt als auf S. 73, d. h. daß man den Ausdruck „nicht befriedigtes Bedürfnis" als gleichbedeutend erachtet mit dem Ausdruck „Zustand der nicht erfüllten Bedingung des normalen Wohlfahrtszustandes", oder mit dem Ausdruck „Zustand, in welchem sich eine Person befindet, wenn von ihr die Relation R1 ausgesagt werden kann" (vgl. § 76), oder kurz mit dem Ausdruck „negativer Wohlfahrtszustand".2) Ob man sich diesen Widerspruch auf diese oder jene Weise eliminieren soll, dafür hat aber Wagner selbst nicht die geringste Andeutung gemacht.
99. Den zweiten wesentlichen Bestandteil der
Bedürfniserscheinung bildet nach Wagner „das Streben, den Mangel
zu beseitigen," welches er Befriedigungstrieb genannt hat. Von diesem
sagt er dann : Derselbe „erscheint in seiner schärferen Form als Trieb
der Selbsterhaltung hinsichtlich der Befriedigung der Existenzbedürfnisse
ersten Grades, als Trieb des persönlichen oder Selbstinteresses
hinsichtlich der Befriedigung der übrigen Bedürfnisse." Bei dieser
Gelegenheit dürfte aber Wagner über-[83]sehen haben, daß
es auch alterile und Kollektivbedürfnisse gibt, deren
Befriedigungstrieb doch weder als Trieb der Selbsterhaltung, noch als Trieb
des Selbstinteresses bezeichnet werden kann, was umso mehr befremdet, als
er um einige Sätze weiter von den anderen Motiven, die sich mit dem
Selbstinteresse kreuzen, spricht, worunter doch nichts anderes als die
alterilen und Kollektivbedürfnisse gemeint sein kann.
100. Ob Wagner unter dem Streben,
welches er für den zweiten Hauptbestandteil der Bedürfniserscheinung
ansieht, ein Wohlfahrts- oder ein Verwendungsbegehren versteht,
können wir mit apodiktischer Gewißheit nicht angeben. Der Wortlaut
seiner Definition, falls man unter Mangel einen negativen Wohlfahrtszustand
des Bedürftigen verstehen darf, weist auf ein Wohlfahrtsbegehren hin,
dessen Ziel der Zustand des beseitigten Mangels, also ein Wohlfahrtszuwachs
ist. Denselben Sinn dürften auch einige andere Sätze (z. B. S.
74, 885 und 886) haben, während man wieder einige Sätze findet,
in welchen die Bedeutung „Verwendungsbegehren" die passendere ist.
101. Nach Schäffle 1)
ist „das Bedürfen der jedem organischen Wesen, also auch
. . . dem menschlichen Individuum natürlich innewohnende Drang
zur bestimmungsgemäßen sinnlich-sittlichen Entfaltung mit Hilfe
der Güter der Außenwelt." Zu diesen Bedürfnissen trete
eine zweite Kategorie von „ganz frei bestimmten, auf die Bildung innerer
Güter gerichteten Bedürfnissen" hinzu und überdies werde
auch jenes „Bedürfen in eine sittlich geregelte, auf persönliche
Entwicklung gerichtete Bedarfsgewöhnung verwandelt." Darnach versteht
also Schäffle unter Bedürfnissen im Allgemeinen sowohl
Instinkte als auch zweckbewußte Begehren, die sich in der Verwendung
äußerer Güter äußern. Diese Begriffsbestimmung
ist aber zu eng. Denn es gibt eine ganze Reihe von Bedürfnissen,
welche ohne Verwendung äußerer Güter befriedigt werden
können. Sollte aber Schäffle nur diejenigen Bedürfnisse
im Auge gehabt haben, mit welchen sich die Wirtschaftswissenschaft befaßt,
dann ist sie wieder zu weit, denn für diese kommen nur die
zweckbewußten Begehren und nur die wirtschaftlichen, nicht aber auch
die freien Güter in Betracht.
Auf S. 100 sagt Schäffle, daß
„Bedürfnis überhaupt ein Nötighaben und Begehren von
Gütern zur Stillung von Mangel" ist. Da aber „Nötighaben"
nichts anderes als nur ein anderer Ausdruck für die durch das Wort
„Bedürfen" bezeichnete Relation ist, so schrumpft diese Definition
auf den Satz „Bedürfnis ist ein Begehren von Gütern zur Stillung
von Mangel" zusammen, welcher im Zweifel läßt, ob unter dem
[>84] Begehren von Gütern ein Verwendungs- oder ein Verfügungsbegehren
zu verstehen ist, und gegen dessen Bestandteil „Mangel" sich die gleichen
Einwendungen erheben lassen, die in den §§ 96 und 97 angeführt
wurden.
102. Schäffle unterscheidet zwischen
natürlichen
oder physischen und sittlichen Bedürfnissen, doch ist
es nicht klar, was er unter den natürlichen Bedürfnissen verstanden
hat. Wenn er vom natürlichen Nahrungs-, Kleidungs-, Erwärmungs-
und Wohnungsbedürfnis spricht, so sollte man meinen, daß darunter
jene Verwendungsbegehren gemeint sind, deren Ziel die Beseitigung negativer
Wohlfahrtszustände bildet. Aber um einige Zeilen weiter bezeichnet
Schäffle
ausdrücklich als physische oder natürliche Bedürfnisse solche,
welche der Mensch, wie das Tier, instinktmäßig befriedigt, z.
B. das Luftbedürfnis im gewöhnlichen Atmungsprozeß, in
welchem Falle nach unserer Begriffsbestimmung mangels eines Begehrens überhaupt
kein Bedürfnis, kein Verwendungsbegehren vorliegt. Bedürfnisse
dagegen, die mit Selbstbewußtsein, Selbstgefühl und Selbsttätigkeit,
d. h. durch zweckbewußte Handlungen, befriedigt werden, nennt er
sittliche
Bedürfnisse. So werde das Atmungsbedürfnis durch Aufsuchung
von frischer Luft, von Sommerfrischen u. s. w. sittlich gestaltet und geäußert.
Danach wären also alle Bedürfnisse, mit welchen sich die Wirtschaftswissenschaft
zu befassen hat, als sittliche Bedürfnisse anzusehen.
103. Außerdem findet man bei Schäffle
noch mehrere Sätze, in welchen Bedürfnis soviel bedeutet wie
Wohlfahrtszuwachs,
z. B. auf S. 7, 164, 283, wo von einem menschlichen Zweck, bezw. persönlichen
Lebenszweck die Rede ist, -während auf S. 27 (Bedürfnisse des
Familientisches) wohl die bedurften Güter gemeint sind.
104. Schmoller1)
bezeichnet als Bedürfnis „jede mit einer gewissen Regelmäßigkeit
und Dringlichkeit auftretende gewohnheitsmäßige, aus unserem
Seelen- und Körperleben entspringende Notwendigkeit, durch irgend
eine Berührung mit der Außenwelt unsere Unlust zu bannen, unsere
Lust zu mehren." Es ist auf den ersten Blick klar, daß dieser
Bedürfnisbegriff für die Zwecke der Wirtschaftswissenschaft zu
eng ist. Denn entweder müßten alle Handlungen und alle Gegenstände,
welche zur Befriedigung von unregelmäßigen, wenig dringlichen,
vereinzelten Begehren dienen, aus dem Forschungsgebiete der Wirtschaftswissenschaft
ausgeschieden werden oder man müßte neben dem Bedürfnis
noch einen zweiten, ihm koordinierten Begriff aufstellen, auf welchen
zu rekurrieren wäre, um die obigen Handlungen und Gegenstände
als in das Gebiet der [>85] Wirtschaftswissenschaft fallende bezeichnen
zu können. Für welche Alternative sich Schmoller entschieden
hat, konnte ich nicht mit Bestimmtheit konstatieren.
105. Befremdend ist weiter der Ausdruck „eine
mit einer gewissen Regelmäßigkeit und Dringlichkeit auftretende
Notwendigkeit." Es gibt bekanntlich verschiedene Notwendigkeiten: eine
logische, eine kausalgesetzliche, eine moralische oder juristische, aber
jede von ihnen bedeutet eine Beziehung zwischen zwei Begriffen, bezw. Erscheinungen,
die entweder ausnahmslos ist oder doch es sein soll; demnach ist
eine bloß "mit einer gewissen Regelmäßigkeit auftretende
Notwendigkeit", wenn dieser Ausdruck eine logische oder kausalgesetzliche
Beziehung bedeutet, eine contradictio in adjecto; ebenso die bloß
„mit einer gewissen Dringlichkeit auftretende Notwendigkeit", wenn damit
eine moralische oder juristische Notwendigkeit gemeint ist. Damit die hier
besprochene Definition vor dem Richterstuhle der Logik bestehen könnte,
muß man entweder annehmen, daß „Notwendigkeit" nur ein nichtpassender
Ausdruck für die Relation R1 zwischen einer Person und
einem partiellen positiven Wohlfahrtszustand ist, wobei auch zugleich das
Mittel zur Verwirklichung dieses Wohlfahrtszustands (Berührung mit
der Außenwelt) angegeben wird, woraus zu ersehen ist, daß Schmoller
nur an die sogenannten äußeren Bedürfnisse denkt,
oder man muß — und das dürfte vielleicht in Anbetracht dessen,
daß die Wirtschaftswissenschaft es nur mit menschlichen Handlungen
zu tun hat und daß bloße Relationsurteile solche Handlungen
nicht hervorzurufen vermögen, der Intention Schmollers besser
entsprechen — unter Notwendigkeit einen Drang, Impuls verstehen, dessen
Ziel das Bannen von Unlust, das Mehren von Lust ist.
106. Schmoller macht dem gemeinen
Sprachgebrauch die Konzession, daß er „die materiellen oder ideellen
Objekte, die wir benützen, ge- oder verbrauchen, die Verhältnisse,
die ein bestimmtes Verhalten oder Tun ermöglichen, "gleichfalls
Bedürfnis
nennt.
107. In letzter Zeit hat Schwiedland1) die Anregung gemacht, daß man in der Wirtschaftswissenschaft unter Bedürfnis nur „das Streben, einer Unlust zu entrinnen", oder „das Gefühl eines Mangels und das damit verbundene Streben nach Befreiung davon" verstehen soll, während „das Streben Lust zu erreichen, festzuhalten, zu mehren," bezw. „das Streben nach der Stärkung und Festhaltung eines Zustandes" aus dem bisherigen Bedürfnisbegriffe ausgeschieden und als ein selbständiger Begriff unter dem Namen Begier konstituiert werden solle. Diese Unterscheidung, welche die auf die [>86] Beseitigung negativer Wohlfahrtszustände gerichteten Wohlfahrts- und Verwendungsbegehren und -Bedürfnisse einerseits und die auf die Ersetzung positiver Wohlfahrtszustände durch auf der Wohlfahrtsskala des Begehrenden höher stehende Wohlfahrtszustände hinzielenden Wohlfahrts- und Verwendungsbegehren und -Bedürfnisse andererseits auseinanderhalten will, hat, wie wir im fünften und siebenten Kapitel zu sehen Gelegenheit haben werden, für die Wirtschaftswissenschaft eine nicht geringe Bedeutung. Trotzdem können wir uns aber für die Terminologie Schwiedland's nicht entscheiden, und zwar hauptsächlich aus dem Grunde, daß man, nachdem in allen übrigen außer der im § 200 dargelegten Beziehung zwischen beiden Bedürfniskategorien kein Unterschied besteht, in allen jenen Urteilen, die sich auf beiderlei Bedürfnisse beziehen (und diese bilden die bei weitem überwiegende Mehrzahl), den Doppelausdruck „Bedürfnis und Begier" (analog dem Doppelausdruck „Grund und Boden") gebrauchen müßte. Dem Unterschiede, auf welchen oben angespielt wurde, läßt sich aber, wie wir sehen werden, besser durch Vorsetzung verschiedener Bestimmungswörter vor „Bedürfnis" als Grundwort Rechnung tragen.
108. Eine merkwürdige Tatsache ist es,
daß bei Gossen der Ausdruck „Bedürfnis" in dem von anderen
Volkswirtschaftslehrern gebrauchten Sinne nicht vorkommt. An den wenigen
Stellen, wo er den Bedürfnisbegriff meint, bedient er sich der Ausdrücke
„Verlangen nach dem Genusse," „Interesse am Genusse" u. dgl. Die Erklärung
hiefür ist darin zu suchen, daß er die wirtschaftlichen Handlungen
unmittelbar mit den Gefühlen, dem Genusse in Beziehung setzt.
109. Auch bei Jevons 1)
findet man den Ausdruck „want" selten, da er die Ökonomik als
einen „calculus of pleasure and pain" behandelt. über den Inhalt
des Bedürfnisbegriffes scheint Jevons keine klare Ansicht gehabt
zu haben, denn einmal stellt er die Bedürfnisse auf die gleiche Stufe
wie die Begierden („wants and desires"), woraus man schließen könnte,
daß er ähnlich wie Schwiedland darunter eine besondere
Kategorie von Wohlfahrtsbegehren versteht, während er später
die Definition
Courcelle-Seneuils (s. S. 67 Anm.1) ohne Bemerkung
zitiert, nach welcher das Bedürfnis eine Verquickung des Verwendungs-
mit dem Verfügungsbegehren sein soll.
110. Menger gebraucht den Ausdruck
„Bedürfnis" sehr häufig, setzt aber den Begriff des Bedürfnisses
als bekannt voraus. Wenn es gestattet ist, aus dem Zusammenhang der betreffenden
Sätze darauf zu schließen, was dieser Autor unter Bedürfnis
versteht, so kann man sagen, daß sein Bedürfnisbegriff mit unserem
Verwendungsbegehren
oder Verwen-[>87]dungsbedürfnis identisch ist, da man in
den betreffenden Sätzen diese Ausdrücke ohne Änderung des
Sinnes substituieren kann.
111. v. Böhm-Bawerk hat in
den meisten Fällen die v. Hermannsche Definition im
Auge, daher spricht er von den Bedürfnissen bald so, als ob sie
Gefühle, bald so, als ob sie Verwendungsbegehren wären, je nach
dem sich seine Aufmerksamkeit mehr auf den ersten oder auf den zweiten
Bestandteil des v. Hermannschen Bedürfnisbegriffes lenkt. Es
kommen bei diesem Autor aber auch einzelne Stellen vor, wo Bedürfnis
die Relation R3 oder das bedurfte Gut bedeutet.
112. Bei v. Wieser findet man zwei
Ansichten über das Wesen des Bedürfnisses. Im „Ursprung des
Wertes"1) sagt er : „Bedürfen ist das Brauchen
einer Befriedigung, so daß das Ausbleiben der Befriedigung unter
einer stärkeren oder schwächeren Leidempfindung die Erhaltung
des Organismus oder sein Gedeihen stört." Gegen diese Sätze
lassen sich viele Einwendungen erheben: erstens ist Brauchen ein Synonymum
von Bedürfen und Befriedigung bedeutet in der Regel soviel wie Aufhebung,
Beseitigung des Bedürfnisses. Demnach dürfte also der erste Satz
nichts anderes besagen als: „Bedürfen ist das Bedürfen der Aufhebung
eines Bedürfnisses", und wäre somit ein [krepov Tcpckspov].
Weiter ist zu bemerken, daß das Unlustgefühl (Leidempfindung)
in vielen Fällen nicht erst dann eintritt, wenn die Befriedigung des
Bedürfnisses ausbleibt, sondern gleich von dem Momente an, in welchem
das Bedürfnis ins Bewußtsein tritt, besteht.
113. Neben dem Bedürfnis unterschied
damals v. Wieser das Interesse, welches er zwar als eine
mit dem Bedürfnis verbundene, aber von ihm wesentlich verschiedene
Tatsache bezeichnete. Das erstere sei ein Leiden, ein passiver Zustand,
das letztere ein Streben, eine tätige Regung. Interesse haben, heiße:
vom Bedürfnisse wissen und seine Befriedigung wollen.
Mit Rücksicht auf diese Begriffsbestimmung meinte v. Wieser,
daß sich die Wirtschaftswissenschaft nur mit dem Interesse, nicht
aber auch mit dem Bedürfnisse zu befassen habe. Es braucht wohl nicht
bewiesen zu werden, daß diese Terminologie wenig Aussicht auf allgemeine
Anerkennung hätte, da nach dem bisherigen Sprachgebrauche der Wirtschaftswissenschaft
allgemein unter Bedürfnis — wenn auch nicht in den Definitionen, so
doch bei dem tatsächlichen Gebrauch dieses Ausdrucks — in erster Reihe
ein Begehren verstanden wird.
114. v. Wieser dürfte diese seine
Ansicht selbst als unrichtig erkannt haben, denn in seinem späteren
Werke „Der natürliche Wert" 2) sagt er, daß
[>88] nach dem Sprachgebrauche der volkswirtschaftlichen Schriftsteller
Bedürfnis
jedes menschliche Begehren bedeute. Wenn wir diesen Satz streng
nach seinem Wortlaute interpretieren, so müssen wir annehmen, daß
v.
Wieser diesmal unter den Bedürfnissen
zwar alle Woh1fahrts
-, Verwendungs- und Verfügungsbegehren, nicht aber auch die Dispositionen
zu solchen Begehren versteht. Auf solche Weise erscheint der Begriff
der gegenwärtigen Bedürfnisse
über die Gebühr eingeschränkt,
der Begriff der künftigen Bedürfnisse, da zu ihnen auch die Dispositionen
zu Wohlfahrts-, Verwendungs- und Verfügungsbegehren gerechnet werden
müssen, über die Gebühr erweitert.
Die hier besprochene Definition ist aber auf der
andern Seite wieder zu weit, da sie die Wohlfahrtsbegehren, die
für die Wirtschaftswissenschaft, wie wir gezeigt haben, von sehr untergeordneter
Bedeutung sind, mit den Verwendungs- und Verfügungsbegehren auf die
gleiche Stufe stellt. Ja, wenn es gestattet wäre, aus den der Definition
nachfolgenden Beispielen auf die richtige Ansicht v. Wiesers zu
schließen, so müßte man sagen, daß dieser Autor
unter den Bedürfnissen nur die Wohlfahrtsbegehren versteht.
115. Aus einer Stelle im Artikel „Gut"1)
könnte man vermuten, daß v. Wieser noch eine dritte
Ansicht über das Bedürfnis hat, wonach dasselbe als ein Gefüh1
oder als eine Gefühlsvorstellung anzusehen wäre.
116. Sax hat sich über das Wesen
des Bedürfnisses an mehreren Stellen seiner Staatswirtschaft ausgesprochen
, er sucht aber nicht den Begriff des Bedürfnisses im Allgemeinen,
sondern den des ökonomischen Bedürfnisses festzustellen. Unter
letzterem versteht er ein Gefüh1, verbunden mit einem Begehren
nach Gütern, welche in beschränkter Menge vorhanden sind.
Jenes Gefühl, in welchem Sax den Hauptbestandteil der Bedürfniserscheinung
erblickt, soll nach seiner Ansicht bei jenen Personen entstehen, welche
sich dessen bewußt werden, daß zwischen ihnen und gewissen
Gütern die Relation R1 oder R2 besteht — welche
von diesen beiden Relationen Sax im Auge hat, konnte ich nicht feststellen
— und daß diese Güter in beschränkter Menge vorhanden sind.
Es gehört also wie nach v. Hermann so auch nach Sax
zum Begriffe des Bedürfnisses ein Gefühl und ein Mangel, nur
daß der Mangel, dessen Erkenntnis dieses Gefühl begleitet, nicht
wie bei v. Hermann in einem negativen [>89] körperlichen oder
geistigen Wohlfahrtszustand der betreffenden Person, sondern in einer ungenügenden
Quantität der zu verwendenden Güter bestehen sol1.1)
[>90]
117. Es wird kaum jemanden geben, der nachdem
er sich die Ansicht Sax's so zurecht gelegt hätte, dieselbe
für richtig zu erklären vermöchte. Ein Gefühl ist freilich
bei jedem Bedürfnis vorhanden, aber nicht als Folge der Erkenntnis
der unzulänglichen Quantität der zu verwendenden Güter.
Man kann 1000 Zentner Brot in seiner Speisekammer haben und dennoch ein
peinigendes Hungergefühl, mithin ein sehr dringendes Bedürfnis
empfinden, wenn man sich nicht vom Bett rühren kann.
Was Sax von (den wirtschaftlichen) Bedürfnissen
in dieser Beziehung, im Allgemeinen gesagt hat, hat nur für
einen ganz speziellen Teil derselben Gültigkeit, nämlich für
die künftigen Bedürfnisse, indem das Bewußtsein,
seine künftigen Bedürfnisse nicht gedeckt zu haben, tatsächlich
die Ursache für das Entstehen eines unangenehmen Gefühls — der
Sorge, des Kummers — bildet. Für die gegenwärtigen Bedürfnisse
trifft aber die Darstellung Sax's entschieden nicht zu. Aus dem
Satz „Das Übereinstimmende liegt wohl in der Empfindung der Unlust
ob der Hemmung, welche dem Menschen in seinen Bestrebungen durch jene Gebundenheit
an äußere Mittel auferlegt ist," läßt sich erkennen,
daß Sax unter dem Gefühl, welches er für den wesentlichen
Bestandteil der Bedürfniserscheinung hält, ein Unlustgefühl
versteht.
118. Sax spricht sich auch nicht darüber
aus, ob er das „Begehren nach Befriedigung", welches nach ihm einen
untrennbaren Bestandteil der Bedürfniserscheinung bildet, für
ein Wohlfahrts- oder Verwendungs- oder Verfügungsbegehren hält.
Aber mit Rücksicht darauf, daß er das Bewußtsein unserer
Abhängigkeit von der Aufnahme von Luft und Wärme hauptsächlich
aus dem Grunde nicht als ein Bedürfnis anerkennt, weil wir daraus
keinen Impuls zum Handeln schöpfen, und daß er behauptet, daß,
falls die Unbeschränktheit von Luft aufhören würde, die
Erkenntnis dessen einen Impuls zum Erwerb der Verfügungsmacht über
Luft hervorrufen könnte, darf man annehmen, daß das in dem Bedürfnisse
sich äußernde Begehren, welches Sax im Sinne hat, ein
Verfügungsbegehren
ist, was umso wahrscheinlicher erscheint, als er ja nur die ökonomischen
Bedürfnisse berücksichtigt. Ein Wohlfahrtsbegehren kann es schon
deshalb nicht sein, weil er sagt, daß jedes Bedürfnis das Wollen
eines Zweckes, was nichts anderes als ein Wohlfahrtsbegehren ist, und das
Kausalurteil über die Eignung des Befriedigungsmittels zur Erreichung
dieses Zweckes voraussetzt.
119. Neben dem bisher besprochenen Bedürfnisbegriff,
welchen Sax den subjektiven nennt, kennt derselbe noch einen zweiten,
welchen er als den objektiven bezeichnet. Diesen Begriff habe man
im Sinne, wenn man lediglich die Zwecke betrachtet, bezüglich welcher
die Tatsache jener erkannten [>91] Bedingtheit gegenüber der Außenwelt
obwaltet, mit Absehen also von der subjektiven Gestaltung der letzteren.
Kein Zweifel, daß die letztere Bedeutung intendiert sei, könne
dann obwalten, wenn ein Sammelname dem des Begriffes als Bestimmungswort
vorgesetzt oder mittels einer Präposition angefügt ist, wie Nahrungs-,
Kleidungs-, Wohnungsbedürfnis, oder das Bedürfnis nach Schutz,
das Bedürfnis der Bildung etc. Sax meint, daß diese Unterscheidung
sich mit der Unterscheidung zwischen den konkreten Bedürfnissen und
den Bedürfnisgattungen, die bei v. Böhm-Bawerk zu finden
ist, d. h. also mit der Unterscheidung zwischen Bedürfungen oder
Bedürfungsphasen
und Bedürfnisarten decke, während unseres Erachtens das,
was Sax als objektive Bedürfnisse bezeichnet, vielmehr die
Relation R1 oder R2 (§ 76) ist, die
für die Ökonomik ohne alle Bedeutung ist.
120. Pantaleoni 1) definiert das Bedürfnis
als "das Begehren nach der Verfügung über ein Mittel, welches
man für geeignet hält, ein Schmerzgefühl zu beseitigen oder
zu verhindern oder ein Lustgefühl zu erhalten oder hervorzurufen."
Darnach wäre also das Bedürfnis ein Verfügungsbegehren,
aber nicht wie bei
Sax nach beschränkten Mitteln, sondern nach
jedem Mittel ohne Unterschied. Doch ist bei Pantaleoni diese Ansicht
noch nicht fest eingewurzelt, denn etwas später betrachtet er das
Begehren nach der Verfügung (desiderio di disporne) als gleichbedeutend
mit dem Begehren nach der Verwendung (desiderio di servirsene). Die obige
Definition erläuternd, sagt Pantaleoni weiter : „Wenn wir ,sagen,
daß Titius das Bedürfnis zu essen hat, so bedeutet dies, daß
er einen Schmerz fühlt, welchen man Hunger nennt; daß
nach seinem Dafürhalten ein Mittel — nämlich eine Speise — existiert,
um es zu beseitigen, und daß er über dieses Befriedigungsmittel
zu verfügen begehrt." Mit Unrecht werde das Bedürfnis oft mit
dein Schmerzgefühl identifiziert, welches bloß eine seiner Ursachen
bilde; denn damit ein Bedürfnis entstehe, müsse vorher ein, sei
es wirklich gefühlter, sei es vorausgesehener Schmerz vorhanden sein.
Die zweite Ursache bilde die Meinung, daß ein Mittel bestehe, es
zu beseitigen. Aus dem bloßen Schmerzgefühle würde in dem
Falle, wenn man überzeugt wäre, daß man es mit keinem Mittel
beseitigen könne, kein Bedürfnis entstehen. Ebenso dürfe
man nicht die Befriedigung eines Bedürfnisses mit dem Lustgefühle
(oder dem Aufhören des Schmerzes) verwechseln, welches deren Wirkung
sei.
121. Aus den zitierten Sätzen dürfte
zu ersehen sein, daß Pantaleoni wenigstens den einen der zwei
Bedürfnisbegriffe, deren die Wirtschaftswissenschaft bedarf, ziemlich
richtig definiert hat. Als Fehler rechnen wir es ihm an, daß er das
Verfügungsbegehren nicht an dessen unmittelbare Ur-[>92]sache, das
Verwendungsbegehren, sondern an dessen entferntere, für die Wirtschaftswissenschaft
nicht in Betracht kommende Ursache — das Gefühl — knüpft.
122. Sulzer1)
versteht unter einem Bedürfnis „den einzelnen auf das Glück
gerichteten Trieb." Da nach ihm „Glück formell die Erzeugung von
Lustgefühl und die Fernhaltung oder Beseitigung von Unlustgefühl
ist," so hat er so ziemlich denselben Begriff im Sinne, den wir Wohlfahrtsbegehren
genannt haben. Ein Unterschied besteht nur darin, daß wir nur an
Begehren, d. i. an solche Willenserscheinungen denken, welche von dem Bewußtsein
des Zweckes begleitet sind, während nach Sulzer das Bedürfnis
häufig nur in einem instinktiven Triebe besteht, der (recte dessen
Zweck) demjenigen, der ihn fühlt, nicht zum Bewußtsein gelangt.
123. Sulzer unterscheidet zwischen
unmittelbaren
und mittelbaren Bedürfnissen; mit dem ersteren Ausdruck bezeichnet
er den oben dargelegten Begriff, während er unter den mittelbaren
Bedürfnissen die Wünsche der Menschen, die sich auf die Herbeiführung
der Voraussetzungen der Bedürfnisbefriedigung, namentlich der äußeren
Güter beziehen (Bedürfnis nach Wasser, nach Kleidern) versteht.
Es ist nicht klar, ob darunter Verwendungs- oder Verfügungsbegehren
gemeint sind, doch möchten wir das letztere für wahrscheinlicher
halten. Nach dem Dafürhalten
Sulzers kenne die Wissenschaft
nur den Begriff des unmittelbaren Bedürfnisses, was entschieden unrichtig
ist. Die Ausdrücke Nahrungs-, Kleidungs- , Wohnungsbedürfnis
bezeichnen nach ihm die sämtlichen unmittelbaren Bedürfnisse,
die durch Nahrung, Kleidung und Wohnung befriedigt werden. Die Bezeichnung
des äußeren Gutes diene dann als Mittel zur besseren Bestimmung
der unmittelbaren Bedürfnisse. Diese werden dadurch zu spezifizierten
Bedürfnissen. Sulzer kennt nur äußere
Bedürfnisse, d. i. solche, bei welchen es zur Befriedigung der
Einwirkung äußerer Dinge auf den Menschen bedarf.
124. Es dürfte nicht ohne Nutzen sein,
wenn wir noch zum Schlusse des Vergleiches halber anführen, was zwei
philosophische Schriftsteller, nämlich Döring und Kraus,
über das Wesen des Bedürfnisses meinen. Bei Döring2)
sind folgende Sätze zu lesen: „Objektiv betrachtet gibt es eine Mannigfaltigkeit
von Erfordernissen unserer (d. h. der menschlichen) Natur. [>93]bei deren
Vorhandensein der Zustand derselben ein normaler, bei deren Nichtvorhandensein
derselbe ein abnormer ist . . . Sofern nun die Erfordernisse imstande
sind, sich im Bewußtsein, soweit ihnen Genüge geschieht, als
Lust, soweit ihnen nicht Genüge geschieht, als Unlust zu reflektieren,
sind sie Bedürfnisse. Nicht unmittelbar und als solches tritt
das Bedürfnis ins Bewußtsein, sondern nur soweit ihm Befriedigung
zuteil wird, als Lust, soweit nicht, als Unlust. Das Bedürfnis ist
das potentielle Gefühl, das Gefühl als Möglichkeit.
Das
Bedürfnis ist der innere Realgrund des Gefühls, das Gefühl
der Erkenntnisgrund des Bedürfnisses. Das Vorhandensein der Bedürfnisse
als der in Lust und Unlust sich geltend machenden Erfordernisse unserer
Natur wird nicht unmittelbar erkannt, sondern nur durch Rückschluß
vom Gefühl als Wirkung auf das Bedürfnis als Ursache."
125. Wenn es mir gelungen ist, mich in der
verwirrenden Fülle seiner — keineswegs zu den klarsten gehörenden
— Ausdrücke zurecht zu finden, so hat Döring Folgendes
gemeint: Damit wir uns in einem bestimmten Zeitpunkte in einem positiven
Gesamtwohlfahrtszustand befinden, ist es erforderlich, daß sich die
einzelnen Teile unseres körperlichen und geistigen Organismus in gewissen
Zuständen und Verhältnissen befinden. Zu diesem Partialwohlfahrtszuständen
stehen wir in einer gewissen Relation, welche man, wenn deren von uns erkanntes
Vorhandensein mit Lust, deren von uns erkanntes Nichtvorhandensein hingegen
mit Unlust verbunden ist, Bedürfnis nennt.
Die Erkenntnis der Relation zu jenen partiellen
Wohlfahrtszuständen, von welchen der positive oder negative Charakter
des Gesamtwohlfahrtszustandes abhängt, erscheint tatsächlich
in vielen Fällen als „die neutrale Möglichkeit von Lust und Unlust",
als „der an sich noch nicht zum Gefühl erhobene Indifferenzzustand
der entgegengesetzten Gefühle".1) Erst wenn
das Urteil hinzukommt, daß diese partiellen Wohlfahrtszustände
vorhanden oder nicht vorhanden sind, daß also den Erfordernissen
unserer Natur Genüge geschieht oder nicht, reflektieren sich die Erfordernisse
der partiellen Wohlfahrtszustände in unserem Bewußtsein als
Lust oder Unlust.
126. Diese Begrenzung des Bedürfnisbegriffes
paßt aber nur für einen Teil der Bedürfnisse und
Döring2)
gibt selbst zu, daß bei den körperlichen Bedürfnissen „die
Lust und Unlust nicht erst durch Vermittlung des Vorstellens auf Grund
des Bewußtseins vom Vorhandensein oder Fehlen des Erfordernisses
eintritt, sondern unmittelbar körperlich entsteht."
Weiter mußte Döring zugeben, daß
es auch Fälle gibt, in welchen zwar das Bewußtsein, daß
gewisse partielle Wohlfahrtszustände nicht vorhanden sind, mit Unlust,
dagegen aber das Bewußtsein, daß diese partiellen Wohlfahrtszustände
vorhanden sind, mit keinem Gefühl verbunden ist. Mit Rück-[>94]
sicht darauf kann man also nicht so allgemein, wie es Döring
tut, sagen, daß das „Bedürfnis die neutrale Möglichkeit
von Lust und Unlust, das Gefühl im Zustande der Potenzialität"
ist.
127. Döring versteht unter „Befriedigung
des Bedürfnisses" das Vorhandensein gewisser partieller Wohlfahrtszustände.
Eine wohl kaum zu billigende Ausdrucksweise, da das Wort „Befriedigung"
auf einen Trieb hinweist; man wird auch dort, wo er von den Nahrungs- und
Geschlechtsbedürfnissen spricht, mit großer Wahrscheinlichkeit
behaupten dürfen, daß er den Nahrungs- und Geschlechtstrieb
im Sinne gehabt hat.
Erwähnenswert ist, daß Döring
die gleiche Ansicht vertritt, die wir oben (§ 16) angeführt haben
, nämlich daß die Lust- und Schmerzgefühle nicht an und
für sich als Bedürfnisse anzusehen sind, sondern nur den Erkenntnisgrund
dafür bilden, ob objektiv-positive oder objektiv-negative Wohlfahrtszustände
vorliegen.
128. Bei Kraus 1)
findet man folgende Definition des Bedürfnisses : „Jeder Wille,
gerichtet auf Erlangung oder Bewahrung der eigenen Lust oder auf Abwehr
oder Vernichtung der eigenen Unlust ist ein effektives Bedürfnis;
ein latentes Bedürfnis liegt vor, wo der Wunsch deshalb nicht
zum Willen wurde, weil der Bedürfende an seiner Realisierbarkeit verzweifelte."
Diese Definition hat den Mangel, daß durch sie nur zwei Unterarten
des Bedürfnisbegriffes, nicht aber dieser selbst definiert wird. Die
Definition der latenten Bedürfnisse ist überdies zu weit, indem
sie auch solche Fälle umfaßt, wo überhaupt kein Bedürfnis,
also auch nicht ein latentes vorliegt; denn wenn jemand von der Unmöglichkeit
des Eintretens eines vorgestellten Wohlfahrtszustandes überzeugt ist,
kann in ihm kein Begehren sondern nur ein Wunsch entstehen. Im übrigen
deckt sich aber das, was Kraus Bedürfnis nennt, mit dem, was
wir als Wohlfahrtsbegehren bezeichnet haben.
129. Die oben angeführte Definition
bezieht sich nur auf jene Bedürfnisse, die man „egoistische"
zu nennen pflegt und die Kraus als „hedonistische" bezeichnet.
Daneben unterscheidet er aber noch die Klasse der sympathischen
Bedürfnisse, für welche er die folgende Definition aufstellt:
„Jeder Wille, gerichtet auf Verwirklichung und Bewahrung fremder Lust oder
Vernichtung oder Abwehr fremder Unlust ist ein effektives (sympathisches)
Bedürfnis." Aus dieser Definition ist zu ersehen, daß diese
Einteilung vollkommen mit unserer Einteilung der Wohlfahrtsbedürfnisse
in ipsile und alterile
übereinstimmt.
Weiter führt Kraus die Kategorie der
idealen
Bedürfnisse an, welche er (und zwar die effektiven) folgendermaßen
definiert : „Jeder Wille, gerichtet [>95] auf Verwirklichung oder Bewahrung
der Erkenntnis oder auf Vernichtung oder Abwehr des Irrtums ist ein effektives
(ideales) Bedürfnis." Auch diese Klasse, die sich nur als eine besondere
Art der Wohlfahrtsbedürfnisse darstellt, teilt er ein in Eigenbedürfnisse
und
altruistische
Bedürfnisse.
Schließlich führt noch Kraus die
„gewohnheitsmässigen Bedürfnisse" an, die er zu den egoistischen
rechnet. Als Beispiel eines solchen Bedürfnisses wird die Geldgier
des Geizigen angeführt. Dagegen rechnet er die Instinkte nicht
zu den Bedürfnissen.
130. Während der allen bisher angeführten
Definitionen zu Grunde liegende Bedürfnisbegriff sich als ein Wohlfahrtsbegehren
darstellt, wirkt es befremdend, wenn Kraus das künftige
Bedürfnis für ein Bedürfnis, nach den Mitteln zur
Verwirklichung, resp. Abwehr einer zukünftigen Lust, resp. Unlust",
„hervorgerufen durch das Urteil: ein auf Lust oder Unlust gerichtetes Bedürfnis
sei in Zukunft irgendwie wahrscheinlich" erklärt1),
worin ohne Zweifel ein Verfügungsbegehren zu erblicken ist.
Kraus hat also richtig erkannt, daß
zum Entstehen eines Verfügungsbedürfnisses infolge eines künftigen
Bedürfnisses das gewisse oder doch wenigstens wahrscheinliche Urteil
über das zukünftige Eintreten eines solchen Bedürfnisses
erforderlich ist, nur fehlt er insofern, als er dieses letztere Bedürfnis
als ein Wohlfahrtsbegehren hinstellt, während es, wie in den §§
62 und 63 gezeigt wurde, ein Verwendungsbegehren sein muß, und als
er vom „Fühlen" des gegenwärtigen Verfügungsbegehrens
spricht, während zum Entstehen desselben eine bloße Gefühlsvorstellung
hinreicht. Sieht man von diesen minder wesentlichen Ungenauigkeiten ab,
so hat Kraus die Lehre von den allgemeinen Bedürfnissen — nicht
von den wirtschaftlichen — bedeutend gefördert.
Fußnoten
Einträge im Sachregister:
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Wissenschaft site: www.sgipt.org. |
korrigiert: irs Zitate gepfüft: 26.12.2019 / Rechtschreibprüfung, gelesen: 25.12.2019