"Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie"
Brisch, Karl Heinz (1999).
Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart:
Klett-Cotta. 309 Seiten, mit Register. DM 58.-
Zum Autor: Karl Heinz Brisch ist Psychiater, Neurologe, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker. Er arbeitete als Oberarzt in der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatische Medizin und leitete die Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm. Dozent am Psychoanalytischen Institut der "Stuttgarter Gruppe". Zur Zeit ltd. Arzt der Kinderpsychosomatik an der LMU München. |
Engagierte Rezension in 8 Teilen von Rudolf Sponsel, Erlangen (Eingang 9.9.2000)
Die Bindungstheorie ist eine der bedeutungsvollsten entwicklungspsychologischen Errungenschaften der letzten 50 Jahre (John Bowlby [1907-1990], oft grundlegend falsch verstanden; Mary Ainsworth und die deutsche Forschungsgruppe Grossmann, Regensburg; und viele andere neben diesen großen drei Namen) mit großer Bedeutung für die differentielle Psychologie der Persönlichkeit, für die Sozialpsychologie zwischenmenschlicher Beziehungen (Freundschaften, Partnerschaft, Liebe und Familie) und für die klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie. Besondere Anwendungen ergeben sich für familienrechtspsychologische Fragestellungen (Sorge, Umgang, Pflege und Adoption, das elterliche Entfremdungssyndrom ["PAS"]) und auch für die Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen.
Die Besprechung, Beurteilung und Bewertung erfolgt aus der Perspektive allgemeiner und integrativer Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie. Meinen grundlegenden Standpunkt zu den Problemen des Bindungskonzeptes, seiner Operationalisierung und "Messung" habe ich vor Jahren ausgeführt [hier].
Auf grundlegende Probleme der Bindungsforschung und Bindungstheorie und ihre teils einseitige bis fragwürdige und schulenspezifische Auslegung wird kritisch eingegangen.
Teil
1: Die Bindungstheorie und ihre Konzepte
Historischer Überblick 29
Entwicklung der bindungstheoretischen Konzepte 35
Grundannahmen der Bindungstheorie 35
Konzept der
Feinfühligkeit 40
Konzept der kindlichen Bindungsqualität 44
Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität
46
Konzept der Bindungsrepräsentation 50
Bindung zwischen den Generationen und im Verlauf
des Lebens 54
Bedeutung von Schutz- und Risikofaktoren 58
Bindung und Trennung in anderen psychotherapeutischen
Schulen 61
Teil 2: Bindungsstörungen
Bindung und Psychopathologie
75
Theorie der Bindungsstörung
77
Bindungsklassifikation
in diagnostischen Manualen 80
Diagnostik
und Typologie von Bindungsstörungen 83
Keine
Anzeichen von Bindungsverhalten 83
Undifferenziertes
Bindungsverhalten 84
Übersteigertes
Bindungsverhalten 86
Gehemmtes
Bindungsverhalten 87
Aggressives
Bindungsverhalten 87.
Bindungsverhalten
mit Rollenumkehrung 88
Psychosomatische
Symptomatik 89
[Ohne Überschrift Bemerkungen
zur Erwachsenentherapie S. 90-91]
Teil 3 Bindungstherapie
Theorie der Therapie 93
Technik der Behandlung 96
Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von
Erwachsenen 96
Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von
Kindern und Jugendlichen 100
Spezielle Gesichtspunkte 103
Teil 4 Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis
Präkonzeptionelle Bindungsstörung 107
Der unerfüllt Schwangerschaftswunsch - Bindungsangst
vor dem phantasierten Kind 107
Pränatale Bindungsstörung 116
Angst der Schwangeren vor der Lösung der Bindung
durch die bevorstehende Geburt 116
Schwangerschaftskomplikationen und Risikoschwangerschaft
123
Pränatale Fehlbildungsdiagnostik 129
Postnatale Bindungsstörung 136
Postpartal depressive Mutter 136
Postnatal psychotische Mutter 142
Trauma der Frühgeburt 149
Bindungsstörungen im Kleinkindalter 152
Keine Anzeichen von Bindungsverhalten 153
Undifferenziertes Bindungsverhalten 160
Soziale Promiskaität
160
Unfall-Risiko-Verhalten
163
Übersteigertes Bindungsverhalten 165
Exzessives Klammern
165
Übermäßige
Anpassung 171
Aggressive Symptomatik
173
Rollenumkehr 176
Psychosomatische Symptomatik 179
Wachstumsretardierung 179
Eßstörung 183
Bindungsstörungen im Schulalter 187
Schulangst 188
Leistungsverweigerung 194
Aggressivität 198
Bindungsstörungen in der Adoleszenz 202
Suchtsymptomatik 202
Dissozialität und Delinauenz 208
Neurodermitis 214
Bindungsstörungen bei Erwachsenen 224
Angst-, Panik- und Agoraphobie-Symptomatik 224
Depressive Symptomatik 234
Narzißtische Symptomatik 240
Borderline-Symptomatik 247
Psychotische Symptomatik 254
Altersdepression 259
Zusammenfassende Bemerkungen 264
Teil 5: Ausblick auf weitere Anwendungsgebiete der Bindungstheorie
Prävention 267
Familientherapie 272
Gruppenpsychotherapie 274
Padagogik 275
Kritischer Ausblick 276
Anhang
Fragen des Adult-Attachment-Interviews 281
Anmerkungen 287
Bibliographie 292
Register 307
Angesichts der Bedeutung, die der Arzt, Psychoanalytiker und spätere medizinische Entwicklungspsycholge John Bowlby für die Bindungsforschung hat, beginnen wir den 1. Teil mit einer Würdigung seiner Leistungen und einer kurzen Fachbiographie und folgen hierbei den Ausführungen Karl-Heinz Brisch. Damit wird auch ein wichtiges Stück Psychoanalysegeschichte geschrieben, die - durch Bowlbys Arbeit - auch zeigt, wie die Psychoanalyse in die Wissenschaft integriert werden kann.
Interner Link Zur Würdigung John Bowlbys nach Brisch
Der Autor entfaltet sodann die Grundlagen und (psychoanalytische) Geschichte der Bindungstheorie und wirft auch einen Blick über den Zaun bis hin zu Grawe (1998).
"Entwicklung
der bindungstheoretischen Konzepte {EN03}
Grundannahmen der Bindungstheorie
Definition
von Bindung und Bindungstheorie
Bowlby betrachtet Mutter und Säugling als Teilnehmer in einem
sich wechselseitig bedingenden und selbstregulierenden System. Die Bindung
zwischen Mutter und Kind innerhalb dieses Systems unterscheidet sich von
"Beziehung" dadurch, daß "Bindung" lediglich als ein Teil des komplexen
Systems der Beziehung verstanden wird. {EN04}
Die Bindungstheorie verbindet ethologisches, entwicklungspsychologisches,
systemisches und psychoanalytisches Denken. In ihren Annahmen befaßt
sie sich mit den grundlegenden frühen Einflüssen auf die emotionale
Entwicklung des Kindes und versucht, die Entstehung und Veränderung
von starken gefühlsmäßigen Bindungen zwischen Individuen
im gesamten menschlichen Lebenslauf zu erklären.
Das Bindungssystem
Nach Bowlby stellt das Bindungssystem ein primäres, genetisch
verankertes motivationales System dar, das zwischen der primären Bezugs{S.
35}person {EN05} und dem Säugling
in gewisser biologischer Präformiertheit nach der Geburt aktiviert
wird und überlebenssichernde Funktion hat. Der Säugling sucht
besonders dann die Nähe zu seiner Mutter, wenn Angst erlebt. Dies
kann etwa der Fall sein, wenn er sich von seiner Mutter getrennt fühlt,
unbekannte Situationen oder die Anwesenheit emder Menschen als bedrohlich
erlebt, wenn er etwa an körperlichen chmerzen leidet oder sich in
Alpträumen von seinen Phantasien überwältigt fühlt.
Er erhofft sich von der Nähe zu seiner Mutter Sicherheit, Schutz und
Geborgenheit. Das Nähesuchen wird durch Blickkontakt zur Mutter, aber
auch besonders durch Nachfolgen und Herstellen von örperlichem Kontakt
mit der Mutter erreicht. Dabei ist das Kind immer in aktiver Interaktionspartner,
der seinerseits signalisiert, wann Bedürfnisse nach Nähe und
Schutz auftauchen und befriedigt werden vollen.
Feinfühligkeit
und Bindungsqualität
'Feinfühliges Verhalten' der Bezugsperson besteht darin, daß
diese in der Lage ist, die Signale des Kindes wahrzunehmen (z. B. sein
Weinen), sie richtig zu interpretieren (z. B. als Suche nach Nähe
und Körperkontakt) und sie auch angemessen und prompt zu befriedigen.
Dies geschieht in den vielfältigen alltäglichen Interaktionen
unzählige Male. {EN06}
Der Säugling entwickelt häufiger zu derjenigen Bezugsperson
eine sichere Bindung, die durch ihr Pflegeverhalten seine Bedürfnisse
feinfühlig in der oben beschriebenen Art und Weise befriedigt. Werden
dagegen die Bedürfnisse in den Interaktionen mit der Bezugsperson
gar nicht, nur unzureichend oder inkonsistent - etwa in einem für
den Säugling nicht vorhersagbaren Wechsel zwischen Verwöhnung
oder Überstimulation und zu großer frustrierender Versagung
- beantwortet, entwickelt sich häufiger eine unsichere Bindung.
Hierarchie der Bindungspersonen
Ist die Hauptbezugsperson bei drohender Gefahr nicht anwesend oder
wird das Kind von ihr getrennt, reagiert es mit Kummer, Weinen, Wut und
begibt sich aktiv auf die Suche nach seiner Bindungsperson. Der Säugling
bildet im Laufe des ersten Lebensjahres eine Hierarchie von verschiedenen
Bezugspersonen aus, die entsprechend ihrer Verfügbarkeit und dem Ausmaß
der erlebten Trennungsangst in einer bestimmten Rangfolge vom Kind aufgesucht
werden. Ist zum Beispiel die Mutter als primäre Bezugsperson bei drohender
Gefahr nicht erreichbar, dann {S. 36} kann das Kind auf eine sekundäre
Bezugsperson (z. B. den Vater) zur emotionalen Versicherung zurückgreifen.
Je größer der Schmerz oder die Angst - etwa bei einer gefährlichen
Verletzung oder bei einer schwerwiegenden Erkrankung -, desto eindringlicher
und kompromißloser wird das Kind auf der Anwesenheit der primären
Bindungsperson bestehen und sich nicht durch seine sekundäre Bezugsperson
trösten lassen.
Innere Arbeitsmodelle
Aus vielen Interaktionserlebnissen, in denen sich Mutter und Säugling
voneinander trennten und auch wieder Nähe zueinander herstellten,
bildet der Säugling im Laufe des ersten Lebensjahres innere Modelle
des Verhaltens und der damit verbundenen Affekte von sich und der Mutter
aus, sogenannte "innere Arbeitsmodelle" ("inner working models"; {EN07}
Bowlby, 1975; Main, Kaplan & Cassidy, 1985). Diese Modelle machen das
Verhalten der Bezugsperson und des Kindes in Bindungssituationen vorhersagbar.
Das Kind lernt im Laufe des ersten Lebensjahres: Wenn ich in Gefahr gerate,
weine und meine Bezugsperson als meine emotional sichere Basis - quasi
als "Heimathafen" - aufsuche, wird diese mir zur Verfügung stehen
und meine Bindungsbedürfnisse mit einer bestimmten charakteristischen
Nähe oder Distanz sowie einem umfassenden Verhaltensrepertoire beantworten.
Für jede einzelne Bezugsperson, etwa für Mutter und Vater getrennt,
werden eigenständige unterschiedliche Arbeitsmodelle entwickelt.
Ein solches Arbeitsmodell ist anfangs noch flexibel, im weiteren Verlauf
der Entwicklung wird es zunehmend stabiler und entwickelt sich zu einer
psychischen Repräsentanz, der sogenannten ,Bindungsrepräsentation’.
Arbeitsmodelle und Repräsentationen können teils bewußt,
teils unbewußt sein. Man kann sich leicht vorstellen, daß eine
sichere, stabile Bindungsrepräsentation Teil der psychischen Struktur
wird und damit auch zur psychischen Stabilität beiträgt.
Stabilität
der Bindungsrepräsentationen
Im Lauf des Lebens kann sich die Bindungsrepräsentation noch durch
entsprechende be-deutungsvolle Bindungserfahrungen mit anderen Bezugspersonen
oder durch einschneidende Erlebnisse wie Verluste und andere traumatische
Erfahrungen in eine unsichere oder sichere Richtung der Bindung modifizieren.
Dies wird mit zunehmendem Alter aber immer schwieriger. Wir finden so einerseits
Entwicklungen mit Konti{S. 37}nuitäten von der Bindungsqualität
des Säuglings mit 12 Monaten bis zur Bindungsrepräsentation in
der Adoleszenz, andererseits aber auch Diskontinuitäten mit Wechseln
in der Bindungsqualität im Lebenslauf (siche auch Zimmermann et al.,
1995).
Explorationssystem
Dem Bindungsbedürfnis steht das Explorationsbedürfnis des
Säuglings gegenüber, das von Bowlby (1975) als weiteres starkes
motivationales System betrachtet wird. {EN08}
Obwohl das Bindungssystem und das Explorationssystem entgegengesetzten
Motivationen entspringen, stehen sie wechselseitig zueinander in Abhängigkeit.
Nach Bowlby kann der Säugling dann ausreichend seine Umwelt erkunden
und auch Angst während seiner Entfernung von der Mutter aushalten,
wenn er dies von der Mutter als sicherer emotionaler Basis aus tun kann.
Eine sichere Bindung ist also Voraussetzung dafür, daß ein Säugling
seine Umwelt erforschen und sich dabei als selbsteffektiv und handelnd
erfahren kann. {EN09}
Von Anfang an und verstärkt mit zunehmender motorischer Entwicklung
ab dem Krabbelalter mit 7-8 Monaten wird es notwendig sein, daß eine
Mutter dem Explorationsbedürfnis des Säuglings einerseits Raum
gibt und andererseits auch Grenzen setzt. {EN10}
Gleichzeitig muß sie aber immer wieder als sichere Basis für
die visuelle Rückversicherung des Säuglings während der
Exploration zur Verfügung stehen, was von Emde (Emde & Sorce,
1983) als "social referencing" beschrieben wurde. Kehrt der Säugling
von seinem Erkundungsgang zur Mutter zurück, muß er sich bei
ihr emotional angenommen fühlen. Dieses Verhalten wurde von Mahler
(Mahler et al., 1978) auch als "emotionales Auftanken des Säuglings"
bezeichnet.
Wechselwirkung
zwischen Bindungssystem und Explorationssystem
Wenn die Bindungsbedürfnisse des Kindes befriedigt werden und
es bei der Bezugsperson eine emotionale Sicherheit erleben kann, wird das
Bindungssystem bernhigt, und der Säugling kann seiner Neugier in Form
von explorativem Verhalten nachgehen. Hierzu wird er sich mehr oder weniger
weit von der Bezugsperson entfernen können, ohne emotional in Streß
zu geraten." Bei Aktivierung des Bindungssystems wegen zu großer
Entfernung oder wegen angstmachender Entdeckungen wird die Exploration
zunehmend eingeschränkt und die räumliche oder sogar körperliche
Nähe zu der Bezugsperson gesucht, die {S. 38} die sicherste emotionale
Basis für das Kind darstellt. Die Selbststeuerung des Säuglings
in bezug auf Distanz und Nähe zur Mutter wird von einer feinfühligen
Bindungsperson akzeptiert. Die Mutter kann sich darauf verlassen, daß
ihr Kind bei Streßerfahrung ihre Nähe sucht. Tritt dieses erwartete
Verhalten nicht ein, ist zu vermuten, daß es etwa aufgrund von Erfahrungen
der Zurückweisung bereits aktiv unterdrückt wurde. Bei empfundener
Sicherheit ist das Explorationsverhalten "vorprogrammiert" und muß
nicht erzwungen werden. Inititative und Steuerung für Bindungs- und
Explorationsverhalten gehen jeweils vom Kind aus.
Wenn die Mutter ihren Säugling übermäßig bindet,
stellt sie zwar mit ihrem Kind eine nahe Bindung her, gleichzeitig gewährt
sie aber keinen ausreichenden Spielraum für dessen Bedürfnisse
nach Exploration und frustriert auf diese Weise ihr Kind. Dies kann etwa
aus Angst vor möglichen Verletzungsgefahren für das Kind während
der Explora-tion oder aufgrund eigener drohender Verlassenheitsängste
geschehen.
Zielkorrigierte Partnerschaft
Bis zum Kindergartenalter entwickelt sich zwischen Bindungsperson und
Kind zunehmend eine sogenannte "zielkorrigierte Partnerschaft": Es besteht
beim Kind in seinen motivationalen Systemen zwischen Bindungsbedürfnissen
und Explorationswünschen so weit eine Balance, daß das Aushandeln
und Verhandeln von gemeinsamen Zielen etwa zum Zweck einer gemeinsamen
Spielaktivität immer besser möglich wird (Bowlby, 1976).
Beide Partner können dabei in die Beziehung ihre emotional wichtigen
Ziele einbringen, die möglicherweise unterschiedlichen Interessen
des Partners hören, sie reflektieren und schließlich die gemeinsamen
Ziele partnerschaftlich verhandeln und korrigieren. {EN12}
Bindung
und Exploration im Verlauf des Lebens
Die wechselseitige Beziehung zwischen Bindung und Exploration ist nach
der Bindungstheorie kein Phänomen, das nur in der Säuglingszeit
besteht. Diesen Prozeß hat Bowlby vielmehr als einen beständigen
Vorgang im Laufe des gesamten Lebens betrachtet. Die Spannung zwischen
den Polen Bindung und Exploration muß dabei immer wieder neu wie
auf einer "Wippe" ausbalanciert werden, da Bindung und Exploration wie
These und Antithese zueinander in Beziehung stehen. {S. 39}
Weitergabe
von Bindungsmustern zwischen den Generationen
Die Bindungsqualität des Säuglings hängt mit der Bindungsrepräsentation
der Bezugspersonen zusammen, die ihn pflegen und mit ihm spielen. Es besteht
ein Zusammenhang zwischen der Qualität der Bindungsrepräsentation
der Elterngeneration und der Bindungsqualität, die sich im Säuglingsalter
entwickelt. Es gibt Hinweise, daß die Qualität der Bindung von
der Eltern- auf die Kindergeneration weitergegeben wird.
Sichere Bindung als
Schutzfaktor
Einer sich im Säuglingsalter entwickelnden sicheren Bindungsqualität
wird eine protektive Funktion für den Entwicklungsverlauf des Kindes
zugeschrieben. Prosoziale Verhaltensweisen werden entsprechend den Ergebnissen
der Längsschnittstudien hierdurch gefördert und eine gewisse
belastbare psychische Stabilität ("resilience") erreicht.
Konzept der Feinfühligkeit
Im folgenden werde ich das Konzept der Feinfühligkeit und andere
wesentliche Konzopte der Bindungstheorie differenzierter erläutern.
Nach Auffassung der Bindungstheorie bildet die Feinfühligkeit
der Pflegeperson eine wesentliche Grundlage für die Qualität
der Bindung, die der Säugling im Laufe seines ersten Lebensjahres
entwickelt.
Das Konzept der Feinfühligkeit wurde im wesentlichen von Mary
Ainsworth entwickelt. Auf dem Hintergrund der Bindungstheorie hatte,
sie schon in Uganda bei Hausbesuchen das Pflegeverhalten von Müttern
bei ihren Säuglingen studiert. Danach untersuchte sie in Baltimore
in der ersten Längsschnittstudie bei einer kleinen Gruppe von 23 Kindern
ebenfalls in regelmäßigen Hausbesuchen das Interaktionsverhalten
von Müttern mit ihren Säuglingen im Laufe des ersten Lebensjahres.
Sie bestimmte dann an der von ihr entwickelten standardisierten Untersuchung
zum Trennungsverhalten, der sogenannten "Fremden Situation", die Bindungsqualität
dieser Kinder. Hierbei konnte sie feststellen, daß Kinder von Müttern
mit feinfühligem Pflegeverhalten häufiger in der Fremden Situation
das Verhaltensmuster zeigten, das zueiner sicheren Bindungsklassifikation
führte. Der umgekehrte Befund, nämlich häufiger eine unsichere
Bindung, ergab sich bei Kindern mit weniger feinfühligen Müttern
(Ainsworth et al., 1978). {S. 40}
Unter feinfühligem Pflegeverhalten versteht Ainsworth folgende
charakteristische Verhaltensweisen (1977):
2. Sie muß die Signale aus der Perspektive des Säuglings richtig deuten, etwa das Weinen des Kindes in seiner Bedeutung entschlüsseln (Weinen wegen Hunger, Unwohlsein, Schmerzen, Langeweile). Dabei besteht die Gefahr, daß die Signale des Säuglings durch die eigenen Bedürfnisse sowie die Projektionen dieser Bedürfnisse auf das Kind verzerrt oder falsch interpretiert werden.
3. Sie muß angemessen auf die Signale reagieren, also etwa die richtige Dosierung der Nahrungsmenge herausfinden, eher beruhigen oder Spielanreize bieten, ohne durch Über- oder Unterstimulation die Mutter-Kind-Interaktion zu erschweren.
4. Die Reaktion muß prompt, also innerhalb einer für das Kind noch tolerablen Frustrationszeit erfolgen. So ist die Zeitspanne, in der ein Säugling auf das Gestilltwerden warten kann, in den ersten Wochen sehr kurz, wird aber im Laufe des ersten Lebensjahres immer länger.
In der Regel fällt es den Bezugs- und Pflegepersonen relativ
leicht, Signale des Kindes wahrzunehmen. Bei Hausbesuchen und auch während
der klinischen Beobachtung von Mutter- Kind- Interaktionen kann man aber
feststellen, daß die Zeiten, die vergehen, bis Mütter auf die
registrierten kindlichen Signale (Weinen, Rufen, Jammern und Klagen) reagieren,
verschieden lang sein können. {EN13}
Besonders diskrete und nur angedeutete Signale des Kindes können
sicherlich nur von sehr feinfühligen Müttern wahrgenommen werden.
{EN14}
Viel größere Probleme bereitet aber schon
die Forderung, die Signale richtig zu verstehen. Aus den Ulmer Elternseminaren
wissen wir, daß es vielen Eltern besonders bei ihrem ersten Kind
anfangs große Schwierigkeiten bereitet, das Weinen richtig zu interpretieren.
Nach einiger Zeit gelingt es den meisten Müttern zu unterscheiden,
ob das Weinen des Kindes mit Hunger, Langeweile, Protest, Schmerz, mit
einer "vollen Windel" oder mit Uberstimulation zu erklären ist. Die
meisten Pflege- und Bezugspersonen brauchen erst eine Phase des Ausprobierens,
um allein das Signal des Weinens mit den dahinterlie-{S. 41}genden Wünschen
und Motivationen des Säuglinges richtig zu interpretieren (Papousek,
1994).
Auch die angemessene Reaktion auf die richtig interpretierten
Signale muß von den meisten Bezugspersonen erst erlernt werden. Sie
müssen bei jedem einzelnen ihrer Kinder neu herausfinden, wann etwa
sein Hungergefühl, sein Bedürfnis nach Körperkontakt, Anregung
oder nach Ruhe ausreichend befriedigt ist. Erfahrungen mit einem ersten
Kind können nicht einfach auf nachfolgende Geschwister übertragen
werden, weil jedes Kind ein anderes Temperament hat, Reize anders auf-nimmt
und seine Wünsche und Bedürfnisse auf seine jeweils individuelle
Art äußert (Crockenberg, 1986)."
Es wird sodann der von Mary Ainsworth entwickelte Standardversuch "Fremde Situation" für die Entwicklungszeit 12. bis 18. Monat dargestellt (S. 44-46}. Brisch meint: "Obwohl man kritisch anmerken kann, daß die Fremde Situation nur eine spezifische Situation aus der Mutter- Kind- Interaktion beobachtet, für diese eine "Momentaufnahme" darstellt und in der Auswertung spe-{S. 44}ziell das Verhalten des Kindes unter Vernachlässigung der mütterlichen Reaktionen untersucht wird, hat sich die Methode für die Untersuchung der Bindungsqualität des Kindes als valide und reliabel erwiesen (zur Kritik siehe Fox et al., 1991)." Ohne daß hier genauere Angaben gemacht werden, ist diese These erst einmal zu bezweifeln, zumal ja Entsprechungslisten für die verschiedenen Generalisierungen und Entwicklungsabschnitte fehlen. Der Bindungsbegriff droht mehr und mehr zu einer Metapher geworden. Betrachten wir nun aber erst die von Brisch übersichtlich dargelegten grundlegenden und gefundenen Bindungsmuster:
Klassifikation
der kindlichen Bindungsqualität
Im Vorgriff sehr wichtig:
Da mit der Popularisierung der Bindungstheorie immer mehr Vereinfachungen und grob falsche Interpretationen durch die Fach- und Nichtfachwelt geistern, erscheint es mir an dieser Stelle wichtig, besonders darauf hinzuweisen, daß die unsicheren Bindungsmuster nicht einfach allgemein als psychopathologische Muster interpretiert werden dürfen, sondern als "Adaptionsmuster im Rahmen durchschnittlicher Mutter-Kind-Beziehungen" anzusehen sind" (S. 77). Dazu später noch einmal S. 83 sehr deutlich und klar: "Grundsätzlich ist anzumerken, daß die Diagnose einer Bindungsstörung nicht auf dem Vorliegen des Verhaltensmusters einer unsicheren Bindungsqualität beruht, da letzteres von der Bindungstheorie als ein im Rahmen der Norm liegendes Adaptationsmuster angesehen wird." |
"Sicher gebundene
Kinder ("secure"):
Diese Kinder zeigen deutliches Bindungsverhalten nach der ersten wie
auch nach der zweiten Trennung von der Mutter. Sie rufen nach der {S. 46}
Mutter, folgen ihr nach, suchen sie - auch längere Zeit -, weinen
schließlich und sind deutlich gestreßt. Auf die Wiederkehr
der Mutter reagieren sie mit Freude, strecken die Ärmchen aus, wollen
getröstet werden, suchen Körperkontakt, können sich aber
nach kurzer Zeit wieder beruhigen und dem Spiel erneut zuwenden.
Unsicher-vermeidend
gebundene Kinder ("avoidant"):
Diese Kinder reagieren auf die Trennung nur mit wenig Protest und zeigen
auch kein deutliches Bindungsverhalten. Sie bleiben in der Regel an ihrem
Platz, spielen weiter, wenn auch mit weniger Neugier oder Ausdauer. Manchmal
kann man erkennen, daß sie der Mutter mit den Augen nachfolgen, wenn
diese den Raum verläßt, also das Verschwinden der Mutter tatsächlich
auch registrieren. Auf die Rückkehr der Mutter reagieren sie eher
mit Ablehnung und wollen nicht auf den Arm genommen und getröstet
werden. In der Regel kommt es auch zu kei-nem intensiven Körperkontakt.
Unsicher-ambivalent
gebundene Kinder ("ambivalent"):
Diese Kinder zeigen nach den Trennungen den größten Streß
und wei-nen heftig. Nach der Rückkehr der Mutter können sie von
dieser kaum beruhigt werden. In der Regel braucht es längere Zeit,
bis diese Kinder wieder einen emotional stabilen Zustand erreicht haben.
Manchmal können sie auch nach mehreren Minuten nicht wieder zum Spiel
zurückfinden. Wenn sie von ihren Müttern auf den Arm genommen
werden, drücken sie einerseits den Wunsch nach Körperkontakt
und Nähe aus, während sie sich andererseits gleichzeitig aggressiv
gegenüber der Mutter verhalten (Strampeln mit den Beinen, Schlagen,
Stoßen oder Sichabwenden).
Kinder
mit desorganisiertem Verhaltensmuster (Zusatzklassifikation):
Mehrere Kinder konnten keiner der oben genannten Kategorien zugeordnet
werden. Bei diesen Kindern konnten später typische Besonderheiten
des Verhaltens identifiziert werden, die als "unsicher- desorganisiert/
desorientiert" beschrieben wurden (Main & Solomon, 1986). Dieses Desorganisationsmuster
kann bei den drei bereits genannten Bindungsmustern als eine zusätzliche
Codierung vergeben werden. Selbst sicher gebundene Kinder können in
kurzen Sequenzen desorganisierte Verhaltensweisen zeigen. Diese sind dadurch
charakterisiert, daß die Kinder etwa zur Mutter hinlaufen, auf der
Hälfte des Weges { S. 47} stehenbleiben, sich umdrehen, von der Mutter
weglaufen und den Abstand zu ibr vergrößern. Ihre Bewegungen
können mitten im Bewegungsablauf erstarren und scheinbar "einfrieren"
("freezing"). Außerdem beobachtet man stereotype Verhaltens- und
Bewegungsmuster. Diese Beobachtungen werden so interpretiert, daß
das Bindungssystem dieser Kinder zwar aktiviert ist, ihr Bindungsverhalten
sich aber nicht in ausreichend konstanten und eindeutigen Verhaltensstrategien
äußert. Nachdem man bei den Kindern mit dem desorganisierten
Muster bei physiologischen Messungen in der Fremden Situation ähnlich
erhöhte Streßwerte wie bei den unsicher-gebundenen Kindern gefunden
hat, rechnet man dieses Muster dann der Gruppe der unsicheren Bindungsqualitäten
zu, wenn die spezifischen Verhaltensweisen in einem hohen Ausprägungsgrad
vorhanden sind (Spangler & Grossmann, 1993).
Das Desorganisationsmuster wurde überzufällig
häufig bei Kindern aus klinischen Risikogruppen wie auch bei Kindern
von Eltern gefunden, die ihrerseits traumatische Erfahrungen wie Verlust-
und Trennungserlebnisse, Mißhandlung und Mißbrauch mit in die
Beziehung zum Kind einbrachten (Main & Hesse, 1990). {EN16}
Die als desorganisiert beschriebenen Verhaltensweisen
erinnern an Verhaltensreaktionen, wie sie in klinischen Risikostichproben
etwa bei ehemaligen Frühgeborenen (Minde, 1993) oder bei Kindern nach
frühkindlicher Mißhandlung (Carlson et al., 1989) und Deprivation
(LyonsRuth, Alpern & Repacholi, 1993; Lyons-Ruth et al., 1991) im Säuglings-,
aber auch im Kleinkindalter in der Verhaltensbeobachtung gesehen werden
können. Es ist anzunehmen, daß ein fließender Übergang
zu psychopathologischen Verhaltensweisen besteht.
Die prozentuale Verteilung der verschiedenen Muster
der Bindungsqualität gestaltet sich so, daß ca. 50-60 Prozent
der Kinder in den unterschiedlichen Längsschnittstudien als sicher,
ca. 30-40Prozent als unsicher-vermeidend und ca. 10-20Prozent als unsicher-ambivalent
gebunden klassifiziert wurden (Grossmann et al., 1997). Der Anteil von
desorganisierten Verhaltensweisen ist je nach klinischer Ausgangsstichprobe
unterschiedlich groß. Je höher die kindliche - auch biologische
Risikobelastung oder je höher die elterliche - etwa psychische - Risikobelastung
ist, die in die Interaktion mit den Kindern einfließt, desto ausgeprägter
oder häufiger können auch die desorganisierten Verhaltensweisen
sein, die zusätzlich zur Bindungsklassifikation gefunden werden (Grossmann,
1988).
Es wurden mittelmäßig starke Zusammenhänge
zwischen einem {S. 48} feinfühligen Pflegeverhalten der Bezugsperson
und der Bindungssicherheit der Kinder gefunden: Feinfühlige Mütter
haben mit einem Jahr häufiger sicher gebundene Kinder und weniger
feinfühlige Mütter häufiger unsicher gebundene Kinder (van
IJzendoorn, Juffer & Duyvesteyn, 1995). Die Zusammenhänge zwischen
dem kindlichen Bindungsmuster und der elterlichen Feinfühligkeit wurden
allerdings in der Baltimore-Studie von Ainsworth (Ainsworth et al., 1978)
deutlich überschätzt. Während sie ursprünglich starke
statistische Zusammenhänge zwischen dem feinfühligen Pflegeverhalten
der Mütter und der Bindungsqualität ihrer Kinder fand, konnte
dies in Replikationsstudien in dieser Ausprägung nicht mehr bestätigt
werden. Beim augenblicklichen Stand der Forschung geht man davon aus, daß
nur 12 Prozent der Varianz der kindlichen Bindungsmuster durch die mütterliche
Feinfühligkeit aufgeklärt werden (De Wolff & van IJzendoorn,
1997).
Zur weiteren Aufschlüsselung dieser Zusammenhänge
müssen auch die individuellen Verhaltensbereitschaften des Säuglings
als kindlicher Beitrag zur Interaktion berücksichtigt werden, weil
sie als ein Faktor die Ausbildung der Bindungsqualität mitbestimmen.
Kinder, die als Säuglinge durch eine schwächere Orientierungsreaktion
und höhere Irritabilität auffielen, wurden später auch bei
durchschnittlich feinfühligen mütterlichen Verhaltensweisen häufiger
als unsicher gebunden in der Fremden Situation eingeschätzt (Grossmann
et al., 1985).
Als man den Einfluß von kindlichen Eigenschaften
auf die Bindungsmuster festgestellt hatte, entstand eine kritische Diskussion,
ob das jeweilige Bindungsverhalten nicht durch Unterschiede im Temperament
des Kindes ausreichend erklärt werden könnte (Sroufe, 1985; Fox
et al., 1991; Fox, 1992). Man kann heute davon ausgehen, daß das
Temperament oder die genetisch bedingten Verhaltenseigenschaften und -bereitschaften
des Kindes einen Beitrag zur Mutter- Kind- Interaktion im ersten Lebensjahr
und zum interaktionellen Geschehen in der Fremden Situation leisten (van
IJzendoorn & Bakermans- Kranenburg, 1997). Ein unruhiger Säugling
- etwa mit Eßproblemen, unstillbarem Schreien oder ausgaprägten
Schlafproblemen - wird auch eine durchschnittlich feinfühlige Mutter
in ihren potentiellen Verhaltensweisen extrem herausfordern oder sogar
überfordern. In der Klinik kann man beobachten, wie die Mutter- Kind-
Interaktion mit diesen Säuglingen relativ rasch entgleisen kann und
es im weiteren Verlauf zu massiven sekundären Verhaltensschwierigkeiten
kommt (Papousek, 1996).
Mit Hilfe von psychophysiologischen Untersuchungen
wurde nach {S. 49} gewiesen, daß alle Kinder in der Fremden
Situation auch auf physiologischer Ebene mehr oder weniger gestreßt
etwa mit einer Erhöhung der Herzfrequenz auf die Trennung von der
Mutter reagieren. Die äußerlich so ruhig wirkenden unsicher-vermeidend
gebundenen Kinder, denen man ursprünglich eine besondere Anpassungs-
und Adaptationsfähigkeit und eine stärker entwickelte Selbständigkeit
oder ein ruhigeres Temperament zugesprochen hatte, zeigten bei der Messung
ihres Speichelkortisols als Maß des Streßerlebens sogar höhere
Werte als die sicher oder auch unsicher-ambivalent gebundenen Kinder. Deshalb
ist das unsicher-vermeidende Verhaltensmuster bereits eher als Abwehr-
oder Adaptationsleistung des Säuglings zu verstehen. Dies hat eine
erhöhte Streßbelastungsreaktion auf psychophysiologischer und
auch auf hormoneller sowie immunologischer Ebene zur Folge (Reite &
Field, 1985; Schieche & Spangler, 1994; Spangler, 1998; Spangler &
Grossmann, 1993; Spangler & Schieche, 1995).
Konzept der Bindungsrepräsentation
Nachdem eine Methode zur Klassifikation der Bindungsqualität der
Säuglinge und Kleinkinder vorlag, überlegte man, inwieweit die
Bin-dungsrepräsentation der Eltern selbst einen Beitrag zur Bindungsqualität
ihrer Kinder leisten könnte. Mary Main hat ein halbstrukturiertes
Interview - das sogenannnte "Adult-Attachment-Interview" - entwickelt,
um die Bindungsrepräsentation von Erwachsenen zu erfassen (George,
Kaplan & Main, 1985; Main et al., 1985). Hierzu werden die Erwachsenen
über ihre Kindheit und ihre Beziehung zu ihren Eltern befragt, etwa
über Erinnerungen an konkrete Erlebnisse vor allem im Hinblick auf
die Einschätzung von Situationen, in denen die Eltern Trost spendeten
und auf Kummer des Kindes eingingen. Weiterhin werden Fragen gestellt über
die Bedeutung von erinnerten Bindungen, Trennungen und Verlusten, zur Einschätzung
des elterlichen Einflusses auf die persönliche Entwicklung, über
Veränderungen in der Beziehung zu den Eltern im Vergleich zwischen
früher und heute sowie zum heutigen Umgang mit Trennungen in der Beziehung
zu den eigenen realen oder phantasierten Kindern (eine ausführliche
Darstellung der Fragen des Adult-Attachment-Interviews findet sich im Anhang)."
Eine kritische Würdigung des Adult-Attachment-Interview
(AAI) soll bei der Präsentation im Schlußteil erfolgen. Ich
habe jedoch große Bedenken hinsichtlich der Methodologie und Informationsgütekriterien.
Karl Heinz Brisch wendet sich nun
dem Referat "Bedeutung von Schutz- und Risikofaktoren" zu. Es dürfte
nicht überraschen, daß die sog. sichere Bindung als wichtiger
protektiver Faktor angesehen werden kann. Damit fing Bowlbys Forschung
ja an. Überhaupt drängt sich mir an dieser Stelle die
Bemerkung auf, daß doch vieles, was die Bindungsforschung an vermeintlich
Neuem zutage fördert, klinischen PsychologInnen und PsychotherapeutInnen
weitgehend bekannt und vertraut erscheint.
Es folgt nun der Abschnitt "Bindung
und Trennung in anderen psychotherapeutischen Schulen", der für mich
weitgehend unverständlich und dunkel bleibt, hier werden der Reihe
nach die Konzepte vorgestellt: Freud, Anna Freud, Spitz, Winnicott ("Übergangsobjekt
[RS01], Übergangsphänomen"),
Edith Jacobson, Margaret Mahler, Melanie Klein, Balint, Kohut, Daniel Stern,
C. G. Jung und Jacoby, Lenrtheoretische Modelle, Grawe (1998), Interpersonelle
Psychotherapie (Schramm) und Systemtheoretische Modelle.
Der wirkliche Unterschied zwischen
den psychoanalytisch orthodoxen TriebtheoretikerInnen und Bowlby wird nicht
klar. Ich habe so viel verstanden: Bei Bowlby gibt es ein differenzierteres
Motivationssystem, u. a. das eigene Konzept Bindung, und er geht nicht
von einer von Anfang an gegebenen Symbiose zwischen Säugling und Bezugsperon
an, bereits der Säugling nimmt sich un die Bezugsperon getrennt wahr
und der Aufbau der Bindung braucht viel Zeit.
Ein sehr informativer erster Teil, für den wir uns beim Autor bedanken wollen. Zu den Inhalten der Grundlagen - für die natürlich der Autor nicht verantwortlich ist -, möchte ich ein paar kritische Anmerkungen machen:
Kritik der Grundlagen der Bindungstheorie
Die Bindungstheorie scheint sich inzwischen zu einer eigenen und eher armen Entwicklungspsychologie zu verselbständigen und ist zu einer populären Bewegung geworden. Man kann aber die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Persönlichkeit eines Menschen nicht aus der Entwicklung von im Grunde mal gerade drei Grundbegriffen ableiten: Bindung (und ihre vier Grundmuster: B) sicher, A) unsicher-vermeidend, C) unsicher-ambivalent, D) desorganisiert), das Konzept der Feinfühligkeit und bindungsgegenpoligen Explorationsstrebens des Kindes. Eine wissenschaftliche Entwicklungspsychologie braucht wahrscheinlich ein Vielfaches an Konzepten und Begriffen [zu den erziehungsrelevanten siehe bitte hier]. Die Entdeckung der Bedeutung der Bindung war eine wichtige Neuerung in der Wissenschaft. Aber Bindung ist nur ein Konzept und nur ein Faktor. Die Entwicklung eines Säuglings, Kleinkindes, Kindergarten- und Vorschulkindes, eines Grundschul- und Schulkindes bis hin zum pubertierenden und heranwachsenden Jugendlichen und späterhin Erwachsenen mit seinen eigenen Lebensabschnitten (Heiratsalter, Karrierealter, Nachelterliche Gefährtenschaft, Vorruhestand, Rentenalter, Alter, Greis, Sterben und Tod) erfordert doch wohl weit aus mehr. Brisch berichtet denn auch ernüchternd (S.49): "Beim augenblicklichen Stand der Forschung geht man davon aus, daß nur 12 Prozent der Varianz der kindlichen Bindungsmuster durch die mütterliche Feinfühligkeit aufgeklärt werden (De Wolff & van IJzendoorn, 1997)." Präzise operationale Definitionen und Entsprechungslisten für die verschiedenen Entwicklungsphasen und Abschnitte des Lebens liegen nicht vor. Der Bindungsbegriff ist inzwischen mehr und mehr zu einer schwammigen Metapher geworden. Das Konzept des "Inneren Arbeitsmodelles" für noch nicht Einjährige (S.37) erscheint ebenfalls sehr verwegen: "Das Kind lernt im Laufe des ersten Lebensjahres: Wenn ich in Gefahr gerate, weine und meine Bezugsperson als meine emotional sichere Basis - quasi als "Heimathafen" - aufsuche, wird diese mir zur Verfügung stehen und meine Bindungsbedürfnisse mit einer bestimmten charakteristischen Nähe oder Distanz sowie einem umfassenden Verhaltensrepertoire beantworten. Für jede einzelne Bezugsperson, etwa für Mutter und Vater getrennt, werden eigenständige unterschiedliche Arbeitsmodelle entwickelt.". Ich spüre massives kognitives Unbehagen bei der Vorstellung, daß noch nicht Einjährige schon über solche Kausalitäts- oder Wenn-Dann-Schemata verfügen sollten. [Problematik Begriff und Schemata hier] |
Bindung
und Psychopathologie
Der Autor stellt zunächst Bowlbys Grundfrage
dar, "ob es Zusammenhänge zwischen einer unsicheren Bindung und
einer bestimmten Psychopathologie geben könnte" und referierte
sodann die bisherigen Forschungsergebnisse. Hiernach ist zu erwarten, daß
mit zunehmender Forschung immer mehr, immer nichtssagendere und auch immer
mehr widersprüchliche Ergebnisse publiziert werden. Hier zeigt sich,
daß die Bindungsmuster 1) viel zu allgemein, 2) viel zu einseitig,
3) viel zu genau und 4) mit viel zu wenig opertionalen Entsprechungen der
Alters- und Entwicklungsphasen definiert sind. Der gröbste methodische
Fehler ist zweifellos, daß man zu sehr von der frühkindlichen
und sehr speziellen fremden Sitation ausging, statt genau für das
Erwachsenenalter zu untersuchen, wie sich Bindung zeigt, entwickelt, vertieft,
festigt, verändert und schließlich lockert, löst und verschwindet.
Wer bei Erwachsenen nur nach ABCD-Mustern sucht, kann auch nur diese finden
oder nicht.
Einige Befunde: "Kinder waren nach Mißhandlung
und Vernachlässigung in der frü[75]hen Kindheit häufiger
unsicher gebunden als andere, bei denen keine Mißhandlung vorlag
(Crittenden, 1985; Crittenden, 1995; Crittenden 1997; Lyons-Ruth, Connell
& Zoll, 1989). Besonders die desorganisierte Bindung wurde wesentlich
häufiger bei mißhandelten Kindern gefunden (Carlson et al.,
1989). ....
In klinischen Studien fanden sich Zusammenhänge
mit unsicheren Bindungsrepräsentationen unter anderem bei Patienten
mit folgenden Symptomen oder Störungsbildern: Borderline-Persönlichkeitsstörung,
Agoraphobie, nach sexuellem Mißbrauchstrauma in der Kindheit, bei
Adoleszenten mit suizidalem Agieren, Depression, Vulnerabilität für
psychiatrische Erkrankungen, bei schizophrenen sowie forensischen Patienten,
Patienten mit Torticollis spasticus (Atkinson, 1997; Buchheim, Brisch &
Kächele, 1998; Fonagy, Leigh et al., 1995; 1997; Grossmann, 1993;
Holmes, 1993; Lamott et al., 1998; Strauß & Schmidt, 1997; van
IJzendoorn & Bakersmans-Kranenburg, 1996; Wöller, 1998).
...
In einer wachsenden Zahl von Studien wurden somit
Verbindungen zwischen einem unsicheren Bindungsmuster bzw. einer unsicheren
Bindungsrepräsentation und psychischen Störungs- und Symptombildern
bei unterschiedlichen Risikogruppen gefunden. Hierbei scheint das Muster
der desorganisierten Bindung wegen seines häufigen Vorkommens in klinischen
Stichproben eine besondere Bedeutung für die [76] Entwicklung
von Psychopathologie zu haben. Eine spezifische Zuordnung eines bestimmten
Bindungsmusters zu einer spezifischen Psychopathologie konnte bisher allerdings
nicht festgestellt werden und ist - soweit ich sehe - auch unwahrscheinlich.
Vielmehr kann eine sichere/unsichere Bindung als Schutz- bzw. Risikofaktor
für die Entwicklung von psychopathologischen Symptomen betrachtet
werden: Eine sichere Bindung erhöht vermutlich die psychische Vulnerabilitätsschwelle
für Belastungen, eine unsichere erniedrigt sie."
Theorie der
Bindungsstörung
"Entwicklungspsychologen und auch Entwicklungspsychopathologen verweisen
darauf, daß die ursprünglichen Muster der Bindungsqualitäten,
wie sie von Mary Ainsworth gefunden wurden, spezifische Adaptationsmuster
im Rahmen durchschnittlich normaler Mutter-Kind-Beziehungen sind. Demgemäß
wäre etwa das vermeidende Bindungsmuster, das den Kliniker an psychopathologische
Verhaltensweisen erinnert, eine Verhaltensstrategie, mit der sich die Kinder
an die Einstellungen ihrer Eltern mit ihrem Bindungsverhalten anpassen.
Auf diese Weise können sie trotz größerer Distanz, als
es eigentlich ihrem Bindungsbedürfnis entspräche, mit den Eltern
im Kontakt bleiben. Da die vermeidend gebundenen Kinder wissen, daß
ein Signalisieren von Nähewünschen von ihren Eltern eher mit
Abweisung beantwortet wird, erlernen sie schon im ersten Lebensjahr, Bindungsreaktionen
wie zum Beispiel Protest auf Trennung, Nachfolgen, Rufen, Weinen und Anklammern
mit Nähesuchen erst gar nicht zu zeigen; statt dessen halten sie eine
gewisse Distanz zur Bindungsperson, um die befürchtete ablehnende
Reaktion der Mutter nicht zu erfahren. Mit dem entsprechenden vermeidenden
Muster kann eine Bindung zur Mutter auf Kosten der kindlichen Wünsche
nach Nähe dennoch aufrechterhalten werden. Die vermeidende Strategie
scheint für diese Kinder wie auch für ihre Eltern am besten geeignet,
den durch Bindungsverhalten hervorgerufenen Streß zu mindern.
Hingegen können die von Main als "desorganisiertes
Muster" beschriebenen Verhaltensweisen nicht als adaptive Strategien angesehen
[<77] werden. Sie weisen vielmehr darauf hin, daß diese Kinder
jeweils in der Streßsituation der Trennung und Wiedervereinigung
kein passendes adäquates Verhaltensmuster zur Verfügung hatten.
Auf diese Weise kommen widersprüchliche Verhaltensweisen wie Hinlaufen
zur Mutter, Stehenbleiben, Umkehren, Einfrieren der Bewegungen, motorische
Stereotypien zustande, die auf einen außenstehenden Beobachter wie
ein desorganisiertes Verhalten wirken. Diese manchmal nur wenige Sekunden
andauernden Verhaltensweisen vermitteln den Eindruck einer gestörten
Psychomotorik und erinnern an Psychopathologie. Sie werden dementsprechend
auch in Gruppen mit kindlichem Risiko einerseits (bei Frühgeborenen
oder bei Kindern mit traumatischen Erfahrungen) sowie andererseits bei
elterlichem Risiko (ungelöstes Trauma oder ungelöster Verlust)
deutlich häufiger beobachtet."
Hier ist kritisch anzumerken, daß die massiven
und bizarren Verhaltensweisen, die man bei desorganisiertem Bindungsverhalten
beobachtet, nur eine besondere Ausdrucksvariante spezieller Pathologien
sein dürften. Pathogene Bindungsstörungen sind unabhängig
von solchen bizarren Ausdrucksformen sinnvol definier- und feststellbar,
z. B. in vielfach beobachtbaren Kommunikationsstörungen.
Der Autor stellt sodann fest: "Kliniker wie Fraiberg
(1982), Lieberman & Pawl (1988; 1990) und Zeanah et al. (1993) haben
schon sehr früh festgestellt, daß es in Gruppen von klinisch
kranken Kindern oder sehr gestörten Eltern- Kind- Dyaden noch ganz
andere Muster der Bindungsbeziehung gibt, die sie als "Bindungsstörungen"
("attachment disorders") bezeichneten. Auch die Arbeiten von Crittenden
(1988; 1995) über mißbrauchte, mißhandelte oder vernachlässigte
Kindern führten zur Erweiterung der ursprünglichen Einteilung
von Bindungsmustern im Kindesalter." Dies unterstreicht meine Eingangskritik.
So wundert es nicht, daß der Autor schließlich zitiert: "Crittenden
geht somit von einem fließenden Übergang von noch gesunden Bindungsmustern
hin zu Varianten der Bindungsqualität aus, die sich im Bereich der
Psychopathologie bewegen." Zusätzlich ist kritisch anzumerken, daß
die BindungsforscherInnen hier offensichtlich verkennen, daß es nicht
nur Bindungsmerkmale gibt, die zur Pathologie beitragen können: das
Bindungsmuster ist ein, aber auch nur ein Faktor. Und es sind auch nicht
nur "äußerliche Sozialfaktoren", die einen Einfluß auf
Pathologie haben: "Wichtig ist, daß nicht nur elterliche Psychopathologie,
sondern [<79] auch gravierende äußerliche Sozialfaktoren
die Bindungsentwicklung erheblich beeinträchtigen können. Dies
führte im Infant-Parent Program zu einer therapeutischen Mischung
aus Sozialarbeit und Eltern- Kind- Psychotherapie."
Bindungsklassifikation
in diagnostischen Manualen
Der Autor stellt kritisch fest, daß die diagnostischen Manuale
nicht geeignet sind, "Bindungsstörungen als Formen schwerwiegender
Psychopathologie" zu klassifizieren.: "Bei der Durchsicht der diagnostischen
Manuale ICD-8 bis ICD-10 und des DSM III-IV fällt auf, daß keine
ausreichenden diagnostischen Zuordnungen für die Vielfalt und den
Schweregrad an Bindungsstörungen möglich sind, wie wir sie in
der klinischen Praxis wiederfinden." ...
"In der ICD-10 wird eine reaktive Bindungsstörung
im Kindesalter [<80] (Typ I F94.1)" von einer "Bindungsstörung
des Kindesalters mit Enthemmung (Typ II Fs4.2)" unterschieden. Ähnliche
Diagnosekategorien finden sich im DSM-III-R (313.89) (Wittchen et al.,
1991) und DSM-IV (313.89) (Saß et al., 1996).
Typ I in der ICD-10 beschreibt Kinder, die in ihrer
Bindungsbereitschaft gegenüber Erwachsenen sehr gehemmt sind und mit
Ambivalenz und Furchtsamkeit auf Bindungspersonen reagieren (z. B. F94.1).
Im Typ II (z. B. F94.2) zeigen sie ein konträres klinisches Bild mit
enthemmter distanzloser Kontaktfreudigkeit gegenüber verschiedensten
Bezugspersonen. Beide Verhaltensweisen werden als direkte Folge von extremer
emotionaler und/oder körperlicher Vernachlässigung und Mißhandlung
oder als Folge von ständigem Wechsel der Bezugspersonen angesehen.
Es finden sich noch andere Diagnosen in der ICD-Klassifikation,
die sich auch implizit auf bindungsrelevante Themen beziehen, wie etwa
"Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen" (F91.1),
"Störungen mit Trennungsangst des Kindesalters" (F93.0) und "Störungen
mit sozialer Ängstlichkeit"."
"Im "Multiaxialen Klassifikationssystem für
psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters" (Remschmidt &
Schmidt, 1994) wird unter "Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände
(Fünfte Achse)" eine Vielzahl von Belastungen aufgeführt, die
sich auf die Bindungsentwicklung auswirken können: abnorme intrafamiliäre
Beziehungen mit Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung, Disharmonie
in der Familie zwischen Erwachsenen, etwa mit feindseliger Ablehnung gegenüber
dem Kind, mit körperlicher Mißhandlung und mit sexuellem Mißbrauch.
Außerdem werden als belastende Faktoren angenommen: psychische Störung
und abweichendes Verhalten eines Elternteils, inadäquate oder verzerrte
intrafamiliäre Kommunikation, abnorme Erziehungsbedingungen (etwa
mit elterlicher Überfürsorge oder mit unzureichender elterlicher
Aufsicht und Steuerung) sowie [<81] eine abnorme unmittelbare Umgebung,
Erziehung in einer Institution, Verlust einer liebevollen Bezugsperson,
bedrohliche Umstände infolge Ffemdunterbringung, negativ veränderte
familiäre Beziehungen durch neue Familienmitglieder, Ereignisse, die
zur Herabsetzung der Selbstachtung führen, sexueller Mißbrauch
und unmittelbar beängstigende Erlebnisse (S. 147-154).
Außerdem werden unter "Gesellschaftlichen Belastungsfaktoren"
bindungsrelevante Ereignisse wie "Verfolgung oder Diskriminierung" und
"Migration und soziale Verpflanzung" aufgeführt (S. 156)." ...
"In sämtlichen Diagnosesystemen gibt es kein
übergeordnetes Erklärungsmodell für die am beobachtbaren
Verhalten und an den sozialen Belastungsfaktoren orientierte Bindungsdiagnostik.
Dies ist erstaunlich, denn schon in früheren Jahren wurden auf dem
Hintergrund der Bindungstheorie Typologien von Bindungsstörungen beschrieben,
die aber in die oben angeführten Klassifikationssysteme bis heute
keinen umfassenderen Eingang gefunden haben. Im folgenden werden Ansätze
für solche Klassiflkationssysteme von Bindungsstörungen beschrieben.
Diese sind nach meiner Ansicht für die klinische Anwendung geeignet
<[82] und stellen einen ersten Schritt dar, um Bindungsstörungen
differenzierter diagnostisch zu erfassen."
Diagnostik
und Typologie von Bindungsstörungen
"Grundsätzlich ist anzumerken, daß die Diagnose
einer Bindungsstörung nicht auf dem Vorliegen des Verhaltensmusters
einer unsicheren Bindungsqualität beruht, da letzteres von der Bindungstheorie
als ein im Rahmen der Norm liegendes Adaptationsmuster angesehen wird.
Vielmehr sieht man bei Kindern mit einer Bindungsstörung ganz erhebliche
Veränderungen im Verhalten mit den verschiedensten Beziehungspersonen."
Diese Formulierung zeigt den schwierigen widerspruchsvollen bis paradoxen Spagat der Bindungstheorie. Einerseits soll es sich um ein normales Adaptationsmuster handeln, andererseits will man offensichtlich eine Bindungsstörung mit Krankheitwert diagnostisch konstruieren. Die im folgenden vorgeschlagenen Auffälligkeiten im Bindungsverhalten sind auch zu sehr an die Verhaltensebene fixiert und gehen viel zu wenig auf die affektiv-kognitive Ebene ein, was man in der Bindungstheorie "Innere Arbeitsmodelle" nennt. |
Keine
Anzeichen von Bindungsverhalten
"Diese Kinder fallen dadurch auf, daß sie überhaupt kein
Bindungsverhalten gegenüber einer Bezugsperson zeigen."
Undifferenziertes
Bindungsverhalten
"Diese Kinder verhalten sich freundlich gegenüber allen Bezugspersonen
und machen keinen Unterschied darin, ob sie diese schon länger [<84]
kennen oder ob sie ihnen noch ganz fremd sind; man bezeichnet dies auch
als soziale Promiskaität." Und: "Ein andere Variante dieser Bindungsstörung
wird als Unfall-Risiko-Typ beschrieben. Diese Kinder sind häufig in
Unfälle mit Selbstgefährdung und Selbstverletzung verwickelt.
Bei genauerer Untersuchung der Umstände des Unfallhergangs stellt
sich heraus, daß sie diese Unfälle durch ihr ausgeprägtes
Risikoverhalten selbst provoziert haben." Die folgende differentialdiagnostische
Aussage: "Hyperkinetische Kinder, die in ihrem Explorationsverhalten zwar
auch getrieben und sprunghaft sein können, unterscheiden sich aber
dadurch, daß sie in der Regel nicht zu häufigen Unfällen
neigen, weil ihr Risikoverhalten nicht verstärkt ist." kann ich aus
meiner Erfahrung mit hyperkinetischen Kindern (Typ ADHD [ICD 10 F 90x],
nicht
ADD
ICD-10 F98.8]) nicht bestätigen. ADHD-Kinder sind häufig in Unfälle
verstrickt und haben auch ein gesteigertes Risikoverhalten.
Übersteigertes
Bindungsverhalten
"Bei dieser Form der Bindungsstörung fallen die Kinder durch exzessives
Klammern auf: sie sind nur in absoluter Nähe zu ihrer Bezugsperson
emotional beruhigt und ausgeglichen. ... Diese Bindungsstörung beobachtet
man bei Kindern, deren Mütter etwa an einer Angststörung mit
extremen Verlustängsten leiden. Ihre Kinder müssen für sie
eine sichere emotionale Basis sein, damit sie sich auf diese Weise selbst
psychisch stabilisieren können. Die Mütter geraten in panische
Angst, wenn sich ihre Kinder emotional selbständig verhalten und sich
von ihnen vorübergehend trennen. Das exzessive Klammern ähnelt
dem Verhalten der Kinder mit unsicher-ambivalentem Bindungsmuster; das
beschriebene Störungsbild ist allerdings durch ein extrem übersteigertes
Verhalten des Kindes ge[<86]kennzeichnet, wie es bei ambivalent gebundenen
Kindern in dieser übersteigerten Ausprägung nicht vorkommt."
Gehemmtes
Bindungsverhalten
"Im Gegensatz zum übersteigerten Bindungsverhalten setzen diese
Kinder Trennungen nur geringen oder gar keinen Widerstand entgegen. Sie
wirken im Ausdruck ihres Bindungsverhaltens gegenüber der Bindungsperson
gehemmt und fallen durch eine übermäßige Anpassung auf.
Aufforderungen und Befehle der Bezugsperson erfüllen sie meistens
umgehend und ohne Protest. Dabei wirkt ihr positiver emotionaler Austausch
mit ihrer Bezugsperson eher eingeschränkt. Um so auffallender ist
es, daß sie in Abwesenheit ihrer vertrauten Bezugsperson etwa ihre
Gefühle freier und offener gegenüber fremden Personen zum Ausdruck
bringen können.
Diese Kinder haben sich, etwa nach massiver körperlicher Mißhandlung
oder in Familien, deren Erziehungsstil durch die Ausübung von körperlicher
Gewalt oder durch Gewaltandrohung geprägt ist, darauf eingestellt,
ihre Bindungswünsche vorsichtig und zurückhaltend gegenüber
ihren Bindungspersonen zu äußern, da sie einerseits bei diesen
Schutz und Geborgenheit erwarten, andererseits diese ihnen aber auch etwa
durch Androhungen von Gewalt Angst machen."
Aggressives
Bindungsverhalten
"Kinder mit dieser Bindungsstörung gestalten ihre Bindungsbeziehungen
vorzugsweise durch körperliche und/oder verbale Aggressionen. Auf
diese Weise bringen sie ihren eindeutigen Wunsch nach Nähe gegenüber
ihrer Bindungsperson zum Ausdruck. ... Das Familienklima wird in
auffallender Weise durch aggressive Verhaltensweisen unter den Familienmitgliedern
geprägt. Dies muß sich nicht unbedingt in physischer Gewalt
äußern, sondern kann auch durch verbale und non-verbale Formen
der Aggression zum Ausdruck kommen. In den Familiensitzungen erlebt man
als Therapeut [<87] ein hohes Maß an aggressiver Spannung, die
von den Familienmitgliedern nicht wahrgenommen oder nach außen verleugnet
wird. Diese Kinder müssen von solchen mit primär dissozialen
Verhaltensstörungen unterschieden werden. Bei diesen ist die dissoziale
Symptomatik vielfältiger und nicht nur auf das aggressive Interaktionsverhalten
ausgerichtet."
Bindungsverhalten
mit Rollenumkehrung
"Charakteristisch für diese Art der Bindungsstörung ist eine
Rollenumkehr zwischen der Bezugsperson und dem Kind ("Parentifizierung"):
In der Verhaltensbeobachtung erscheint das Kind überfürsorglich
zu seiner Bindungsperson und übernimmt für diese Verantwortung.
...
Diese Kinder haben Angst um den realen Verlust ihrer Bindungsperson,
etwa bei drohender Scheidung, bei Suiziddrohungen oder nach einem Suizidversuch
eines Elternteils. Wenn sie tatsächlich einen Elternteil durch Suizid
verloren haben, kann sich ihr überfürsorgliches Verhalten mit
Rollenumkehr auch auf den verbleibenden Elternteil richten."
Psychosomatische
Symptomatik
"Störungen in der Bindung können sich auch in der Entwicklung
von psychosomatischen Symptomen äußern. [89]"
Bindungsdiagnostik
bei Erwachsenen
"In die Diagnostik erwachsener Patienten haben die Erkenntnisse der
Bindungstheorie noch wenig Eingang gefunden. Es läßt sich nicht
sagen, ob die bei Kindern festgestellten Kategorien pathologischer Bindungen
auch bei Erwachsenen Geltung haben. Für manche Borderline-Patienten
kann man dies allerdings vermuten. [<90]"
"Zweifellos dürften Patienten mit Anteilen des desorganisierten
Bindungsmusters in der klinischen Klientel zahlenmäßig eine
große Rolle spielen, insbesondere etwa bei dissoziativen Erkrankungen,
multipler Persönlichkeitsstörung und Borderline-Störung.
Hierüber liegen aber bisher nur vereinzelte Kranken- und Behandlungsberichte
sowie erste Studien vor (Liotti, 1992; Fonagy et al. 1995b; 1996a, 1997).
[<91]"
Alles in allem eine informative, kritische und praktisch
nützliche und orientierende Differenzierung zum Thema Bindung und
Psychopathologie, wofür wir uns beim Autor bedanken.
Meine kritischen Anmerkungen
habe ich bereits eingangs formuliert.
Zur Kritik der Reduktion und Einengung auf den Bezugspersonen-Bundungstheoretischen
Hintergrund, der viele seltsamen und schwer verständlichen Bindungsphänomene
nicht angemessen oder hinreichend erklären kann, siehe
bitte hier.
Theorie der Therapie
Der Autor berichtet von Bowlbys Enttäuschung, daß seine
Forschungen so wenig Eingang die Klinik und Psychotherapie gefunden hätten.
Nun das mag für traditionelle Psychoanalyse zutreffen, die ja wenig
Sinn für Wissenschaft und Empirie aufbringt, aber sicher nicht für
die überwiegende Mehrheit der psychologischen PsychotherapeutInnen
(siehe auch).
Diese Interpretation wird auch vom Autor durch seine folgenden kritischen
Ausführungen gestützt: "Die Theorie der Psychoanalyse ging ursprünglich
davon aus, daß sich der Behandlungsfokus ganz auf den Patienten zentriert
und die Behandlungssituation eher als "Ein-Personen-Therapie" konzipiert
ist. Wenn Freud selbst auch sicherlich interaktionell und beziehungsorientiert
gearbeitet hat, so haben seine Formulierungen, daß der Psychoanalytiker
ein "Spiegel" für den Patienten sein sollte, bei seinen Schülern
und bei späteren Vertretern der Psychoanalyse dazu geführt, daß
für lange Zeit die monadische, auf den Patienten ausgerichtete Beziehungssituation
in der Behandlung vorherrschte. Interaktionelle Wechselbeziehungen zwischen
Patient und Analytiker wurden zumindest theoretisch geleug [<93] net.
Es bedurfte ausgedehnter Diskussionen innerhalb der Psychoanalyse, bis
die Ideen der Objektbeziehungstheoretiker, die bereits auf ein dyadisches,
interaktiv wechselseitig wirkendes Geschehen zwischen Patient und Therapeut
hinwiesen, mehr in der Behandlungssituation und in der Ausbildung von Kandidaten
in den Vordergrund rückten. Noch heute ist der Streit um den Fokus
in der Behandlung innerhalb der Psychoanalyse nicht abgeschlossen. Allerdings
haben Vertreter einer interaktiven Sichtweise der Behandlungssituation
durch die Ergebnisse der Säuglingsforschung große Unterstützung
erhalten. Der Säugling ist von Anfang an auf Interaktion mit seiner
primären Bezugsperson ausgerichtet und hat dazu auch von Natur aus
vielfältige frühe Fahigkeiten zur Wahrnehmung und zur Handlung.
Deshalb können wir heute sagen: Die Beziehung zwischen Mutter und
Säugling wird von Anfang an von beiden wechselseitig gestaltet (Dornes,
1993; 1997). Dem Säugling muß eine durchaus aktive mitgestaltende
Qualität und Fähigkeit zugeschrieben werden. Bowlby war sicherlich
einer derjenigen Vertreter der Objektbeziehungstheorie, die diese weiterentwickeln
wollten und von einem interaktiven Geschehen zwischen Mutter und Säugling
ausgingen. Für ihn war es daher auch selbstverständlich, daß
der therapeutische Prozeß und die therapeutische Beziehung ein interaktives
Geschehen darstellen, das wechselseitig vom Patienten wie vom Therapeuten
geprägt wird. Die Vorstellung eines nur spiegelnden und sich abstinent
verhaltenden Psychoanalytikers hat in diesem Konzept keinen Platz mehr
(Köhler, 1995; 1998).
Umfassende Studien aus der Psychotherapieprozeßforschung
(Orlinsky, Grawe & Parks, 1994) ergaben, daß der Bindungsbeziehung
zwischen Patient und Therapeut ("therapeutic bond")' aus dem gesamten Spektrum
aller Variablen, die das Therapieergebnis beeinflussen können, ein
ganz entscheidender prädiktiver Wert zukommt. Die Psychotherapieforschung
zeigt konsistente Zusammenhänge zwischen der Qualität der therapeutischen
Bindung und dem Therapieerfolg."
Kritische
Anmerkung Bindung und Beziehung in der (Psycho-) Therapie
Ohne Zweifel ist eine tragfähige und "gute" Arbeitsbeziehung für den Therapieerfolg ein kaum zu überschätzender moderierender Heilwirkfaktor. Man muß sich aber davor hüten, Bindung mit Beziehung gleichzusetzen. Bindung ist ein Merkmal einer Beziehung. Beziehung ist der allgemeinere und weitere Begriff. Was im Einzelfall eine "gute" Arbeitsbeziehung ist, kann sehr stark variieren, jenachdem welche Persönlichkeit mit welchen bindungs- und beziehungsgeschichtlichem Hintergrund einem gegenübersitzt. Ob sich in Therapien, die vielleicht 50-100 Stunden und 1-3 Jahre dauern, stärkere Bindungen aufbauen lassen, ist einerseits zweifelhaft und zum andern auch als Moderatorziel fragwürdig und problematisch. Therapie ist eine helfende Beziehungauf Zeit. Die Trennung ist also unausweichlich und vorprogrammiert. Eine Trennung kann umso schwieriger und erneut traumatisierender sein, umso mehr eine stärkere Bindung entstanden ist. Die PsychotherapeutIn kann und darf Bindungsdefizite dann nicht kompensieren, wenn sich daran Hoffnungen und Erwartungen knüpfen, die auf längere Sicht nicht erfüllbar sind. Das ist auch eine große Gefahr in traditionellen Psychoanalysen, deren setting sehr intensive und regressive Affekte provoziert. Zu berücksichtigen ist weiter, daß nicht jede PatientIn mit sicheren Bindungsbasen zurechtkommt. Brisch sieht allerdings diese Gefahren und weist in einem eigenen Abschnitt darauf hin. Unrealistisch und undurchführbar für den ambulanten Bereich ist es zu fordern, daß Trennung und Ende nur von der PatientIn eingebracht werden dürfen. |
"Als auslösende Faktoren für die Herstellung und Aufrechterhaltung
der therapeutischen Bindung werden die "unausgesprochene Affektabstimmung"
zwischen Patient und Therapeut sowie das "affektive Klima" für bedeutungsvoll
gehalten. Eine gute therapeutische Bindung beeinflußt die Bereitschaft
des Patienten, sich zu öffnen und defensive Prozesse und Widerstände
abzubauen. Der Bindung wird dabei durchaus unterstützende Qualität
zugemessen. Sie wird als grundsätzliche Bedingung angesehen, damit
therapeutische Techniken und Botschaften aus dem Beziehungserleben [<94]
innerhalb der Therapie vermittelt werden können. Die Herstellung und
Aufrechterhaltung einer guten therapeutischen Bindungsbeziehung über
einen langen Therapiezeitraum wird besonders für die Behandlung von
Patienten, die mit Persönlichkeitsstörungen und entsprechend
schwerwiegender Psychopathologie in die Behandlung kommen, als eine Grundvoraussetzung
dafür angesehen, daß man mit ihnen überhaupt einen längeren
Therapieprozeß einleiten kann. Dabei hat eine selbstkongruente, offene,
wertschätzende Haltung des Therapauten für die Herstellung der
therapeutischen Bindung eine besondere Bedeutung. Diese Faktoren erinnern
sehr an die von der Gesprächspsychotherapie schon vor langer Zeit
geforderten basalen therapeutischen Fahigkeiten und Einstellungen (Finke,
1994; Rogers, 1973). Diese konsistenten Ergebnisse der Psychotherapieforschung
(Rudolf, Grande & Porsch, 1988) zeigen Ähnlichkeiten mit der Bindungstheorie,
die in der Herstellung der Bindung zwischen Patient und Therapeut für
eine therapeutische Anwendung ihrer Theorie eine grund'legende Funktion
sieht (Bowlby, 1995b)."
"Man kann vermuten, daß in der therapeutischen Beziehung durch Veränderungen der Affekte, der Kognitionen und des Verhaltens auch die Selbst- und Objektrepräsentanzen des Patienten reifen. Das bindungsrelevante Arbeitsmodell ("inner working model"; Bowlby, 1975; 1976) des Kindes bzw. die Bindungsrepräsentation des Erwachsenen kann sich durch neue Bindungserfahrungen verändern. Nach Bowlby enthält ein Arbeitsmodell nicht nur verschiedene Erfahrungen im Hinblick auf die erlebten Bindungserfahrungen mit den Bindungsfiguren, sondern auch Konzepte des Selbst, die aus den erfahrenen Interaktionen hervorgegangen sind. Es wird diskutiert, daß es auch mehrere Arbeitsmodelle geben kann, insbesondere wenn verschiedene einander widersprechende Bindungserfahrungen - etwa durch eine verstrickte Bindungsbeziehung zur Mutter und eine vermeidende zum Vater - internalisiert wurden (Buchheim, Brisch & Kächele, 1998; Köhler, 1998)." [S. 95] |
Der Autor erläutert sodann, weshalb er eine sichere Basis
in der therapeutischen Beziehung für erforderlich hält.
Ich glaube nicht, daß dieses Modell sichere Bindungsbasis für
die therapeutische Situation allgemein taugt (siehe
oben).
Technik der Behandlung
Bowlby fünf Behandlungsprinzipien finden Sie hier
kurz dargestellt.
Allgemeine
Gesichtspunkte zur Psychotherapie von Erwachsenen
"Der Patient ist wegen seiner Probleme beunruhigt und angstvoll, wenn
er einen Therapeuten aufsucht. Der Therapeut muß sich bewußt
sein, daß das Bindungssystem des Patienten mehr oder weniger aktiviert
ist. [<96]
Dieser wird mit allen ihm zur Verfügung stehenden - auch durch
entsprechende Störungen verzerrten - Möglichkeiten seines Bindungsverhaltens
nach einer Person suchen, die die Rolle der Bindungsperson übernehmen
soll. Diese Erwartung wird vom Patienten auf den Therapeuten übertragen."
Brisch hat in Anlehnung an Bowlby 9 Leitlinien für psychotherapeutische
Behandlung von Erwachsenen formuliert, die Sie kritisch
kurz-kommentiert hier finden.
"Bowlby geht davon aus, daß die Selbst- und
Elternrepräsentanzen mit den entsprechenden Bindungs- und Explorationsmustern
aus der frühen Kindheit in der therapeutischen Übertragungsbeziehung
reaktiviert werden."
Warum sollte das der Fall sein? Warum sollte die
PatienIn nicht ehe sich, wie Sie nun ist, in die therapeutische Beziehung
einbringen? Zumal Bowlby ja selbst zwei Bindungsysteme, ein frühes
(archaisches) und und ein aktuelles, postuliert hat?
Im weiteren erörtert der Autor, wie im Hier
und Jetzt der Sitzung mit der aktuellen Beziehung gearbeitet werden kann
und soll: "Der Patient gelangt im Rahmen der Behandlung schließlich
an seine schmerzlichen Bindungs- und Beziehungserfahrungen, sofern er nach
und nach seine Affekte, in der Regel Wut und Trauer, wahrnimmt."
Im folgenden entwickelt der Autor 6 Leitlinien für
bindungsorientierte Kindertherapie und gelangt dann zur Erörterung:
Spezielle Gesichtspunkte
Hier geht der Autor auf die vielfältigen Hintergrundbedingungen
und Erfahrungen der PatientInnen ein und er empfiehlt zur Beachtung (Auswahl)
:
Frühe Erfahrungen, Wechsel und Trennung mit Bezugspersonen explorieren und durcharbeiten
Vorsicht und Behutsamkeit bei Bindungsvermeidenden
"Bindungsvermeidende Störungen stellen hohe Anforderungen an den
Therapeuten, weil er einerseits auf abgewehrte Bindungsbedürfnisse
angemessen eingehen und sie vorsichtig interpretieren muß, andererseits
das störungsbedingte Distanzierungsbedürfnis des Patienten berücksichtigen
sollte. Eine Befriedigung von abgewehrten Bindungsbedürfnissen könnte
aus diesem Grunde für den Patienten mit zu großer emotionaler
Nähe verbunden sein. Dies könnte eine Bedrohung für die
therapeutische Beziehung darstellen und zum Therapieabbruch führen."
Klarheit und Zuverlässigkeit des angebotenen Settings
"In der Behandlung von Patienten mit bindungsambivalenter Störung
wird neben der verläßlichen, vorhersagbaren emotionalen Präsenz
des Therapeuten ein weiteres Augenmerk auf der Klarheit und rahmensetzenden
Struktur des Settings bestehen. Der Therapeut sollte durch Ver[<103]
änderungen des Settings (Verschiebung von Therapiestunden, Absagen)
und andere Verhaltensweisen, wie verspäteten Beginn der Therapiestunde
durch Verschulden des Therapeuten, nicht unnötigerweise das Bindungssystem
dieser Patienten erneut aktivieren."
Angemessene Dosierung und Handhabung von Nähe und Distanz
"Die Patienten erwarten in der Regel, daß ihre Bindungsbedürfnisse
in der Wiederholung der Therapie ebenfalls nicht befriedigt werden und
daß es früher oder später zu Bindungsenttäuschungen
kommen wird. Es hat sich bewährt, Zuwendung und emotionale Nähe
in der Dosis anzubieten, wie sie vom Patienten selbst reguliert werden
kann, zum Beispiel indem der Patient die Stundenfrequenz mitbestimmen kann."
Angemessene Handhabung Anfangen, Unterbrechen, Beenden
"Besonderes Augenmerk muß auch auf bindungs- und trennungsrelevante
Situationen gerichtet werden. Hierzu gehören der Stundenanfang, das
Stundenende, Unterbrechungen der Behandlung durch das Wochenende, Urlaub
und Erkrankungen. Auch das Ende der Behandlung oder eine Wiederaufnahme
der Behandlung zu einem späteren Zeitpunkt sind unter diesem Gesichtspunkt
von Bedeutung. Gerade in diesen Situationen wird das Bindungsbedürfnis
der Patienten aktiviert, und dadurch ausgelöste Affekte werden einer
Bearbeitung zugänglich."
Bedeutung des Bindungsgegenspielers Explorationsverhalten der PatientIn
"Neben einem Fokus auf bindungsrelevanten Erlebnissen besteht ein zweiter
Fokus auf der Explorationsseite. Auch die Explorationsbedürfnisse
eines Kindes können durch Interaktionen mit der Mutter und anderen
relevanten Bezugspersonen in der frühkindlichen Zeit behindert, ja
extrem verzerrt oder gestört worden sein. Grund für eine Störung
im Explorationsverhalten kann etwa mangelnde Bindungssicherheit der Mutter
sein. Man kann sich vorstellen, daß durch elterliche Psychopathologie
ein Kind extrem von einem Elternteil "geklammert" wird. Wegen elterlicher
Ängste werden keine Explorationsmöglichkeiten für das Kind
zugelassen.
Auch die Explorationsseite wird früher oder
später in der psychotherapeutischen Interaktion aktiviert. Wenn der
Therapeut die Notwendigkeit zur Exploration nicht anerkennt, kann das Verhalten
der Patienten leicht als Widerstand gegen die Bearbeitung, als Agieren
oder Vermeidung der Übertragungsbeziehung gedeutet werden. Ein Therapeut,
der um den Zusammenhang von Bindung und Exploration weiß, wird überlegen,
ob die Explorationsfreude des Patienten auch als Hinweis auf eine wachsende
sichere Basis gesehen werden kann. Er wird den Patienten darin unterstützen,
sich an seinen Explorationsmöglichkeiten und Erfahrungen zu freuen,
und dieses Verhalten dem Patienten eher nicht als Widerstandsform oder
Abwehrleistung deuten." [<104]
End-Fußnoten - soweit in der Darstellung und Besprechung erfaßt
- des Autors Karl Heinz Brisch
Aus Kapitel 1
EN03 Für
eine ausführlichere Darstellung der Bindungstheorie, insbesondere
auch mit psychometrischen Angaben zu den Methoden der Bindungsforschung
sowie zu den Ergebnissen der statistischen Analysen aus verschiedenen Studien,
wird auf andere Quellen verwiesen (Buchheim, Brisch & Kächele,
1998; Schmidt & Strauß, 1996; Spangler & Zimmermann, 1995;
Strauß & Schmidt, 1997).
EN04 Im folgenden spreche ich auch von 'Bindungsbeziehung'
und meine damit den spezifischen Teil des Bindungssystems innerhalb der
Beziehung. Die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind wird aber nach
Ende (1989) noch durch eine Vielzahl von anderen Aspekten bestimmt, wie
z. B. durch das Mitteilen und Regulieren von Affekten, durch Regulation
von physiologischen Bedürfnissen, durch Lernen, Spiel und Selbstkontrolle.
EN05 In der Regel ist auch heute noch
die Mutter die primäre Bezugsperson, so daß ich im weiteren
Kontext auch die Mutter als primäre Bezugsperson annehme. Grundsätzlich
können aber auch etwa der Vater, die Großmutter, eine älteres
Geschwister, die Tagesmutter oder andere wichtige Personen für den
Säugling zur primären Bezugsperson werden.
EN06 Die Bedeutung der frühen
Interaktionen zwischen Mutter und Säugling für die Herstellung
der Bindung erinnert auch an die von Stern (1989) angenommene Konstruktion.
Stern geht von repetitiven interaktiven Verhaltensmustern zwischen Mutter
und Kind aus, die internalisiert und repräsentativ als generalisierte
Muster abgespeichert werden.
EN07 Nach Stern (1992) besteht
das Bindungs-Arbeitsmodell aus vielen verschiedenen generalisierten Interaktionsrepräsentationen.
Diese bilden die "basalen Bausteine des Arbeitsmodells". Das Arbeitsmodell
ist somit nach Stern eine übergeordnete Struktur. Neue Interaktionserfahrungen
werden in das Arbeitsmodell aufgenommen, alte möglicherweise getilgt.
So kann man sich eine Veränderung im Sinne einer Reorganisation des
Arbeitsmodells auf längere Sicht vorstellen (S. 165 ff).
EN08 Ausgehend von der Säuglingsforschung
hat Lichtenberg (1989) Bindung und Exploration in einen umfassenderen Kontext
von motivationalen Systemen eingebettet. Als Motivationssysteme werden
von ihm das System zur Regulation physiologischer Anforderungen (es wird
besonders an Hunger, Durst, Wärmeregulierung und ähnliche körperliche
Bedürfnisse gedacht), weiterhin das System zur Bindung sowie das zur
Exploration angeführt. Dies wird später um das System der "selfassertion"
erweitert, das heißt die Fähigkeit des Kindes, sich als ein
selbstaktives und "selbst etwas in Bewegung setzendes Wesen" zu erfahren,
sowie um das System der "aversion", das heißt die Fähigkeit,
auf bedrohliche, gefährliche Reize mit Abwohr zu reagieren, und schließlich
das System der sinnlichen und sexuellen Bedürfnisbefriedigung.
EN09 Die
Untersuchungen von Papousek (1977) haben gezeigt, daß Säuglinge
schon sehr früh in der Lage sind, Zusammenhänge zwischen externen
Reizen, ihren Aktionen und der Auslösung von Reaktionen zu realisieren
und auch aktiv herzustellen, mit einem deutlichen Gefühl der Selbsteffektivität,
die mit freudiger Erregung einhergeht.
EN10 Wenn ein Säugling
bereits laufen kann, aber dennoch im Alter von einem Jahr für viele
Stunden am Tag in einen 1 m2 großen Laufstall gesetzt wird, so sind
seine Explorationsbedürfnisse nicht befriedigt. Wenn er dagegen in
diesem Alter das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden erkunden kann,
so wird es dringend notwendig sein, ihm Grenzen zu setzen. Der altersgemäße
Erkundungsraum und die dazugehörigen Grenzen müssen sich der
jeweilige Altersentwicklung anpassen und entsprechend ausgeweitet werden,
ohne aber zu eng oder zu weit zu sein.
EN12 Diese "zielkorrigierte
Partnerschaft" entwickelt sich während der Kindheit und gestaltet
sich je nach altersentsprechenden Forderungen. Becker-Stoll (1997) untersuchte
in einer Studie mit Jugendlichen, wie sich diese "zielkorrigierte Partnerschaft"
in einem Streitgespräch zwischen dem Adoleszenten und der Bezugsperson
im Hinblick auf die Aufgabe einer gemeinsamen Urlaubsplanung gestaltete.
EN13 Die eine Mutter wacht bei dem
kleinsten Laut ihres Kindes nachts auf; andere Mütter berichten von
einem so tiefen Schlaf, daß ihr Kind bereits in Panik schreiend im
Bett steht, bevor sie ihrerseits wach werden und auf das Weinen ihres Kindes
reagieren können. Das Ausmaß der Sensibilität wird aber
nicht nur von der inneren Befindlichkeit der Mutter bestimmt, sondern auch
von den sozialen Randbedingungen. So kann eine Mutter, die von ihrem Partner
unterstützt wird, sich besser auf die Bedürfnisse ihres Kindes
konzentrieren als eine Mutter, die wegen Erschöpfung und Überforderung
abends todmüde ist und kaum mehr die Kraft aufbringt, auf das wahrgenommene
laute Weinen ihres Kindes angemessen zu reagieren.
EN14 Bei Feldforschungen in
Papua-Neuguinea konnte nicht beobachtet werden, daß Mütter,
die dort traditionsgemäß ihre Säuglinge die meiste Zeit
des Tages an ihrem Körper tragen, von diesen mit deren Ausscheidungen
beschmutzt wurden. Man könnte dieses Phänomen so erklären,
daß eine feinfühlige Mutter etwa an der zunehmenden Unruhe ihres
Kindes wahrnimmt, wann es bereit ist, Stuhl abzusetzen (Wulf Schiefenhövel,
mündliche Mitteilung). Ähnliche Beobachtungen wurden auch in
einer Studie in Ost-Afrika gemacht (deVries & deVries, 1977).
EN16 In klinischen Stichproben
wurden bei bis zu 80 Prozent der Probanden desorganisierte Verhaltensweisen
gefunden, dagegen nur bei 10-25 Prozent der Probanden in Stichproben aus
der Mittelschicht (van IJzendoorn et al., 1992).
Aus Kapitel 2