Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=13.10.2018 Internet Erstausgabe, letzte Änderung: 01.11.18
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel   Stubenlohstr. 20   D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie IP-GIPT1, Abteilung Wissenschaft, Bereich Sprache und Begriffsanalysen und hier speziell zum Thema:

    Begriff, Begriffsanalyse und Gebrauchsbeispiele in der Geschichtswissenschaft

    Originalarbeit von  Rudolf Sponsel, Erlangen

    Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalysen (Überblick).
    Zur Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalyse Begriff.
    Definition Begriff.
    Signierung Begriffe und Begriffsmerkmale (BM).


    Inhaltsverzeichnis

    Quellen und Quellenkritik.
    Nicolai Hartmann: 12. Die Geschichtslogik und ihre Begriffsbildung.
    Nicolai Hartmann: 13. Das Wertproblem in der Geschichtsforschung.
    Wilhelm Dilthey Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften.
    Karl Marx: Religion ist Opium des Volks.
    Ploetz: Das britische Kolonialreich. 
    Aus dem Netz: Ersinnung von Ideologien und Religionen.
    C.F. Weizsäcker über Zeitzeugen, Irrtum, Wahrheit und Luege.
    Hagiographische Fehler.
     



    Quellen und Quellenkritik
    Geschichte ist auf Quellen angewiesen. Aber viele Quellen sind sachlich nicht unbedingt zuverlässig. Deshalb ist Quellenkritik die erste und wichtigste Tugend des Historikers. Die Welt ist voller Fälschungen, Vieldeutigkeiten, Unklarheiten und durch die unterschiedlichsten Interessen beeinflusst und verformt. Dazu gehören auch Quellen, denen man gewöhnlich - oft unkritisch - eine hohe Zuverlässigkeit unterstellt, wie z.B. amtlichen Urkunden. Auch Augen- und  Zeitzeugen  müssen kritisch unter die Lupe genommen werden.



    Aus S.26-29: Hartmann, Nicolai (1962) Das Problem des geistigen Seins, Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. 3. A. Berlin: De Gruyter. Wichtige Begriffe wurden 14p-fett-kursiv gesetzt.

    "12. Die Geschichtslogik und ihre Begriffsbildung (BMDefiniendum)

    Geht man vom geschichtlichen Sein zur Geschichtserkenntnis über, so tritt man aus dem Sonnenlicht der Wirklichkeit in den Schatten der Reflexion. Es ist die Eigenart aller Fragen der Kritik, daß sie vom Gegenstände der Erkenntnis auf diese selbst zurücklenken. So hat es die Kantische Kritik gemacht, aber nur mit der Naturerkenntnis. Das Aufkommen der Geisteswissenschaften und das Aktuellwerden ihrer inneren Methodenschwierigkeiten zog folgerichtig die Kritik der ’historischen Vernunft nach sich. Und es konnte nach dem Scheitern der großen geschichtsmetaphysischen Konstruktionen nicht anders sein, als daß man sich von ihr das Größte versprach. Hatte doch die Kantische Kritik, soweit sie reichte, die theoretische Philosophie aufs nachhaltigste befruchtet. So schien es, man dürfte hoffen, daß ihre Ausdehnung auf historische Erkenntnis diese auf eine neue Basis stellen werde.
        Auf der Höhe des Neukantianismus wurde das Problem spruchreif. Windelband ging 1894 mit der Unterscheidung „nomothetischer” und „ideographischer“ Wissenschaften voran. Die letzteren sind die Geschichtswissenschaften. Sie unterscheiden sich radikal von den Naturwissenschaften dadurch, daß sie nicht auf Allgemeines, nicht auf Gesetze des Wirklichen ausgehen, sondern auf den Einzelfall als solchen, auf das Einmalige und in seiner Art Einzige. Was der Historiker herausarbeitet, ist immer ein Individuelles, einerlei, ob es sich um Personen, Entschlüsse, Taten oder um Völker, Geschehnisse, Kriege, Entwicklungen aller Art handelt.
        Hier setzt ein Problem ein, dessen genauere Herausarbeitung wir Rickert verdanken. Alle Wissenschaft bewegt sich in Begriffen (BMwissen). Begriffe (BMallgB) aber sind ihrer Natur nach Allgemeingebilde; sie sind der extensiv und intensiv unendlichen Wirklichkeit gegenüber jederzeit nur Abbreviaturen. Bei den Gesetzeswissenschaften sind sie in ihrem Element, denn Gesetze sind selbst Allgemeinheiten, in denen von der Fülle des konkreten Falles abgesehen ist. Die naturwissenschaftliche Begriffsbildung (BMNatWis) ist in ihrer Art vorbildlich, aber nicht auf die Geschichte als Erkenntnisgegenstand übertragbar. Hier findet sie ihre Grenze. Der individuelle Gegenstand, wo er streng als solcher verstanden werden soll, verträgt keinerlei Verallgemeinerung. Ja, man könnte hinzufügen: [>27] selbst wenn in der Geschichte Gesetzlichkeiten nicht weniger als in der Natur walten sollten, so bliebe der einzelne Fall doch in Gesetzesbegriffen ungreifbar. Er ist es ja auch in der Natur, nur ist die Naturwissenschaft gleichgültig gegen ihn, ihr kommt es auf das Gesetz an. Der Geschichtswissenschaft aber kommt es auf das Einzelne als solches an.
        Was hier eigentlich erforderlich wäre, das sind individuelle Begriffe (BMeignam). Gerade das aber ist ein Ding der Unmöglichkeit (BMfragl). Begriffe (BMfragl) sind ihrer Natur nach allgemein. Alles Begreifen geht den Weg der Analogie. Es ist immer Begreifen „durch etwas, was man dazu schon haben muß. Wo „reine Verstandesbegriffe” (BMzirtau), wo, Analogien der Erfahrung” vorgegeben sind, da geht das Begreifen seinen eingefahrenen Weg. Wo jeder Gegenstand in sich einzig ist und diese Einzigkeit gerade erfaßt werden soll, da versagt das Begreifen.
        Hier liegt eine Grundschwierigkeit ideographischer Wissenschaft. Man kann ihr freilich mit der Überlegung begegnen, daß Begriffe (BMeignam) eines Individuellen ja nicht individuelle Begriffe (BMunklar) zu sein brauchen. Man kann auch mit Simmel dem Gedanken des „individuellen Gesetzes” in der Geschichte Raum geben und so eine Art Kontinuität zur Gesetzeswissenschaft suchen. Beides aber versagt vollständig, wenn man es methodologisch für die Geschichtswissenschaft verwerten will. Methoden lassen sich nicht konstruktiv vorzeichnen wie Rechenregeln in der exakten Wissenschaft. Der einzige Weg, der sich bisher als gangbar erwiesen, ist von Dilthey beschritten worden. Er verbindet die Idee einer rein beschreibenden Geschichtswissenschaft mit der des „Verstehens” im Gegensatz zum „Begreifen“, — ein Verfahren, das den Begriff (BMkom) nur noch als Verständigungsmittel, gleichsam als notwendiges Übel der Wissenschaft, gelten laßt und dadurch alles Gewicht von der Begriffsbildung (BMBB) auf ein intuitives Verstehen hinüberverlegt, welches in mehr als einer Hinsicht der künstlerischen Schau nahekommt.
        Die Schwierigkeit ist aber auch damit nur praktisch behoben, und überdies nur für den, der im Besitze exzeptioneller historischer Intuitionskraft ist. Eine angebbare Methode, die sich erlernen und anwenden ließe, hat sich daraus nicht machen lassen. Es war nur die eigene persönliche Meisterschaft Diltheys, die solchen Vorgehens mächtig war. [>28]

    13 Das Wertproblem in der Geschichtsforschung

    Eine zweite Erkenntnisschwierigkeit stellt sich bei den Wertgesichtspunkten ein, die der Historiker bewußt oder unbewußt zugrunde legt. Aus dem ungeheuren Tatsachenmaterial, das ihm vorliegt, muß er auswählen, um überhaupt zur Übersicht zu gelangen. Die Auslese aber setzt Gesichtspunkte voraus. Was ist „bedeutsam” und was nicht? Es ist eine wohlbekannte Sache, daß hier sehr mannigfaltige Stellungnahme hineinspielt, die der Historiker aus den Tendenzen seiner Zeit mitbringt. Nach Troeltsch entsteht der „historische Gegenstand“ als umreißbares Etwas überhaupt erst durch eine Zwecksetzung der Forschung „von außen her”. Man braucht also dabei gar nicht erst an die eigentlich tendenziöse Geschichtsdarstellung zu denken. Die Parteinahme des Interesses für bestimmte Seiten des geschichtlich Ganzen und Konkreten hat immer schon über Bedeutsamkeiten entschieden, wo eine Richtung des erkennenden Eindringens sich herausbildet.
        Daß dagegen ein historisches Nüchternheitsideal nur unvollkommen aufkommt, ist a priori leicht zu sehen. Es ist heute eine alte, oft erhobene Forderung, nur „darzustellen, wie es gewesen ist”.’ Man darf an ihrer Ernsthaftigkeit auch nicht zweifeln. Wohl aber an ihrer Durchführbarkeit. Denn die Tatsache einer bestehenden Interessen- und Ausleserichtung kann sie nicht aufheben. Hiergegen schützt auch keine Idee des intuitiven Verstehens, sowenig wie die eines bloß beschreibenden Vorgehens.
        Wohl lassen sich zweierlei Wertgesichtspunkte in genügender Schärfe unterscheiden, der subjektive oder hineingetragene und der objektive, dem Gewicht der geschichtlichen Folgen entnommene. Ob man Alexander, Caesar, Napoleon als Helden ihrer Zeit darstellt, oder als Abenteurer, die von einer Welle der Geschichte hochgetragen sind, wird jederzeit in hohem Grade abhängig sein von Vorliebe, Geschmack, Bewertung menschlicher Größe1). Ob man aber die Bedeutung der Alexanderfeldzüge für die Entfaltung und Eigenart der hellenistischen Welt gelten läßt, ist nicht eine Frage des Geschmacks, sondern einfach des Blickes für geschichtliche Zusammenhänge. Je extremer man die Beispiele [>29] wählt, um so augenfälliger wird der Gegensatz Beider Arten von Wertung.
        Wo aber ist die Grenze zwischen ihnen zu ziehen? Das Tatsachenmaterial der Geschichtswissenschaft bewegt sich gemeinhin nicht in so bequem zugespitzten Fällen. Da verschwimmt alle Begrenzung; die Frage, ob hinter den eingeführten Wertungen wirklich vorhandene Wertqualitäten der Geschichte selbst stehen oder nicht, ist in der Praxis selten eindeutig entscheidbar. Wir haben dafür kein Kriterium, das nicht selbst schon Wertungscharakter trüge und in Wahrheit derselben Frage unterläge.
        Diese Wertungsaporie strahlt in die verschiedensten Sonderfragen aus. Zu den bekanntesten gehört die nach der Periodisierung, sowie die nach dem Aufbau der Geschichtsepochen. Ist hier auszugehen von Völkerindividuen und ihren Lebensperioden? Oder von Geistes- und Ideengeschichte (etwa von Religionsgeschichte, wie in der christlichen Geschichtsschreibung sehr üblich geworden)? Oder von politischem und Kriegsgeschick? Oder von den inneren Verschiebungen der Weltwirtschaft? Ob es Einschnitte gibt, die alles das zugleich betreffen, ist eine Frage, auf die man es hier nicht ankommen lassen kann; denn ohne gewaltsame Deutung hat sie wenig Aussicht auf positive Antwort. Die Konsequenz ist, es kommt auch hier darauf an, welche Schicht geschichtlicher Tatsachen man für die gewichtigste hält. Die Entscheidung wird also immer bei der Bewertung liegen."
     

      1) Man erinnere sich hier an Hegels „psychologischen Kammerdiener“, für den es keine Helden gibt — nicht weil die großen Männer der Geschichte keine Helden wären, sondern weil er der Kammerdiener ist."
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      Kommentar: Geschichte ist eine außerordentlich schwierige und komplizierte Wissenschaft, wovon der Text von Nicolai Hartmann einiges zum Ausdruck bringt, insbesondere der Abschnitt "13 Das Wertproblem in der Geschichtsforschung". Individuelle Begriffe sollten kein grundsätzliches Problem sein. Die Namen zumindest liegen ja durch die Eigennamen bereits vor. Nicht eingeleuchtet hat mir der Gebrauch "reine Verstandesbegriffe".  Begriffe sind immer Produkte des Verstandes. Jeder Begriff ist demnach ein "Verstandesbegriff",  ein "reiner" wie ein unreiner. Die Wortschöpfung erklärt nichts, sondern verwirrt eher.




    Wilhelm Dilthey Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften
    [Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. DB Sonderband: Die digitale Bibliothek der Philosophie, S. 42545 (vgl. Dilthey-Aufbau, S. 87)] Wichtige Begriffe wurden 14p-fett-kursiv gesetzt.

    "5.

        Ich versuche nun die Aufgabe zu bestimmen, welche innerhalb dieser wissenschaftlichen Bewegung die hier vorliegende Untersuchung über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften sich gesetzt hat. Sie schließt sich an den ersten Band meiner Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) an. Diese Arbeit war von der Aufgabe einer Kritik der historischen Vernunft ausgegangen. Sie stellte sich auf die Tatsache der Geisteswissenschaften, wie sie besonders in dem von der historischen Schule geschaffenen Zusammenhang dieser Wissenschaften vorlag, und suchte deren erkenntnistheoretische Begründung. In dieser Begründung setzte sie sich dem Intellektualismus in der damals herrschenden Erkenntnistheorie entgegen. »Mich führte historische wie psychologische Beschäftigung mit dem gan[>139]zen Menschen dahin, diesen in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend, fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (BMerk) (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache (BMBspGeg)) zugrunde zu legen.«11 So waren ihre Ausgangspunkte das Leben und Verstehen (S. 10, 136 f.), das im Leben enthaltene Verhältnis von Wirklichkeit, Wert und Zweck, und sie unternahm, die selbständige Stellung der Geisteswissenschaften den Naturwissenschaften gegenüber darzutun, die Grundzüge des erkenntnistheoretisch-logischen Zusammenhangs in diesem vollständigen Ganzen aufzuzeigen und die Bedeutung der Auffassung des Singulären in der Geschichte zur Geltung zu bringen. Ich versuche jetzt den Standpunkt meines Buches dadurch eingehender zu begründen, daß ich von dem erkenntnistheoretischen Problem aus den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften untersuche. Der Zusammenhang zwischen dem Erkenntnisproblem und diesem Aufbau liegt darin, daß die Analyse dieses Aufbaus auf ein Zusammenwirken von Leistungen führt, welche durch eine solche Zergliederung nun der erkenntnistheoretischen Untersuchung zugänglich werden.
        Ich bezeichne zunächst kurz die Linie, die von dem bisher Erörterten zur Erkenntnis dieses Aufbaus führen soll, um schon hier den Gegensatz im Aufbau von [>140] Natur- und Geisteswissenschaften sichtbar zu machen. Die Tatsache der Geisteswissenschaften, wie sie sich in der Epoche ihrer Konstituierung herausgebildet haben, ist beschrieben worden; es zeigte sich ferner, wie diese Wissenschaften im Erleben und Verstehen begründet sind; so muß von hier aus ihr Aufbau, wie er in jener Tatsache ihrer selbständigen Konstituierung durch die historische Schule enthalten ist, aufgefaßt werden, und damit eröffnet sich der Einblick in die gänzliche Verschiedenheit dieses Aufbaus von dem dargelegten Aufbau der Naturwissenschaften. Die selbständige Eigenheit des Aufbaus der Geisteswissenschaften wird so zum Hauptthema dieser ganzen Arbeit.
        Er geht vom Erlebnis aus, von Realität zu Realität; er ist ein sich immer tiefer Einbohren in die geschichtliche Wirklichkeit, ein immer mehr aus ihr Herausholen, immer weiter sich über sie Verbreiten. Es gibt da keine hypothetischen Annahmen, welche dem Gegebenen etwas unterlegen. Denn das Verstehen dringt in die fremden Lebensäußerungen durch eine Transposition aus der Fülle eigener Erlebnisse. Natur, so sahen wir, ist ein Bestandteil der Geschichte nur in dem, was sie wirkt und wie auf sie gewirkt werden kann. Das eigentliche Reich der Geschichte ist zwar auch ein äußeres; doch die Töne, welche das Musikstück bilden, die Leinwand, auf der gemalt ist, der Gerichts-[>140]saal, in dem Recht gesprochen wird, das Gefängnis, in dem Strafe abgesessen wird, haben nur ihr Material an der Natur; Jede geisteswissenschaftliche Operation dagegen, die mit solchen äußeren Tatbeständen vorgenommen wird, hat es allein mit dem Sinne und der Bedeutung zu tun, die sie durch das Wirken des Geistes erhalten haben; sie dient dem Verstehen, das diese Bedeutung, diesen Sinn in ihnen erfaßt. Und nun gehen wir über das bisher Dargelegte hinaus. Dies Verstehen bezeichnet nicht nur ein eigentümliches methodisches Verhalten, das wir solchen Gegenständen gegenüber einnehmen; es handelt sich nicht nur zwischen Geistes- und Naturwissenschaften um einen Unterschied in der Stellung des Subjekts zum Objekt, um eine Verhaltungsweise, eine Methode, sondern das Verfahren des Verstehens ist sachlich darin begründet, daß das Äußere, das ihren Gegenstand ausmacht, sich von dem Gegenstand der Naturwissenschaften durchaus unterscheidet. Der Geist hat sich in ihnen objektiviert, Zwecke haben sich in ihnen gebildet. Werte sind in ihnen verwirklicht, und eben dies Geistige, das in sie hinein gebildet ist, erfaßt das Verstehen. Ein Lebensverhältnis besteht zwischen mir und ihnen. Ihre Zweckmäßigkeit ist in meiner Zwecksetzung gegründet, ihre Schönheit und Güte in meiner Wertgebung, ihre Verstandesmäßigkeit in meinem Intellekt. Realitäten gehen ferner nicht nur in meinem [>141] Erleben und Verstehen auf: sie bilden den Zusammenhang der Vorstellungswelt, in dem das Außengegebene mit meinem Lebensverlauf verknüpft ist: in dieser Vorstellungswelt lebe ich, und ihre objektive Geltung ist mir durch den beständigen Austausch mit dem Erleben und dem Verstehen anderer selbst garantiert; endlich die Begriffe (BMBverst), die allgemeinen Urteile, die generellen Theorien sind nicht Hypothesen über etwas, auf das wir äußere Eindrücke beziehen, sondern Abkömmlinge von Erleben und Verstehen. Und wie in diesem die Totalität unseres Lebens immer gegenwärtig ist, so klingt die Fülle des Lebens auch in den abstraktesten Sätzen dieser Wissenschaft nach.
        Somit können wir nun das Verhältnis beider Klassen von Wissenschaften und die Grundunterschiede ihres Aufbaus, wie sie bis hierher erkannt sind, zusammenfassen. Die Natur ist die Unterlage der Geisteswissenschaften. Die Natur ist nicht nur der Schauplatz der Geschichte; die physischen Vorgänge, die Notwendigkeiten, welche in ihnen liegen, und die Wirkungen, die von ihnen ausgehen, bilden die Unterlage für alle Verhältnisse, für Tun und Leiden, Aktion und Reaktion in der geschichtlichen Welt, und die physische Welt bildet auch das Material für das ganze Reich, in welchem der Geist seine Zwecke, seine Werte – sein Wesen ausgedrückt hat; auf dieser Grundlage erhebt sich aber nun die Wirklichkeit, in [>142]welche die Geisteswissenschaften von zwei Seiten her immer tiefer sich einbohren – vom Erleben der eigenen Zustände und vom Verstehen des in der Außenwelt objektivierten Geistigen aus. Und damit ist nun der Unterschied beider Arten von Wissenschaften gegeben. In der äußeren Natur wird Zusammenhang in einer Verbindung abstrakterBegriffe (BMabstr) den Erscheinungen untergelegt. Dagegen der Zusammenhang in der geistigen Welt wird erlebt und nachverstanden. Der Zusammenhang der Natur ist abstrakt, der seelische und geschichtliche aber ist lebendig, lebengesättigt. Die Naturwissenschaften ergänzen die Phänomene durch Hinzugedachtes; und wenn die Eigenschaften des organischen Körpers und das Prinzip der Individuation in der organischen Welt bisher solchem Begreifen widerstanden, so ist doch in ihnen das Postulat eines solchen Begreifens immer lebendig, für dessen Verwirklichung ihnen nur kausale Zwischenglieder fehlen; es bleibt ihr Ideal, daß sie gefunden werden müssen, und immer wird die Auffassung, welche in diese Zwischenstufe zwischen der anorganischen Natur und dem Geiste ein neues Erklärungsprinzip einführen will, mit diesem Ideal in ungeschlichtetem Streit sein. Die Geisteswissenschaften ordnen ein, indem sie umgekehrt zu allererst und hauptsächlich die sich unermeßlich ausbreitende menschlich-geschichtlich-gesellschaftliche äußere Wirklichkeit zu-[>143]rückübersetzen in die geistige Lebendigkeit, aus der sie hervorgegangen ist. Dort werden für die Individuation hypothetische Erklärungsgründe aufgesucht, hier dagegen werden in der Lebendigkeit die Ursachen derselben erfahren.
        Hieraus ergibt sich nun die Stellung zur Erkenntnistheorie, welche die nachfolgenden Untersuchungen über den Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften einnehmen werden. Das zentrale Problem der auf die Naturwissenschaften allein bezogenen Erkenntnistheorie liegt in der Fundierung der abstrakten Wahrheiten, des Charakters der Notwendigkeit in ihnen, des Kausalgesetzes und in der Beziehung der Sicherheit der induktiven Schlüsse zu abstrakten Grundlagen derselben. Da nun die auf die Naturwissenschaften gegründete Erkenntnistheorie sich in die verschiedensten Richtungen zersplittert hat, so daß es vielen scheinen möchte, als werde sie das Schicksal der Metaphysik teilen, andererseits aber schon der bisherige Überblick über den Bau der Geisteswissenschaften eine sehr große Verschiedenheit der Stellung des Erkennens zu seinem Gegenstande auf diesem Gebiet erwiesen hat: so scheint zunächst der Fortgang der allgemeinen Erkenntnistheorie davon abhängig, daß sie sich mit den Geisteswissenschaften auseinandersetzt. Dies fordert aber, daß vom erkenntnistheoretischen Problem aus der Aufbau der ge[>143]schichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften studiert werde; dann erst wird die allgemeine Erkenntnistheorie von den Ergebnissen dieses Studiums aus einer Revision unterworfen werden können.[>145]

    III. Allgemeine Sätze über den Zusammenhang der Geisteswissenschaften

        Drei verschiedene Aufgaben hat die Grundlegung der Geisteswissenschaften zu lösen. Sie bestimmt den allgemeinen Charakter des Zusammenhanges, in dem auf diesem Gebiet auf Grund des Gegebenen ein allgemeingültiges Wissen entsteht. Es handelt sich hier um die allgemeine logische Struktur der Geisteswissenschaften.12 Es gilt dann, den Aufbau der geistigen Welt durch die einzelnen Gebiete hindurch aufzuklären, wie er sich in den Geisteswissenschaften durch das Ineinandergreifen ihrer Leistungen vollzieht. Das ist die zweite Aufgabe, und in ihrer Auflösung wird sich dann schrittweise die Methodenlehre der Geisteswissenschaften durch Abstraktion aus ihrem Verfahren selbst ergeben. Endlich fragt sich, welches der Erkenntniswert dieser Leistungen der Geisteswissenschaften sei und in welchem Umfang durch ihr Zusammenwirken ein objektives geisteswissenschaftliches Wissen möglich wird.
        Zwischen den beiden letzten Aufgaben besteht ein näherer innerer Zusammenhang. Die Sonderung der Leistungen macht die Prüfung ihres Erkenntniswertes möglich, und diese zeigt, in welchem Umfang durch sie die geisteswissenschaftliche Wirklichkeit und der [>145] in ihr bestehende reale Zusammenhang ins Wissen erhoben wird: hierdurch wird dann eine selbständige Grundlage der Erkenntnistheorie auf unserem Gebiete gewonnen, und die Aussicht auf einen allgemeinen Zusammenhang der Erkenntnistheorie eröffnet sich, dessen Ausgangspunkt in den Geisteswissenschaften gelegen wäre.
        Der allgemeine Charakter des Zusammenhanges in den Geisteswissenschaften ist also unser nächstes Problem. Der Ausgangspunkt ist die Strukturlehre des gegenständlichen Auffassens im allgemeinen. Sie zeigt in allem Auffassen eine fortschreitende Linie vom Gegebenen zu den Grundverhältnissen der Wirklichkeit, die hinter jenem dem begrifflichen Denken (BMunklar) aufgehen. Dieselben Denkformen und dieselben ihnen untergeordneten Klassen von Denkleistungen ermöglichen in den Naturwissenschaften und den Geisteswissenschaften den wissenschaftlichen Zusammenhang. Von dieser Grundlage aus entstehen dann in der Anwendung jener Denkformen und Denkleistungen aus den besonderen Aufgaben und unter den besonderen Bedingungen der Geisteswissenschaften deren spezifische Methoden. Und da die Aufgaben der Wissenschaften die Methoden für die Lösung hervorrufen, so bilden die einzelnen Verfahrungsweisen einen inneren, vom Zweck des Wissens bedingten Zusammenhang."
    ...

      [Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. DB Sonderband: Die digitale Bibliothek der Philosophie, S. 42624 (vgl. Dilthey-Aufbau, S. 138 ff.)]"


    Karl Marx: Religion ist Opium des Volks
    "Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks (BMBeleg-)."
        Quelle S.: Marx, Karl  (1844) Zur Kritik der Hegel’schen Rechts-Philosophie. In Deutsch-Französische Jahrbücher, herausgegeben von Arnold Ruge & Karl Marx.  [Wikisource, Abruf 13.10.18]
     
      Kommentar: Das geflügelte Wort Marxens ist eine treffliche Hypothese. Aber wie so vieles belegt er diese wichtige Aussage nicht. Das ordentliche wissenschaftliche Arbeiten  hat der Kommunismus nicht erfunden.
         Anmerkung: Wikipedia belegt im  Eingangstext  ihre abenteuerliche These "Häufig wird das Zitat verfälscht in der Version Religion ist Opium für das Volk benutzt." nicht, da wird behauptet und gemeint; hingegen ist der Abschnitt "Herkunft" recht informativ und interessant. Ich sehe keinen wichtigen Bedeutungsunterschied der beiden Formulierungen "Opium für das Volk" gegenüber "Opium des Volks"


    Ploetz: Das britische Kolonialreich

    "8. Die europäischen Kolonialreiche

    a) Das britische Kolonialreich (BMDefiniendum)

    Anlaß und Grundzüge der britischen Kolonisation in Afrika haben in vielem andere Voraussetzungen als die der übrigen europäischen Mächte (BMdiff). Um  die Mitte des 16. Jahrhunderts beginnt England (BMautonS) seine Festlandspolitik aufzugeben (BMBeleg-), sich aktiv in den europäischen Handel einzuschalten und überseeische Stützpunkte zu erwerben, zuerst in Abwehr, dann in Angriff gegen die spanische Seemacht (vgl. S. 890), später gegen die der Holländer (S. 898 f.) (BMBeleg-). Der Aufbau der britischen Überseebesitzungen zeigt weniger ein planmäßiges, von der Regierung gelenktes Vorgehen, sondern mehr ein wechselseitiges Zusammenwirken zwischen der Krone und Kaufmannsgesellschaften, Kapitänen, Siedlern und Abenteurern. Die Navigationsakte (Navigation Acts, S. 898) (BMBeleg+) bestimmen, daß Ein- und Ausfuhr sowie der Schiffsverkehr mit allen Kolonien den Briten vorbehalten bleibt. Wie später Cobden (S. 995) (BMBeleg+) definiert, dürfen die Kolonien „nur nach dem Handelsverkehr, den sie anregen, eingeschätzt werden“; auch die Regierungskosten sollen auf das Konto der Kolonien gehen. Großbritannien neigt also dazu, seinen Kolonien möglichst viel Autonomie zuzugestehen; die Handelskompanien erhalten Privilegien, das Mutterland greift, wenn nötig mit militärischen Demonstrationen ein, um englischen Kaufleuten, Konsuln oder Untertanen Anerkennung zu verschaffen (BMBeleg-).
        Während sich Großbritannien in Amerika und Asien (Indien) flächenmäßig ein riesiges Kolonialreich aufbaut, ist es in Afrika zuerst kaum vertreten. Entscheidend für die britische Afrikapolitik ist der Bau des Sueskanals durch Lesseps (S. 1122): England fürchtet für seinen Weg nach Indien und stellt seine ganze afrikanische Kolonialpolitik auf die Kontrolle Ägyptens und des Niltals ein: das Ziel, ein „Rückgrat vom Kap nach Kairo" zu schaffen, ist damit vorgegeben. (BMBeleg-)"
        Quelle S. 1145: Plötz, Karl (1968) Auszug aus der Geschichte. 27. A. Würzburg: Plötz.
     

      Kommentar brit. Kol.reich  Das ist für mich ein klarer und verständlicher Text, der erst bei genauerer Betrachtung gewisse Mängel zeigt. So kann England (die Krone, die Regierung, das Parlament, alle drei?) nichts aufgeben, da England kein autonom handelndes Subjekt ist. Aber man weiß natürlich, was ungefähr gemeint ist. Es ist eine Zusammenfassung und Auswahl wesentlich erscheinender Ereignisse und Faktoren, die aber nicht belegt werden, auch nicht mit Beleghinweisen, obwohl ich nicht zweifle, dass es sich belegen lässt. DER Plötz, an dem zig. Historiker mitarbeiten, ist eine Autorität und man glaubt ihm, wahrscheinlich berechtigt. Meine Frau erinnert sich an ihre Geschichtsprofessorin (Mittelalter), die sagte: "Plötz ist zum informieren, nicht zum Zitieren". Trotzdem, die verständlichen Behauptungen hängen in der Luft. Der Hinweis auf die Navigationsakte wie der auf Cobden sind aber Belege, wenn man auch bedenken muss, dass sich viele Herrscher und Regierungen nicht an Verträge halten, früher nicht wie leider auch heute noch (> Unrecht im Namen des Rechts; > Machiavelli; > Ephoren; ). Das internationale Recht ist weitgehend zahnlos. Es gilt weitgehend das "Naturrecht" der Macht und des Stärkeren.




    Aus dem Netz
     
      Ersinnung von Ideologien und Religionen
      "Die Ersinnung von Ideologien und Religionen sind somit das historische Produkt der jeweils Herrschenden zur Festigung ihrer Macht durch eine Überschuss erzeugende Produktionsweise (BMBeleg-), (BMfragl) und zur Legitimation der Produktionsverhältnisse durch das beruhigte Volk, welches sich durch die Beibehaltung der Produktionsweise und -verhältnisse ein besseres Leben erhofft (BMBeleg-), (BMfragl). Neben Schreiben und Erfinden ermöglichten die landwirtschaftlichen Überschüsse auch den Unterhalt von Politikern und Wissenschaft und die Ersinnung ihrer Ideologie. (BMBeleg-), (BMfragl)"
          Quelle: Hartmut Plötz – Historische Entwicklung der Mobilität [Internetseite, Abruf 13.10.18]
       
        Kommentar:  Es fehlen durchweg Belege oder Beleghinweise. Zunächst einmal ist nicht klar, weshalb die Ersinnung von Ideologie und Religionen zur Festigung der Macht der Herrschenden durch einen Überschuss von Produkten zustande kommen soll. Plausibler scheint mir die Hypothese, dass Ideologien zur Festigung der Macht erfunden und Religionen hierfür instrumentalisiert wurden. Dass die landwirtschaftlichen Überschüsse Schreiben und Erfinden möglich gemacht haben sollen wäre auch zu belegen.



    Zeitzeugen
    Zeitzeugen sind ein sehr interessantes und wichtiges Thema für die Geschichte. Einige Probleme findet man im Abschnitt "Die Rolle von Zeitzeugen" im Buch "Bewusstseinswandel" von Carl Friedrich von Weizsäcker angesprochen. Wichtige Begriffe wurden 14p-fett-kursiv gesetzt.

    Carl Friedrich von Weizsäcker: Der Verfasser als Zeitzeuge.
    Aus S. 303f: Weizsäcker, Carl Friedrich von (1991) Der Verfasser als Zeitzeuge. In (303-430) Bewußtseinswandel. München: dtv.
     

      Sechstes Kapitel: DerVerfasser als Zeitzeuge ... 301
      1. Die Rolle des Zeitzeugen ... 303
      2. Ein Gespräch. Interview mit Erwin Koller (1986) ... 307
      3. Deutsche Erinnerungen 1915-1945 (1987) ... 341
      4. Selbstgespräch (1985) ... 354
      5. Die Atomwaffe. Interview mit H. Jaenecke (1984) ... 362
      6. Nachtrag zum Gespräch zwischen Niels Bohr und Werner Heisenberg 1941 (1987) ... 377
      7. Göttinger Erklärung (1957) ... 384
      8. Gespräch zur Göttinger Erklärung. Interview mit Robert Gerwin (1987) ... 387
      9. Rückblick auf das Verhalten zur Atomwaffe ... 398
      10. Die Krankheit der Kirche? (1957) ... 403
      11. Universität und Gesellschaft (1980) ... 409
      12. Fronleichnam 1985 ... 419
      13. Wohin fliegt die Rakete der Menschheit? (1986) ... 425
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    "1. Die Rolle des Zeitzeugen
    Das Wort »Zeitzeuge« habe ich erst vor wenigen Jahren kennengelernt, als einen Fachausdruck der Historiker, die über Ereignisse unseres Jahrhunderts arbeiten. Normalerweise ist die Geschichtswissenschaft auf - meist schriftliche - Dokumente der Vergangenheit angewiesen. Über Ereignisse, die nur wenige Jahrzehnte zurückliegen, kann sie aber auch noch lebende Personen als Zeugen befragen. In einem weiteren Sinne ist natürlich jeder Autor, der über Selbsterlebtes geschrieben hat, ein Zeuge seiner Zeit. Als »Zeitgeschichte« bezeichnet man heute meist die Geschichte unserer eigenen Zeit, also ungefähr der Zeit, für die es unter anderem auch noch lebende Zeugen gibt . Die Quantität des sei es wissenschaftlich, sei es journalistisch aufbereiteten zeitgeschichtlichen Interesses hat, soweit ich wahrnehmen kann, im letzten Jahrzehnt zugenommen. Die Qualität der erzielten Ergebnisse ist sehr unterschiedlich. Das darf uns nicht wundern.
        Geschichte zu erforschen, zumal politische Geschichte, ist eine der schwierigsten intellektuellen Aufgaben. Ganz roh kann man zwei Quellen dieser Schwierigkeit umschreiben: die Komplikation und die bewußte oder unbewußte Stilisierung oder Lüge  in den Quellen und in ihrer Deutung.
        Die Komplikation: Informationstheoretisch kann man sagen, daß eine Botschaft nur dann korrekt aufgenommen werden kann, wenn der Empfänger wenigstens etwa über denselben Komplikationsgrad verfügt wie der Sender. Sei die »Botschaft« ein politisches Dokument der Vergangenheit, z. B. eine politische Rede, eine diplomatische Note, ein militärischer Befehl, eine Meldung, eine Aktennotiz. »Empfänger« der Botschaft ist der heutige Historiker, der aus der Botschaft die realen Vorgänge rekonstruieren will, deren Zeuge er nicht war. Der ursprüngliche Zweck des politischen Dokuments war aber nicht, dem späteren Historiker eine Mitteilung zu machen, sondern Zeitgenossen [>304] zu einer Handlung zu bewegen. Das Dokument war, als es entstand, nicht eine Tatsachenfeststellung, selbst wenn es die Form einer solchen hatte, sondern es war selbst eine Handlung, als solche auf Wahrnehmungen basierend, mit Affekten verbunden. Dieses Gefüge muß der Historiker überblicken; nicht nur beim Verfasser des Dokuments, sondern auch beim damaligen Empfänger des Dokuments, auf den zu wirken es bestimmt war.
       Stilisierung und Lüge: Eine vollkommen wahrhaftige Aussage ist in der Politik die Ausnahme. Man analysiere einmal eine Parlamentsrede, einen Zeitungsartikel unter diesem Gesichtspunkt. In einem diktatorischen Regime, wird es sogar lebensgefährlich, seine wahre Meinung zu sagen. Ich wiederhole hier mein subjektives Werturteil: Ich kann den bewußten Lügner höher achten als den, der sich; selbst belügt. »Bewußtsein ist ein unbewußter Akt«: unser bewußtes Handeln und Reden wird von unbewußten Motiven mitbestimmt, und oft von solchen, deren wir uns allerdings bewußt sein könnten, die nicht anzuschauen uns aber sehr viel angenehmer ist.
        Natürlich ist der Zeitzeuge in genau derselben Lage wie das historische Dokument. Auch er kann nur verstanden werden, wenn er etwa auf dem ihm selbst verfügbaren Niveau befragt wird. Auch er hat, zumal wenn er an den Handlungen aktiv teilgenommen hat, fast immer etwas zu verbergen, sei es vor dem Frager, sei es vor seinem eigenen bewußten Erinnerungsvermögen. Wenn ich einen Historiker sagen höre: »Zeitzeugen  lügen«, so fürchte ich, daß er weitgehend recht hat. Nur sind Dokumente nicht besser? Auch sie lügen. Und sie sind insofern in einer schlechteren Lage als der lebende Zeitzeuge, als sie sich nicht wehren können, wenn der Historiker sie falsch interpretiert.
        Schließlich ist der Historiker selbst oft die Quelle des Irrtums. Sein Standesethos gebietet ihm, nicht bewußt zu lügen. Da er aber genau dieselben Motive zur Vereinfachung, zur Stilisierung, zur Unwahrheit  angesichts unerwünschter Befunde hat, ist für ihn die Versuchung der Selbsttäuschung sogar besonders groß. Das Motiv der Selbsttäuschung kann dabei politische Sympathie oder Antipathie sein, aber auch der erhoffte Erfolg einer These in der Zunft oder in der Öffentlichkeit und die Verteidigung eines einmal begangenen Irrtums. Aus vielfachen Erfahrungen dieser Art hat sich mir eine Gewohnheit herausgebildet: Ich nehme eine spezielle Sachmeinung eines Autors oder eines Gesprächspartners um so ernster, je weniger ich sie aus meiner Kenntnis seiner Person, seiner Gesamteinstellung heraus habe Vorhersagen können.
        Hat man all dies im Auge, so ist die Rolle, als Zeitzeuge nicht sehr angenehm. Gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen ist sehr häufig ein Rollenspiel; und für denjenigen, der gerne wahrhaftig oder wenigstens spontan wäre, ist die Rolle, die er jeweils zu spielen hat, oft ein schneidender Schmerz. Es ist tief schmerzhaft, aber belehrend, sich selbst beim Stilisieren, beim Lügen zu ertappen. Es ist schmerzhaft, wenn eine Wahrheit, für die man einstehen kann, nicht geglaubt wird, zumal wenn es dabei um den guten Ruf eines Dritten geht. Es ist verzweiflungsvoll, wie weit herrschende Urteile oft von den realen Tatsachen abweichen, so, daß die Belehrung der Irrenden aussichtslos scheint. Verzweiflungsvoll zumal, wo das richtige Handeln für die Zukunft auch von der richtigen Erkenntnis der Vergangenheit und der Gegenwart abhängt. Schließlich ist es zum mindesten ein wenig peinlich, eine private Erforschung der eigenen Motive, die wohl nie ohne eine gewisse Egozentrik ist, öffentlich darzulegen. Und doch ist dies, wie ich erfahren habe, gelegentlich nötig, wenn man verstanden werden und dadurch Glauben finden will.
        Die nachfolgenden Texte sind von viererlei Natur:
    a. Erbetene Interviews oder öffentliche Referate,
    b. Texte, die ich zur eigenen Gedankenklärung oder Erinnerung in konkreten Situationen niedergeschrieben habe,
    c. Notizen zur eigenen Gewissens- oder Motiverforschung,
    d. für das jetzige Buch verfaßte erläuternde Texte. [>306]
        Vom Typ a sind die Abschnitte 2, 3, 5, 7, 8, 11; vom Typ b sind 6, 10, 12; vom Typ c sind 4 und 13; vom Typ d sind 1 und 9.
        Thematisch gehe ich in folgender Reihenfolge vor. Die Abschnitte  2 bis 4 gehen einmal von außen nach innen. Abschnitt 2 ist ein umfassendes Interview, in dem ich Gelegenheit hatte, meine Erfahrungen, Ansichten und Motive plausibel zu machen. Abschnitt 3 soll, in bewußter Zeitzeugen-Rolle, Jüngeren unserer Tage andeuten, durch welche Erlebnisse meine Generation in Deutschland gegangen ist. Abschnitt 4 ist Teil einer umfassenden persönlichen Gewissenserforschung. Die Abschnitte 5 bis 9 betreffen meine Beteiligung am Problem der Atomwaffen. Abschnitt 11 ist ein Rückblick auf meine Erfahrungen in der Universität. Die Abschnitte 10 und 12 stammen aus zwei Reflexionen auf meine Erfahrungen mit der Kirche, die um drei Jahrzehnte voneinander getrennt sind; naiv 1957, weniger naiv 1985. Abschnitt 13 spiegelt meine Empfindungen über die Weltpolitik unseres Jahrhunderts. "
     
      Kommentar CFvW Der Text ist weitgehend verständlich und enthält eine Reihe von Begriffen oder Themen (fett-kursiv 14p), bei denen sich die Frage stellen kann: sind sie hinreichend bestimmt, klar und erklärt?
      Zeitzeugenaussagen können zweierlei bedeuten: unmittelbare, direkte Wahrnehmungen oder mittelbare Informationen aus anderen Quellen (Berichte von anderen). Beide Informationsvarianten sollten sorgfältig auseinander gehalten werden, wie es die JuristInnen tun. Sie unterscheiden im Recht sehr schön zwischen Zeugenaussage vom Hörensagen und aus eigenen Wahrnehmungen heraus. Darüber hinaus verlangen sie, dass nichts weggelassen oder hinzugefügt werden darf. Diese wichtigen Gesichtspunkte erörtert von Weizsäcker im Abschnitt Die Rolle des Zeitzeugen nicht.
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    Hagiographische Fehler
    Hagiographie: Ursprünglich Beschreibung und Biographie der Heiligen. Übertragen: Übertrieben, einseitige oder falsch positive Darstellungen.

    Hagiographie der Kultur der alten Griechen
    Die Kultur der alten Griechen wird in Deutschland meist falsch hagiographisch dargestellt, was auf den hauptsächlich auf den "Humanismus", "Klassizismus"  und deutschen Idealismus zurückgeht (z.B. Schleiermacher, Humboldt, Schlegel, Winckelmann, ...). Zwar ist unbestritten, dass die "alten Griechen" kulturelle, wissenschaftliche und geistesgeschichtliche Höchstleistungen vollbracht haben, die man aber auch kritisch sehen kann und muss (Platons Ideenlehre). Hinzu kommen die inhumanen Fehlhaltungen der alten Griechen: angebliche Demokratie, Sklavenhalterwirtschaft, Auserwählt-Faschismus (Aristelese) gegenüberr den "Barbaren", Frauenrechte, Kindesmissbrauch. An dieser Stelle ist also zu sagen, dass ein falscher Begriff der altgriechischen Kultur vermittelt wird.  
     

      Querverweise Griechenland in der IP-GIPT:
      • Alexander der Große.
      • Das Schuldenporttät Griechenland.
      • Ephoren und Ephorat.
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    Literatur  > Hauptseite.
    • Brandt, A. von (1973) Werkzeug des Historikers. 7. A. Stuttgart: Kohlhammer.
    • Dilthey, Wilhelm (1910) Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch- Historische Klasse, Jg. 1910, Berlin 1910, S. 1-123.
    • Hartmann, Nicolai (1962) Das Problem des geistigen Seins, Untersuchungen zur Grundlegung der Geschichtsphilosophie und der Geisteswissenschaften. 3. A. Berlin: De Gruyter.
    • Kühnl, Reinhard (1978, Hrsg.) Geschichte und Ideologie. Kritische Analyse bundesdeutscher Geschichtsbücher. Reinbek: Hamburg.
    • Plötz, Hartmut  – Historische Entwicklung der Mobilität [Internetseite, Abruf 13.10.18]
    • Weizsäcker, Carl Friedrich (1991) Bewußtseinswandel. München: dtv.
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    Links > Hauptseite.



    Glossar, Anmerkungen und Fußnoten  > Eigener wissenschaftlicher Standort.
    1) GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    reine Verstandesbegriffe
    Begriffe sind immer Produkte des Verstandes. Jeder Begriff ist demnach ein "Verstandesbegriff", ein "reiner" wie ein unreiner. Die Wortschöpfung erklärt nichts, sondern verwirrt eher.
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    Querverweise > Links.
    Standort: Begriffsanalysen in der Geschichtswissenschaft
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    Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalysen (Überblick).
    Zur Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalyse Begriff.
    Definition Begriff.
    Signierung Begriffe und Begriffsmerkmale (BM).
    Überblick Arbeiten zur Theorie, Definitionslehre, Methodologie, Meßproblematik, Statistik und Wissenschaftstheorie besonders in Psychologie, Psychotherapie und Psychotherapieforschung.
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    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site: www.sgipt.org
    z.B. Wissenschaft site: www.sgipt.org. 
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    Dienstleistungs-Info.
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    Zitierung
    Sponsel, R.  (DAS). Begriff, Begriffsanalyse und Gebrauchsbeispiele in der Geschichtswissenschaft. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen:  https://www.sgipt.org/wisms/sprache/BegrAna/BABegriff/BA_Histor.htm
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    korrigiert: irs 15./16.10.2018



    Änderungen Kleinere Änderungen werden nicht extra ausgewiesen; wird gelegentlich überarbeitet und ergänzt.
    01.11.18   Hagiographische Fehler.
    21.10.18   Quellen.
    16.10.18   Korrigiert
    15.10.18   Abschnitt Zeitzeugen ergänzt.
    13.10.18   Erstmals ins Netz gestellt.
    19.09.18   als eigene Seite neu angelegt.