Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=11.06.2001 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 02.03.15
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Kommunikation:  Stubenlohstr. 20    D-91052 Erlangen * Mail: sekretariat@sgipt.org

    AnfangBindungsstörungen__ Überblick  __  Rel. Aktuelles __  Rel. Beständiges __ Titelblatt __ Konzept __ Archiv __ Region  __ Service-iec-verlag __Zitierung  &  Copyright _

    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Entwicklungspsychologie, Bereich Bindung, und hier speziell zum Thema:

    "Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie"

    Brisch, Karl Heinz (1999). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta. 309 Seiten, mit Register. DM 58.-
           Zum Autor: Karl Heinz Brisch ist Psychiater, Neurologe, Kinder- und Jugendpsychiater sowie Facharzt für psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker. Er arbeitete als Oberarzt in der Abteilung Psychotherapie und Psychosomatische Medizin und leitete die Ambulanz für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm. Dozent am Psychoanalytischen Institut der "Stuttgarter Gruppe". Zur Zeit ltd. Arzt der Kinderpsychosomatik an der LMU München.

    Engagierte Rezension in 8 Teilen von Rudolf Sponsel, Erlangen (Eingang 9.9.2000)

        Teil 0 Einführung, Rahmen, Perspektive, Inhaltsverzeichnis
        Teil 1 Die Bindungstheorie und ihre Konzepte  (1.Teil Würdigung John Bowlby)
        Teil 2 Bindungsstörungen
        Teil 3 Bindungstherapie
        Teil 4 Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis
        Teil 5 Ausblick auf weitere Anwendungsgebiete der Bindungstheorie
        Teil 6 Fragen des Adult-Attachment-Interviews
        Teil 7 Zusammenfassung
     


    Einführung, Rahmen und Perspektive

    Die Bindungstheorie ist eine der bedeutungsvollsten entwicklungspsychologischen  Errungenschaften der letzten 50 Jahre (John Bowlby [1907-1990], oft grundlegend falsch verstanden; Mary Ainsworth und die deutsche Forschungsgruppe Grossmann, Regensburg; und viele andere neben diesen großen drei Namen) mit großer Bedeutung für die differentielle Psychologie der Persönlichkeit, für die Sozialpsychologie zwischenmenschlicher Beziehungen (Freundschaften, Partnerschaft, Liebe und Familie) und für die klinische Psychologie, Psychopathologie und Psychotherapie. Besondere Anwendungen ergeben sich für familienrechtspsychologische Fragestellungen (Sorge, Umgang, Pflege und Adoption, das elterliche Entfremdungssyndrom ["PAS"]) und auch für die Psychotherapie der Persönlichkeitsstörungen.

    Die Besprechung, Beurteilung und Bewertung erfolgt aus der Perspektive allgemeiner und integrativer Psychologie, Psychopathologie, Psychodiagnostik und Psychotherapie. Meinen grundlegenden Standpunkt zu den Problemen des Bindungskonzeptes, seiner Operationalisierung und "Messung" habe ich vor Jahren ausgeführt [hier].

    Auf grundlegende Probleme der Bindungsforschung und Bindungstheorie und ihre teils einseitige  bis fragwürdige und schulenspezifische Auslegung wird kritisch eingegangen.



    Inhalt
    Danksagung 11
    Vorwort von Lotte Köhler 13
    Vorwort des Autors 19
    Einleitung 23

    Teil 1: Die Bindungstheorie und ihre Konzepte
    Historischer Überblick  29
    Entwicklung der bindungstheoretischen Konzepte 35
        Grundannahmen der Bindungstheorie  35
        Konzept der Feinfühligkeit 40
        Konzept der kindlichen Bindungsqualität 44
        Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität 46
        Konzept der Bindungsrepräsentation 50
        Bindung zwischen den Generationen und im Verlauf des Lebens 54
        Bedeutung von Schutz- und Risikofaktoren 58
        Bindung und Trennung in anderen psychotherapeutischen Schulen 61

    Teil 2: Bindungsstörungen
    Bindung und Psychopathologie  75
    Theorie der Bindungsstörung 77
    Bindungsklassifikation in diagnostischen Manualen 80
    Diagnostik und Typologie von Bindungsstörungen  83
        Keine Anzeichen von Bindungsverhalten  83
        Undifferenziertes Bindungsverhalten  84
        Übersteigertes Bindungsverhalten  86
        Gehemmtes Bindungsverhalten  87
        Aggressives Bindungsverhalten   87.
        Bindungsverhalten mit Rollenumkehrung  88
        Psychosomatische Symptomatik   89
        [Ohne Überschrift Bemerkungen zur Erwachsenentherapie S. 90-91]

    Teil 3 Bindungstherapie
    Theorie der Therapie  93
    Technik der Behandlung  96
        Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von  Erwachsenen  96
        Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen 100
        Spezielle Gesichtspunkte  103

    Teil 4 Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis
    Präkonzeptionelle Bindungsstörung 107
        Der unerfüllt Schwangerschaftswunsch - Bindungsangst vor dem phantasierten Kind 107
    Pränatale Bindungsstörung 116
        Angst der Schwangeren vor der Lösung der Bindung durch die bevorstehende Geburt   116
        Schwangerschaftskomplikationen und Risikoschwangerschaft  123
        Pränatale Fehlbildungsdiagnostik 129
    Postnatale Bindungsstörung  136
        Postpartal depressive Mutter 136
        Postnatal psychotische Mutter  142
        Trauma der Frühgeburt  149
    Bindungsstörungen im Kleinkindalter  152
        Keine Anzeichen von Bindungsverhalten  153
        Undifferenziertes Bindungsverhalten  160
            Soziale Promiskaität   160
            Unfall-Risiko-Verhalten  163
        Übersteigertes Bindungsverhalten  165
            Exzessives Klammern  165
            Übermäßige Anpassung    171
            Aggressive Symptomatik  173
            Rollenumkehr  176
        Psychosomatische Symptomatik  179
            Wachstumsretardierung 179
            Eßstörung 183
    Bindungsstörungen im Schulalter 187
        Schulangst 188
        Leistungsverweigerung 194
        Aggressivität 198
    Bindungsstörungen in der Adoleszenz 202
        Suchtsymptomatik 202
        Dissozialität und Delinauenz 208
        Neurodermitis 214
    Bindungsstörungen bei Erwachsenen 224
        Angst-, Panik- und Agoraphobie-Symptomatik 224
        Depressive Symptomatik 234
        Narzißtische Symptomatik 240
        Borderline-Symptomatik 247
        Psychotische Symptomatik 254
        Altersdepression 259
    Zusammenfassende Bemerkungen 264

    Teil 5: Ausblick auf weitere Anwendungsgebiete der Bindungstheorie
    Prävention  267
    Familientherapie  272
    Gruppenpsychotherapie  274
    Padagogik  275
    Kritischer Ausblick  276

    Anhang
    Fragen des Adult-Attachment-Interviews  281
    Anmerkungen  287
    Bibliographie 292
    Register 307



    Die Seitenangaben im Originaltext {S. zzz} und die Fußnoten des Autors Karl heinz Brisch werden aus technischen Gründen in geschweiften Klammern {ENzz} als fortlaufende Endnoten mitgeteilt; einige Kursivüberschriften wurden hier nicht kursiv, dafür fett dargestellt. Noch nicht kontroll-korrektur-gelesen.


    Teil 1 Die Bindungstheorie und ihre Konzepte

    Angesichts der Bedeutung, die der Arzt, Psychoanalytiker und spätere medizinische Entwicklungspsycholge John Bowlby für die Bindungsforschung hat, beginnen wir den 1. Teil mit einer Würdigung seiner Leistungen und einer kurzen Fachbiographie und folgen hierbei den Ausführungen Karl-Heinz Brisch. Damit wird auch ein wichtiges Stück Psychoanalysegeschichte geschrieben, die - durch Bowlbys Arbeit -  auch zeigt, wie die Psychoanalyse in die Wissenschaft integriert werden kann.

    Interner Link Zur Würdigung John Bowlbys nach Brisch

    Der Autor entfaltet sodann die Grundlagen und (psychoanalytische) Geschichte der Bindungstheorie und wirft auch einen Blick über den Zaun bis hin zu Grawe (1998).

    "Entwicklung der bindungstheoretischen Konzepte {EN03}
    Grundannahmen der Bindungstheorie

    Definition von Bindung und Bindungstheorie
    Bowlby betrachtet Mutter und Säugling als Teilnehmer in einem sich wechselseitig bedingenden und selbstregulierenden System. Die Bindung zwischen Mutter und Kind innerhalb dieses Systems unterscheidet sich von "Beziehung" dadurch, daß "Bindung" lediglich als ein Teil des komplexen Systems der Beziehung verstanden wird. {EN04}
    Die Bindungstheorie verbindet ethologisches, entwicklungspsychologisches, systemisches und psychoanalytisches Denken. In ihren Annahmen befaßt sie sich mit den grundlegenden frühen Einflüssen auf die emotionale Entwicklung des Kindes und versucht, die Entstehung und Veränderung von starken gefühlsmäßigen Bindungen zwischen Individuen im gesamten menschlichen Lebenslauf zu erklären.

    Das Bindungssystem
    Nach Bowlby stellt das Bindungssystem ein primäres, genetisch verankertes motivationales System dar, das zwischen der primären Bezugs{S. 35}person {EN05} und dem Säugling in gewisser biologischer Präformiertheit nach der Geburt aktiviert wird und überlebenssichernde Funktion hat. Der Säugling sucht besonders dann die Nähe zu seiner Mutter, wenn Angst erlebt. Dies kann etwa der Fall sein, wenn er sich von seiner Mutter getrennt fühlt, unbekannte Situationen oder die Anwesenheit emder Menschen als bedrohlich erlebt, wenn er etwa an körperlichen chmerzen leidet oder sich in Alpträumen von seinen Phantasien überwältigt fühlt. Er erhofft sich von der Nähe zu seiner Mutter Sicherheit, Schutz und Geborgenheit. Das Nähesuchen wird durch Blickkontakt zur Mutter, aber auch besonders durch Nachfolgen und Herstellen von örperlichem Kontakt mit der Mutter erreicht. Dabei ist das Kind immer in aktiver Interaktionspartner, der seinerseits signalisiert, wann Bedürfnisse nach Nähe und Schutz auftauchen und befriedigt werden vollen.

    Feinfühligkeit und Bindungsqualität
    'Feinfühliges Verhalten' der Bezugsperson besteht darin, daß diese in der Lage ist, die Signale des Kindes wahrzunehmen (z. B. sein Weinen), sie richtig zu interpretieren (z. B. als Suche nach Nähe und Körperkontakt) und sie auch angemessen und prompt zu befriedigen. Dies geschieht in den vielfältigen alltäglichen Interaktionen unzählige Male. {EN06}
    Der Säugling entwickelt häufiger zu derjenigen Bezugsperson eine sichere Bindung, die durch ihr Pflegeverhalten seine Bedürfnisse feinfühlig in der oben beschriebenen Art und Weise befriedigt. Werden dagegen die Bedürfnisse in den Interaktionen mit der Bezugsperson gar nicht, nur unzureichend oder inkonsistent - etwa in einem für den Säugling nicht vorhersagbaren Wechsel zwischen Verwöhnung oder Überstimulation und zu großer frustrierender Versagung - beantwortet, entwickelt sich häufiger eine unsichere Bindung.

    Hierarchie der Bindungspersonen
    Ist die Hauptbezugsperson bei drohender Gefahr nicht anwesend oder wird das Kind von ihr getrennt, reagiert es mit Kummer, Weinen, Wut und begibt sich aktiv auf die Suche nach seiner Bindungsperson. Der Säugling bildet im Laufe des ersten Lebensjahres eine Hierarchie von verschiedenen Bezugspersonen aus, die entsprechend ihrer Verfügbarkeit und dem Ausmaß der erlebten Trennungsangst in einer bestimmten Rangfolge vom Kind aufgesucht werden. Ist zum Beispiel die Mutter als primäre Bezugsperson bei drohender Gefahr nicht erreichbar, dann {S. 36} kann das Kind auf eine sekundäre Bezugsperson (z. B. den Vater) zur emotionalen Versicherung zurückgreifen. Je größer der Schmerz oder die Angst - etwa bei einer gefährlichen Verletzung oder bei einer schwerwiegenden Erkrankung -, desto eindringlicher und kompromißloser wird das Kind auf der Anwesenheit der primären Bindungsperson bestehen und sich nicht durch seine sekundäre Bezugsperson trösten lassen.

    Innere Arbeitsmodelle
    Aus vielen Interaktionserlebnissen, in denen sich Mutter und Säugling voneinander trennten und auch wieder Nähe zueinander herstellten, bildet der Säugling im Laufe des ersten Lebensjahres innere Modelle des Verhaltens und der damit verbundenen Affekte von sich und der Mutter aus, sogenannte "innere Arbeitsmodelle" ("inner working models"; {EN07} Bowlby, 1975; Main, Kaplan & Cassidy, 1985). Diese Modelle machen das Verhalten der Bezugsperson und des Kindes in Bindungssituationen vorhersagbar. Das Kind lernt im Laufe des ersten Lebensjahres: Wenn ich in Gefahr gerate, weine und meine Bezugsperson als meine emotional sichere Basis - quasi als "Heimathafen" - aufsuche, wird diese mir zur Verfügung stehen und meine Bindungsbedürfnisse mit einer bestimmten charakteristischen Nähe oder Distanz sowie einem umfassenden Verhaltensrepertoire beantworten. Für jede einzelne Bezugsperson, etwa für Mutter und Vater getrennt, werden eigenständige unterschiedliche Arbeitsmodelle entwickelt.
    Ein solches Arbeitsmodell ist anfangs noch flexibel, im weiteren Verlauf der Entwicklung wird es zunehmend stabiler und entwickelt sich zu einer psychischen Repräsentanz, der sogenannten ,Bindungsrepräsentation’. Arbeitsmodelle und Repräsentationen können teils bewußt, teils unbewußt sein. Man kann sich leicht vorstellen, daß eine sichere, stabile Bindungsrepräsentation Teil der psychischen Struktur wird und damit auch zur psychischen Stabilität beiträgt.

    Stabilität der Bindungsrepräsentationen
    Im Lauf des Lebens kann sich die Bindungsrepräsentation noch durch entsprechende be-deutungsvolle Bindungserfahrungen mit anderen Bezugspersonen oder durch einschneidende Erlebnisse wie Verluste und andere traumatische Erfahrungen in eine unsichere oder sichere Richtung der Bindung modifizieren. Dies wird mit zunehmendem Alter aber immer schwieriger. Wir finden so einerseits Entwicklungen mit Konti{S. 37}nuitäten von der Bindungsqualität des Säuglings mit 12 Monaten bis zur Bindungsrepräsentation in der Adoleszenz, andererseits aber auch Diskontinuitäten mit Wechseln in der Bindungsqualität im Lebenslauf (siche auch Zimmermann et al., 1995).

    Explorationssystem
    Dem Bindungsbedürfnis steht das Explorationsbedürfnis des Säuglings gegenüber, das von Bowlby (1975) als weiteres starkes motivationales System betrachtet wird. {EN08} Obwohl das Bindungssystem und das Explorationssystem entgegengesetzten Motivationen entspringen, stehen sie wechselseitig zueinander in Abhängigkeit.
    Nach Bowlby kann der Säugling dann ausreichend seine Umwelt erkunden und auch Angst während seiner Entfernung von der Mutter aushalten, wenn er dies von der Mutter als sicherer emotionaler Basis aus tun kann. Eine sichere Bindung ist also Voraussetzung dafür, daß ein Säugling seine Umwelt erforschen und sich dabei als selbsteffektiv und handelnd erfahren kann. {EN09}
    Von Anfang an und verstärkt mit zunehmender motorischer Entwicklung ab dem Krabbelalter mit 7-8 Monaten wird es notwendig sein, daß eine Mutter dem Explorationsbedürfnis des Säuglings einerseits Raum gibt und andererseits auch Grenzen setzt. {EN10} Gleichzeitig muß sie aber immer wieder als sichere Basis für die visuelle Rückversicherung des Säuglings während der Exploration zur Verfügung stehen, was von Emde (Emde & Sorce, 1983) als "social referencing" beschrieben wurde. Kehrt der Säugling von seinem Erkundungsgang zur Mutter zurück, muß er sich bei ihr emotional angenommen fühlen. Dieses Verhalten wurde von Mahler (Mahler et al., 1978) auch als "emotionales Auftanken des Säuglings" bezeichnet.

    Wechselwirkung zwischen Bindungssystem und Explorationssystem
    Wenn die Bindungsbedürfnisse des Kindes befriedigt werden und es bei der Bezugsperson eine emotionale Sicherheit erleben kann, wird das Bindungssystem bernhigt, und der Säugling kann seiner Neugier in Form von explorativem Verhalten nachgehen. Hierzu wird er sich mehr oder weniger weit von der Bezugsperson entfernen können, ohne emotional in Streß zu geraten." Bei Aktivierung des Bindungssystems wegen zu großer Entfernung oder wegen angstmachender Entdeckungen wird die Exploration zunehmend eingeschränkt und die räumliche oder sogar körperliche Nähe zu der Bezugsperson gesucht, die {S. 38} die sicherste emotionale Basis für das Kind darstellt. Die Selbststeuerung des Säuglings in bezug auf Distanz und Nähe zur Mutter wird von einer feinfühligen Bindungsperson akzeptiert. Die Mutter kann sich darauf verlassen, daß ihr Kind bei Streßerfahrung ihre Nähe sucht. Tritt dieses erwartete Verhalten nicht ein, ist zu vermuten, daß es etwa aufgrund von Erfahrungen der Zurückweisung bereits aktiv unterdrückt wurde. Bei empfundener Sicherheit ist das Explorationsverhalten "vorprogrammiert" und muß nicht erzwungen werden. Inititative und Steuerung für Bindungs- und Explorationsverhalten gehen jeweils vom Kind aus.
    Wenn die Mutter ihren Säugling übermäßig bindet, stellt sie zwar mit ihrem Kind eine nahe Bindung her, gleichzeitig gewährt sie aber keinen ausreichenden Spielraum für dessen Bedürfnisse nach Exploration und frustriert auf diese Weise ihr Kind. Dies kann etwa aus Angst vor möglichen Verletzungsgefahren für das Kind während der Explora-tion oder aufgrund eigener drohender Verlassenheitsängste geschehen.

    Zielkorrigierte Partnerschaft
    Bis zum Kindergartenalter entwickelt sich zwischen Bindungsperson und Kind zunehmend eine sogenannte "zielkorrigierte Partnerschaft": Es besteht beim Kind in seinen motivationalen Systemen zwischen Bindungsbedürfnissen und Explorationswünschen so weit eine Balance, daß das Aushandeln und Verhandeln von gemeinsamen Zielen etwa zum Zweck einer gemeinsamen Spielaktivität immer besser möglich wird (Bowlby, 1976).
    Beide Partner können dabei in die Beziehung ihre emotional wichtigen Ziele einbringen, die möglicherweise unterschiedlichen Interessen des Partners hören, sie reflektieren und schließlich die gemeinsamen Ziele partnerschaftlich verhandeln und korrigieren. {EN12}

    Bindung und Exploration im Verlauf des Lebens
    Die wechselseitige Beziehung zwischen Bindung und Exploration ist nach der Bindungstheorie kein Phänomen, das nur in der Säuglingszeit besteht. Diesen Prozeß hat Bowlby vielmehr als einen beständigen Vorgang im Laufe des gesamten Lebens betrachtet. Die Spannung zwischen den Polen Bindung und Exploration muß dabei immer wieder neu wie auf einer "Wippe" ausbalanciert werden, da Bindung und Exploration wie These und Antithese zueinander in Beziehung stehen. {S. 39}

    Weitergabe von Bindungsmustern zwischen den Generationen
    Die Bindungsqualität des Säuglings hängt mit der Bindungsrepräsentation der Bezugspersonen zusammen, die ihn pflegen und mit ihm spielen. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Qualität der Bindungsrepräsentation der Elterngeneration und der Bindungsqualität, die sich im Säuglingsalter entwickelt. Es gibt Hinweise, daß die Qualität der Bindung von der Eltern- auf die Kindergeneration weitergegeben wird.

    Sichere Bindung als Schutzfaktor
    Einer sich im Säuglingsalter entwickelnden sicheren Bindungsqualität wird eine protektive Funktion für den Entwicklungsverlauf des Kindes zugeschrieben. Prosoziale Verhaltensweisen werden entsprechend den Ergebnissen der Längsschnittstudien hierdurch gefördert und eine gewisse belastbare psychische Stabilität ("resilience") erreicht.

    Konzept der Feinfühligkeit
    Im folgenden werde ich das Konzept der Feinfühligkeit und andere wesentliche Konzopte der Bindungstheorie differenzierter erläutern.
    Nach Auffassung der Bindungstheorie bildet die Feinfühligkeit der Pflegeperson eine wesentliche Grundlage für die Qualität der Bindung, die der Säugling im Laufe seines ersten Lebensjahres entwickelt.
    Das Konzept der Feinfühligkeit wurde im wesentlichen von Mary  Ainsworth entwickelt. Auf dem Hintergrund der Bindungstheorie hatte,  sie schon in Uganda bei Hausbesuchen das Pflegeverhalten von Müttern bei ihren Säuglingen studiert. Danach untersuchte sie in Baltimore in der ersten Längsschnittstudie bei einer kleinen Gruppe von 23 Kindern ebenfalls in regelmäßigen Hausbesuchen das Interaktionsverhalten von Müttern mit ihren Säuglingen im Laufe des ersten Lebensjahres. Sie bestimmte dann an der von ihr entwickelten standardisierten Untersuchung zum Trennungsverhalten, der sogenannten "Fremden Situation", die Bindungsqualität dieser Kinder. Hierbei konnte sie feststellen, daß Kinder von Müttern mit feinfühligem Pflegeverhalten häufiger in der Fremden Situation das Verhaltensmuster zeigten, das zueiner sicheren Bindungsklassifikation führte. Der umgekehrte Befund, nämlich häufiger eine unsichere Bindung, ergab sich bei Kindern mit weniger feinfühligen Müttern (Ainsworth et al., 1978). {S. 40}

    Unter feinfühligem Pflegeverhalten versteht Ainsworth folgende charakteristische Verhaltensweisen (1977):
     

      1. Die Mutter muß in der Lage sein, die kindlichen Signale mit größter Aufmerksamkeit wahrzunehmen. Verzögerungen in ihrer Wahrnehmung können durch äußere oder innere Beschäftigung mit eigenen Bedürfnissen und Befindlichkeiten entstehen.

      2. Sie muß die Signale aus der Perspektive des Säuglings richtig deuten, etwa das Weinen des Kindes in seiner Bedeutung entschlüsseln (Weinen wegen Hunger, Unwohlsein, Schmerzen, Langeweile). Dabei besteht die Gefahr, daß die Signale des Säuglings durch die eigenen Bedürfnisse sowie die Projektionen dieser Bedürfnisse auf das Kind verzerrt oder falsch interpretiert werden.

      3. Sie muß angemessen auf die Signale reagieren, also etwa die richtige Dosierung der Nahrungsmenge herausfinden, eher beruhigen oder Spielanreize bieten, ohne durch Über- oder Unterstimulation die Mutter-Kind-Interaktion zu erschweren.

      4. Die Reaktion muß prompt, also innerhalb einer für das Kind noch tolerablen Frustrationszeit erfolgen. So ist die Zeitspanne, in der ein Säugling auf das Gestilltwerden warten kann, in den ersten Wochen sehr kurz, wird aber im Laufe des ersten Lebensjahres immer länger.


    In der Regel fällt es den Bezugs- und Pflegepersonen relativ leicht, Signale des Kindes wahrzunehmen. Bei Hausbesuchen und auch während der klinischen Beobachtung von Mutter- Kind- Interaktionen kann man aber feststellen, daß die Zeiten, die vergehen, bis Mütter auf die registrierten kindlichen Signale (Weinen, Rufen, Jammern und Klagen) reagieren, verschieden lang sein können. {EN13}
    Besonders diskrete und nur angedeutete Signale des Kindes können sicherlich nur von sehr feinfühligen Müttern wahrgenommen werden. {EN14}
        Viel größere Probleme bereitet aber schon die Forderung, die Signale richtig zu verstehen. Aus den Ulmer Elternseminaren wissen wir, daß es vielen Eltern besonders bei ihrem ersten Kind anfangs große Schwierigkeiten bereitet, das Weinen richtig zu interpretieren. Nach einiger Zeit gelingt es den meisten Müttern zu unterscheiden, ob das Weinen des Kindes mit Hunger, Langeweile, Protest, Schmerz, mit einer "vollen Windel" oder mit Uberstimulation zu erklären ist. Die meisten Pflege- und Bezugspersonen brauchen erst eine Phase des Ausprobierens, um allein das Signal des Weinens mit den dahinterlie-{S. 41}genden Wünschen und Motivationen des Säuglinges richtig zu interpretieren (Papousek, 1994).
        Auch die angemessene Reaktion auf die richtig interpretierten Signale muß von den meisten Bezugspersonen erst erlernt werden. Sie müssen bei jedem einzelnen ihrer Kinder neu herausfinden, wann etwa sein Hungergefühl, sein Bedürfnis nach Körperkontakt, Anregung oder nach Ruhe ausreichend befriedigt ist. Erfahrungen mit einem ersten Kind können nicht einfach auf nachfolgende Geschwister übertragen werden, weil jedes Kind ein anderes Temperament hat, Reize anders auf-nimmt und seine Wünsche und Bedürfnisse auf seine jeweils individuelle Art äußert (Crockenberg, 1986)."

    Es wird sodann der von Mary Ainsworth entwickelte Standardversuch "Fremde Situation" für die Entwicklungszeit 12. bis 18. Monat dargestellt (S. 44-46}. Brisch meint: "Obwohl man kritisch anmerken kann, daß die Fremde Situation nur eine spezifische Situation aus der Mutter- Kind- Interaktion beobachtet, für diese eine "Momentaufnahme" darstellt und in der Auswertung spe-{S. 44}ziell das Verhalten des Kindes unter Vernachlässigung der mütterlichen Reaktionen untersucht wird, hat sich die Methode für die Untersuchung der Bindungsqualität des Kindes als valide und reliabel erwiesen (zur Kritik siehe Fox et al., 1991)." Ohne daß hier genauere Angaben gemacht werden, ist diese These erst einmal zu bezweifeln, zumal ja Entsprechungslisten für die verschiedenen Generalisierungen und Entwicklungsabschnitte fehlen. Der Bindungsbegriff droht mehr und mehr zu einer Metapher geworden. Betrachten wir nun aber erst die von Brisch übersichtlich dargelegten grundlegenden und gefundenen Bindungsmuster:

    Klassifikation der kindlichen Bindungsqualität
     
    Im Vorgriff sehr wichtig:
    Da mit der Popularisierung der Bindungstheorie immer mehr Vereinfachungen und grob falsche Interpretationen durch die Fach- und Nichtfachwelt geistern, erscheint es mir an dieser Stelle wichtig, besonders darauf hinzuweisen, daß die unsicheren Bindungsmuster nicht einfach allgemein als psychopathologische Muster interpretiert werden dürfen, sondern als "Adaptionsmuster im Rahmen durchschnittlicher Mutter-Kind-Beziehungen" anzusehen sind" (S. 77). Dazu später noch einmal S. 83 sehr deutlich und klar: 
    "Grundsätzlich ist anzumerken, daß die Diagnose einer Bindungsstörung nicht auf dem Vorliegen des Verhaltensmusters einer unsicheren Bindungsqualität beruht, da letzteres von der Bindungstheorie als ein im Rahmen der Norm liegendes Adaptationsmuster angesehen wird."

    "Sicher gebundene Kinder ("secure"):
    Diese Kinder zeigen deutliches Bindungsverhalten nach der ersten wie auch nach der zweiten Trennung von der Mutter. Sie rufen nach der {S. 46} Mutter, folgen ihr nach, suchen sie - auch längere Zeit -, weinen schließlich und sind deutlich gestreßt. Auf die Wiederkehr der Mutter reagieren sie mit Freude, strecken die Ärmchen aus, wollen getröstet werden, suchen Körperkontakt, können sich aber nach kurzer Zeit wieder beruhigen und dem Spiel erneut zuwenden.

    Unsicher-vermeidend gebundene Kinder ("avoidant"):
    Diese Kinder reagieren auf die Trennung nur mit wenig Protest und zeigen auch kein deutliches Bindungsverhalten. Sie bleiben in der Regel an ihrem Platz, spielen weiter, wenn auch mit weniger Neugier oder Ausdauer. Manchmal kann man erkennen, daß sie der Mutter mit den Augen nachfolgen, wenn diese den Raum verläßt, also das Verschwinden der Mutter tatsächlich auch registrieren. Auf die Rückkehr der Mutter reagieren sie eher mit Ablehnung und wollen nicht auf den Arm genommen und getröstet werden. In der Regel kommt es auch zu kei-nem intensiven Körperkontakt.

    Unsicher-ambivalent gebundene Kinder ("ambivalent"):
    Diese Kinder zeigen nach den Trennungen den größten Streß und wei-nen heftig. Nach der Rückkehr der Mutter können sie von dieser kaum beruhigt werden. In der Regel braucht es längere Zeit, bis diese Kinder wieder einen emotional stabilen Zustand erreicht haben. Manchmal können sie auch nach mehreren Minuten nicht wieder zum Spiel zurückfinden. Wenn sie von ihren Müttern auf den Arm genommen werden, drücken sie einerseits den Wunsch nach Körperkontakt und Nähe aus, während sie sich andererseits gleichzeitig aggressiv gegenüber der Mutter verhalten (Strampeln mit den Beinen, Schlagen, Stoßen oder Sichabwenden).

    Kinder mit desorganisiertem Verhaltensmuster (Zusatzklassifikation):
    Mehrere Kinder konnten keiner der oben genannten Kategorien zugeordnet werden. Bei diesen Kindern konnten später typische Besonderheiten des Verhaltens identifiziert werden, die als "unsicher- desorganisiert/ desorientiert" beschrieben wurden (Main & Solomon, 1986). Dieses Desorganisationsmuster kann bei den drei bereits genannten Bindungsmustern als eine zusätzliche Codierung vergeben werden. Selbst sicher gebundene Kinder können in kurzen Sequenzen desorganisierte Verhaltensweisen zeigen. Diese sind dadurch charakterisiert, daß die Kinder etwa zur Mutter hinlaufen, auf der Hälfte des Weges { S. 47} stehenbleiben, sich umdrehen, von der Mutter weglaufen und den Abstand zu ibr vergrößern. Ihre Bewegungen können mitten im Bewegungsablauf erstarren und scheinbar "einfrieren" ("freezing"). Außerdem beobachtet man stereotype Verhaltens- und Bewegungsmuster. Diese Beobachtungen werden so interpretiert, daß das Bindungssystem dieser Kinder zwar aktiviert ist, ihr Bindungsverhalten sich aber nicht in ausreichend konstanten und eindeutigen Verhaltensstrategien äußert. Nachdem man bei den Kindern mit dem desorganisierten Muster bei physiologischen Messungen in der Fremden Situation ähnlich erhöhte Streßwerte wie bei den unsicher-gebundenen Kindern gefunden hat, rechnet man dieses Muster dann der Gruppe der unsicheren Bindungsqualitäten zu, wenn die spezifischen Verhaltensweisen in einem hohen Ausprägungsgrad vorhanden sind (Spangler & Grossmann, 1993).
        Das Desorganisationsmuster wurde überzufällig häufig bei Kindern aus klinischen Risikogruppen wie auch bei Kindern von Eltern gefunden, die ihrerseits traumatische Erfahrungen wie Verlust- und Trennungserlebnisse, Mißhandlung und Mißbrauch mit in die Beziehung zum Kind einbrachten (Main & Hesse, 1990). {EN16}
        Die als desorganisiert beschriebenen Verhaltensweisen erinnern an Verhaltensreaktionen, wie sie in klinischen Risikostichproben etwa bei ehemaligen Frühgeborenen (Minde, 1993) oder bei Kindern nach frühkindlicher Mißhandlung (Carlson et al., 1989) und Deprivation (LyonsRuth, Alpern & Repacholi, 1993; Lyons-Ruth et al., 1991) im Säuglings-, aber auch im Kleinkindalter in der Verhaltensbeobachtung gesehen werden können. Es ist anzunehmen, daß ein fließender Übergang zu psychopathologischen Verhaltensweisen besteht.
        Die prozentuale Verteilung der verschiedenen Muster der Bindungsqualität gestaltet sich so, daß ca. 50-60 Prozent der Kinder in den unterschiedlichen Längsschnittstudien als sicher, ca. 30-40Prozent als unsicher-vermeidend und ca. 10-20Prozent als unsicher-ambivalent gebunden klassifiziert wurden (Grossmann et al., 1997). Der Anteil von desorganisierten Verhaltensweisen ist je nach klinischer Ausgangsstichprobe unterschiedlich groß. Je höher die kindliche - auch biologische Risikobelastung oder je höher die elterliche - etwa psychische - Risikobelastung ist, die in die Interaktion mit den Kindern einfließt, desto ausgeprägter oder häufiger können auch die desorganisierten Verhaltensweisen sein, die zusätzlich zur Bindungsklassifikation gefunden werden (Grossmann, 1988).
        Es wurden mittelmäßig starke Zusammenhänge zwischen einem {S. 48} feinfühligen Pflegeverhalten der Bezugsperson und der Bindungssicherheit der Kinder gefunden: Feinfühlige Mütter haben mit einem Jahr häufiger sicher gebundene Kinder und weniger feinfühlige Mütter häufiger unsicher gebundene Kinder (van IJzendoorn, Juffer & Duyvesteyn, 1995). Die Zusammenhänge zwischen dem kindlichen Bindungsmuster und der elterlichen Feinfühligkeit wurden allerdings in der Baltimore-Studie von Ainsworth (Ainsworth et al., 1978) deutlich überschätzt. Während sie ursprünglich starke statistische Zusammenhänge zwischen dem feinfühligen Pflegeverhalten der Mütter und der Bindungsqualität ihrer Kinder fand, konnte dies in Replikationsstudien in dieser Ausprägung nicht mehr bestätigt werden. Beim augenblicklichen Stand der Forschung geht man davon aus, daß nur 12 Prozent der Varianz der kindlichen Bindungsmuster durch die mütterliche Feinfühligkeit aufgeklärt werden (De Wolff & van IJzendoorn, 1997).
        Zur weiteren Aufschlüsselung dieser Zusammenhänge müssen auch die individuellen Verhaltensbereitschaften des Säuglings als kindlicher Beitrag zur Interaktion berücksichtigt werden, weil sie als ein Faktor die Ausbildung der Bindungsqualität mitbestimmen. Kinder, die als Säuglinge durch eine schwächere Orientierungsreaktion und höhere Irritabilität auffielen, wurden später auch bei durchschnittlich feinfühligen mütterlichen Verhaltensweisen häufiger als unsicher gebunden in der Fremden Situation eingeschätzt (Grossmann et al., 1985).
        Als man den Einfluß von kindlichen Eigenschaften auf die Bindungsmuster festgestellt hatte, entstand eine kritische Diskussion, ob das jeweilige Bindungsverhalten nicht durch Unterschiede im Temperament des Kindes ausreichend erklärt werden könnte (Sroufe, 1985; Fox et al., 1991; Fox, 1992). Man kann heute davon ausgehen, daß das Temperament oder die genetisch bedingten Verhaltenseigenschaften und -bereitschaften des Kindes einen Beitrag zur Mutter- Kind- Interaktion im ersten Lebensjahr und zum interaktionellen Geschehen in der Fremden Situation leisten (van IJzendoorn & Bakermans- Kranenburg, 1997). Ein unruhiger Säugling - etwa mit Eßproblemen, unstillbarem Schreien oder ausgaprägten Schlafproblemen - wird auch eine durchschnittlich feinfühlige Mutter in ihren potentiellen Verhaltensweisen extrem herausfordern oder sogar überfordern. In der Klinik kann man beobachten, wie die Mutter- Kind- Interaktion mit diesen Säuglingen relativ rasch entgleisen kann und es im weiteren Verlauf zu massiven sekundären Verhaltensschwierigkeiten kommt (Papousek, 1996).
        Mit Hilfe von psychophysiologischen Untersuchungen wurde nach {S. 49}  gewiesen, daß alle Kinder in der Fremden Situation auch auf physiologischer Ebene mehr oder weniger gestreßt etwa mit einer Erhöhung der Herzfrequenz auf die Trennung von der Mutter reagieren. Die äußerlich so ruhig wirkenden unsicher-vermeidend gebundenen Kinder, denen man ursprünglich eine besondere Anpassungs- und Adaptationsfähigkeit und eine stärker entwickelte Selbständigkeit oder ein ruhigeres Temperament zugesprochen hatte, zeigten bei der Messung ihres Speichelkortisols als Maß des Streßerlebens sogar höhere Werte als die sicher oder auch unsicher-ambivalent gebundenen Kinder. Deshalb ist das unsicher-vermeidende Verhaltensmuster bereits eher als Abwehr- oder Adaptationsleistung des Säuglings zu verstehen. Dies hat eine erhöhte Streßbelastungsreaktion auf psychophysiologischer und auch auf hormoneller sowie immunologischer Ebene zur Folge (Reite & Field, 1985; Schieche & Spangler, 1994; Spangler, 1998; Spangler & Grossmann, 1993; Spangler & Schieche, 1995).

    Konzept der Bindungsrepräsentation
    Nachdem eine Methode zur Klassifikation der Bindungsqualität der Säuglinge und Kleinkinder vorlag, überlegte man, inwieweit die Bin-dungsrepräsentation der Eltern selbst einen Beitrag zur Bindungsqualität ihrer Kinder leisten könnte. Mary Main hat ein halbstrukturiertes Interview - das sogenannnte "Adult-Attachment-Interview" - entwickelt, um die Bindungsrepräsentation von Erwachsenen zu erfassen (George, Kaplan & Main, 1985; Main et al., 1985). Hierzu werden die Erwachsenen über ihre Kindheit und ihre Beziehung zu ihren Eltern befragt, etwa über Erinnerungen an konkrete Erlebnisse vor allem im Hinblick auf die Einschätzung von Situationen, in denen die Eltern Trost spendeten und auf Kummer des Kindes eingingen. Weiterhin werden Fragen gestellt über die Bedeutung von erinnerten Bindungen, Trennungen und Verlusten, zur Einschätzung des elterlichen Einflusses auf die persönliche Entwicklung, über Veränderungen in der Beziehung zu den Eltern im Vergleich zwischen früher und heute sowie zum heutigen Umgang mit Trennungen in der Beziehung zu den eigenen realen oder phantasierten Kindern (eine ausführliche Darstellung der Fragen des Adult-Attachment-Interviews findet sich im Anhang)."

        Eine kritische Würdigung des Adult-Attachment-Interview (AAI) soll bei der Präsentation im Schlußteil erfolgen. Ich habe jedoch große Bedenken hinsichtlich der Methodologie und Informationsgütekriterien.
        Karl Heinz Brisch wendet sich nun dem Referat "Bedeutung von Schutz- und Risikofaktoren" zu. Es dürfte nicht überraschen, daß die sog. sichere Bindung als wichtiger protektiver Faktor angesehen werden kann. Damit fing Bowlbys Forschung ja an. Überhaupt drängt sich mir an dieser Stelle die Bemerkung auf, daß doch vieles, was die Bindungsforschung an vermeintlich Neuem zutage fördert, klinischen PsychologInnen und PsychotherapeutInnen weitgehend bekannt und vertraut erscheint.
        Es folgt nun der Abschnitt "Bindung und Trennung in anderen psychotherapeutischen Schulen", der für mich weitgehend unverständlich und dunkel bleibt, hier werden der Reihe nach die Konzepte vorgestellt: Freud, Anna Freud, Spitz, Winnicott ("Übergangsobjekt [RS01], Übergangsphänomen"), Edith Jacobson, Margaret Mahler, Melanie Klein, Balint, Kohut, Daniel Stern, C. G. Jung und Jacoby, Lenrtheoretische Modelle, Grawe (1998),  Interpersonelle Psychotherapie (Schramm) und Systemtheoretische Modelle.
        Der wirkliche Unterschied zwischen den psychoanalytisch orthodoxen TriebtheoretikerInnen und Bowlby wird nicht klar. Ich habe so viel verstanden: Bei Bowlby gibt es ein differenzierteres Motivationssystem, u. a. das eigene Konzept Bindung, und er geht nicht von einer von Anfang an gegebenen Symbiose zwischen Säugling und Bezugsperon an, bereits der Säugling nimmt sich un die Bezugsperon getrennt wahr und der Aufbau der Bindung braucht viel Zeit.

        Ein sehr informativer erster Teil, für den wir uns beim Autor bedanken wollen. Zu den Inhalten der Grundlagen - für die natürlich der Autor nicht verantwortlich ist -, möchte ich ein paar kritische Anmerkungen machen:

    Kritik der Grundlagen der Bindungstheorie
    Die Bindungstheorie scheint sich inzwischen zu einer eigenen und eher armen Entwicklungspsychologie zu verselbständigen und ist zu einer populären Bewegung geworden. Man kann aber die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Persönlichkeit eines Menschen nicht aus der Entwicklung von im Grunde mal gerade drei Grundbegriffen ableiten: Bindung (und ihre vier Grundmuster: B) sicher, A) unsicher-vermeidend, C) unsicher-ambivalent, D) desorganisiert), das Konzept der Feinfühligkeit und bindungsgegenpoligen Explorationsstrebens des Kindes. Eine wissenschaftliche Entwicklungspsychologie braucht wahrscheinlich ein Vielfaches an Konzepten und Begriffen [zu den erziehungsrelevanten siehe bitte hier]. Die Entdeckung der Bedeutung der Bindung war eine wichtige Neuerung in der Wissenschaft. Aber Bindung ist nur ein Konzept und  nur ein Faktor. Die Entwicklung eines Säuglings, Kleinkindes, Kindergarten- und Vorschulkindes, eines Grundschul- und Schulkindes bis hin zum pubertierenden und heranwachsenden Jugendlichen und späterhin Erwachsenen mit seinen eigenen Lebensabschnitten (Heiratsalter, Karrierealter, Nachelterliche Gefährtenschaft, Vorruhestand, Rentenalter, Alter, Greis, Sterben und Tod) erfordert doch wohl weit aus mehr. Brisch berichtet denn auch ernüchternd (S.49): "Beim augenblicklichen Stand der Forschung geht man davon aus, daß nur 12 Prozent der Varianz der kindlichen Bindungsmuster durch die mütterliche Feinfühligkeit aufgeklärt werden (De Wolff & van IJzendoorn, 1997)." Präzise operationale Definitionen und Entsprechungslisten für die verschiedenen Entwicklungsphasen und Abschnitte des Lebens liegen nicht vor. Der Bindungsbegriff ist inzwischen mehr und mehr zu einer schwammigen Metapher geworden. Das Konzept des "Inneren Arbeitsmodelles" für noch nicht Einjährige (S.37) erscheint ebenfalls sehr verwegen: "Das Kind lernt im Laufe des ersten Lebensjahres: Wenn ich in Gefahr gerate, weine und meine Bezugsperson als meine emotional sichere Basis - quasi als "Heimathafen" - aufsuche, wird diese mir zur Verfügung stehen und meine Bindungsbedürfnisse mit einer bestimmten charakteristischen Nähe oder Distanz sowie einem umfassenden Verhaltensrepertoire beantworten. Für jede einzelne Bezugsperson, etwa für Mutter und Vater getrennt, werden eigenständige unterschiedliche Arbeitsmodelle entwickelt.". Ich spüre massives kognitives Unbehagen bei der Vorstellung, daß noch nicht Einjährige schon über solche Kausalitäts- oder Wenn-Dann-Schemata verfügen sollten. [Problematik Begriff und Schemata hier]



    Teil 2 Bindungsstörungen

    Bindung und Psychopathologie
        Der Autor stellt zunächst Bowlbys Grundfrage dar, "ob es Zusammenhänge zwischen einer unsicheren Bindung und einer bestimmten Psychopathologie geben könnte" und referierte sodann die bisherigen Forschungsergebnisse. Hiernach ist zu erwarten, daß mit zunehmender Forschung immer mehr, immer nichtssagendere und auch immer mehr widersprüchliche Ergebnisse publiziert werden. Hier zeigt sich, daß die Bindungsmuster 1) viel zu allgemein, 2) viel zu einseitig, 3) viel zu genau und 4) mit viel zu wenig opertionalen Entsprechungen der Alters- und Entwicklungsphasen definiert sind. Der gröbste methodische Fehler ist zweifellos, daß man zu sehr von der frühkindlichen und sehr speziellen fremden Sitation ausging, statt genau für das Erwachsenenalter zu untersuchen, wie sich Bindung zeigt, entwickelt, vertieft, festigt, verändert und schließlich lockert, löst und verschwindet. Wer bei Erwachsenen nur nach ABCD-Mustern sucht, kann auch nur diese finden oder nicht.
        Einige Befunde: "Kinder waren nach Mißhandlung und Vernachlässigung in der frü[75]hen Kindheit häufiger unsicher gebunden als andere, bei denen keine Mißhandlung vorlag (Crittenden, 1985; Crittenden, 1995; Crittenden 1997; Lyons-Ruth, Connell & Zoll, 1989). Besonders die desorganisierte Bindung wurde wesentlich häufiger bei mißhandelten Kindern gefunden (Carlson et al., 1989).  ....
        In klinischen Studien fanden sich Zusammenhänge mit unsicheren Bindungsrepräsentationen unter anderem bei Patienten mit folgenden Symptomen oder Störungsbildern: Borderline-Persönlichkeitsstörung, Agoraphobie, nach sexuellem Mißbrauchstrauma in der Kindheit, bei Adoleszenten mit suizidalem Agieren, Depression, Vulnerabilität für psychiatrische Erkrankungen, bei schizophrenen sowie forensischen Patienten, Patienten mit Torticollis spasticus (Atkinson, 1997; Buchheim, Brisch & Kächele, 1998; Fonagy, Leigh et al., 1995; 1997; Grossmann, 1993; Holmes, 1993; Lamott et al., 1998; Strauß & Schmidt, 1997; van IJzendoorn & Bakersmans-Kranenburg, 1996; Wöller, 1998).  ...
        In einer wachsenden Zahl von Studien wurden somit Verbindungen zwischen einem unsicheren Bindungsmuster bzw. einer unsicheren Bindungsrepräsentation und psychischen Störungs- und Symptombildern bei unterschiedlichen Risikogruppen gefunden. Hierbei scheint das Muster der desorganisierten Bindung wegen seines häufigen Vorkommens in klinischen Stichproben eine besondere Bedeutung für die [76]  Entwicklung von Psychopathologie zu haben. Eine spezifische Zuordnung eines bestimmten Bindungsmusters zu einer spezifischen Psychopathologie konnte bisher allerdings nicht festgestellt werden und ist - soweit ich sehe - auch unwahrscheinlich. Vielmehr kann eine sichere/unsichere Bindung als Schutz- bzw. Risikofaktor für die Entwicklung von psychopathologischen Symptomen betrachtet werden: Eine sichere Bindung erhöht vermutlich die psychische Vulnerabilitätsschwelle für Belastungen, eine unsichere erniedrigt sie."

    Theorie der Bindungsstörung
    "Entwicklungspsychologen und auch Entwicklungspsychopathologen verweisen darauf, daß die ursprünglichen Muster der Bindungsqualitäten, wie sie von Mary Ainsworth gefunden wurden, spezifische Adaptationsmuster im Rahmen durchschnittlich normaler Mutter-Kind-Beziehungen sind. Demgemäß wäre etwa das vermeidende Bindungsmuster, das den Kliniker an psychopathologische Verhaltensweisen erinnert, eine Verhaltensstrategie, mit der sich die Kinder an die Einstellungen ihrer Eltern mit ihrem Bindungsverhalten anpassen. Auf diese Weise können sie trotz größerer Distanz, als es eigentlich ihrem Bindungsbedürfnis entspräche, mit den Eltern im Kontakt bleiben. Da die vermeidend gebundenen Kinder wissen, daß ein Signalisieren von Nähewünschen von ihren Eltern eher mit Abweisung beantwortet wird, erlernen sie schon im ersten Lebensjahr, Bindungsreaktionen wie zum Beispiel Protest auf Trennung, Nachfolgen, Rufen, Weinen und Anklammern mit Nähesuchen erst gar nicht zu zeigen; statt dessen halten sie eine gewisse Distanz zur Bindungsperson, um die befürchtete ablehnende Reaktion der Mutter nicht zu erfahren. Mit dem entsprechenden vermeidenden Muster kann eine Bindung zur Mutter auf Kosten der kindlichen Wünsche nach Nähe dennoch aufrechterhalten werden. Die vermeidende Strategie scheint für diese Kinder wie auch für ihre Eltern am besten geeignet, den durch Bindungsverhalten hervorgerufenen Streß zu mindern.
        Hingegen können die von Main als "desorganisiertes Muster" beschriebenen Verhaltensweisen nicht als adaptive Strategien angesehen [<77] werden. Sie weisen vielmehr darauf hin, daß diese Kinder jeweils in der Streßsituation der Trennung und Wiedervereinigung kein passendes adäquates Verhaltensmuster zur Verfügung hatten. Auf diese Weise kommen widersprüchliche Verhaltensweisen wie Hinlaufen zur Mutter, Stehenbleiben, Umkehren, Einfrieren der Bewegungen, motorische Stereotypien zustande, die auf einen außenstehenden Beobachter wie ein desorganisiertes Verhalten wirken. Diese manchmal nur wenige Sekunden andauernden Verhaltensweisen vermitteln den Eindruck einer gestörten Psychomotorik und erinnern an Psychopathologie. Sie werden dementsprechend auch in Gruppen mit kindlichem Risiko einerseits (bei Frühgeborenen oder bei Kindern mit traumatischen Erfahrungen) sowie andererseits bei elterlichem Risiko (ungelöstes Trauma oder ungelöster Verlust) deutlich häufiger beobachtet."
        Hier ist kritisch anzumerken, daß die massiven und bizarren Verhaltensweisen, die man bei desorganisiertem Bindungsverhalten beobachtet, nur eine besondere Ausdrucksvariante spezieller Pathologien sein dürften. Pathogene Bindungsstörungen sind unabhängig von solchen bizarren Ausdrucksformen sinnvol definier- und feststellbar, z. B. in vielfach beobachtbaren Kommunikationsstörungen.
        Der Autor stellt sodann fest: "Kliniker wie Fraiberg (1982), Lieberman & Pawl (1988; 1990) und Zeanah et al. (1993) haben schon sehr früh festgestellt, daß es in Gruppen von klinisch kranken Kindern oder sehr gestörten Eltern- Kind- Dyaden noch ganz andere Muster der Bindungsbeziehung gibt, die sie als "Bindungsstörungen" ("attachment disorders") bezeichneten. Auch die Arbeiten von Crittenden (1988; 1995) über mißbrauchte, mißhandelte oder vernachlässigte Kindern führten zur Erweiterung der ursprünglichen Einteilung von Bindungsmustern im Kindesalter." Dies unterstreicht meine Eingangskritik. So wundert es nicht, daß der Autor schließlich zitiert: "Crittenden geht somit von einem fließenden Übergang von noch gesunden Bindungsmustern hin zu Varianten der Bindungsqualität aus, die sich im Bereich der Psychopathologie bewegen." Zusätzlich ist kritisch anzumerken, daß die BindungsforscherInnen hier offensichtlich verkennen, daß es nicht nur Bindungsmerkmale gibt, die zur Pathologie beitragen können: das Bindungsmuster ist ein, aber auch nur ein Faktor. Und es sind auch nicht nur "äußerliche Sozialfaktoren", die einen Einfluß auf Pathologie haben: "Wichtig ist, daß nicht nur elterliche Psychopathologie, sondern [<79] auch gravierende äußerliche Sozialfaktoren die Bindungsentwicklung erheblich beeinträchtigen können. Dies führte im Infant-Parent Program zu einer therapeutischen Mischung aus Sozialarbeit und Eltern- Kind- Psychotherapie."

    Bindungsklassifikation in diagnostischen Manualen
    Der Autor stellt kritisch fest, daß die diagnostischen Manuale nicht geeignet sind, "Bindungsstörungen als Formen schwerwiegender Psychopathologie" zu klassifizieren.: "Bei der Durchsicht der diagnostischen Manuale ICD-8 bis ICD-10 und des DSM III-IV fällt auf, daß keine ausreichenden diagnostischen Zuordnungen für die Vielfalt und den Schweregrad an Bindungsstörungen möglich sind, wie wir sie in der klinischen Praxis wiederfinden."  ...
        "In der ICD-10 wird eine reaktive Bindungsstörung im Kindesalter [<80] (Typ I F94.1)" von einer "Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (Typ II Fs4.2)" unterschieden. Ähnliche Diagnosekategorien finden sich im DSM-III-R (313.89) (Wittchen et al., 1991) und DSM-IV (313.89) (Saß et al., 1996).
        Typ I in der ICD-10 beschreibt Kinder, die in ihrer Bindungsbereitschaft gegenüber Erwachsenen sehr gehemmt sind und mit Ambivalenz und Furchtsamkeit auf Bindungspersonen reagieren (z. B. F94.1). Im Typ II (z. B. F94.2) zeigen sie ein konträres klinisches Bild mit enthemmter distanzloser Kontaktfreudigkeit gegenüber verschiedensten Bezugspersonen. Beide Verhaltensweisen werden als direkte Folge von extremer emotionaler und/oder körperlicher Vernachlässigung und Mißhandlung oder als Folge von ständigem Wechsel der Bezugspersonen angesehen.
        Es finden sich noch andere Diagnosen in der ICD-Klassifikation, die sich auch implizit auf bindungsrelevante Themen beziehen, wie etwa "Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen" (F91.1), "Störungen mit Trennungsangst des Kindesalters" (F93.0) und "Störungen mit sozialer Ängstlichkeit"."
        "Im "Multiaxialen Klassifikationssystem für psychische Störungen des Kindes- und Jugendalters" (Remschmidt & Schmidt, 1994) wird unter "Assoziierte aktuelle abnorme psychosoziale Umstände (Fünfte Achse)" eine Vielzahl von Belastungen aufgeführt, die sich auf die Bindungsentwicklung auswirken können: abnorme intrafamiliäre Beziehungen mit Mangel an Wärme in der Eltern-Kind-Beziehung, Disharmonie in der Familie zwischen Erwachsenen, etwa mit feindseliger Ablehnung gegenüber dem Kind, mit körperlicher Mißhandlung und mit sexuellem Mißbrauch. Außerdem werden als belastende Faktoren angenommen: psychische Störung und abweichendes Verhalten eines Elternteils, inadäquate oder verzerrte intrafamiliäre Kommunikation, abnorme Erziehungsbedingungen (etwa mit elterlicher Überfürsorge oder mit unzureichender elterlicher Aufsicht und Steuerung) sowie [<81] eine abnorme unmittelbare Umgebung, Erziehung in einer Institution, Verlust einer liebevollen Bezugsperson, bedrohliche Umstände infolge Ffemdunterbringung, negativ veränderte familiäre Beziehungen durch neue Familienmitglieder, Ereignisse, die zur Herabsetzung der Selbstachtung führen, sexueller Mißbrauch und unmittelbar beängstigende Erlebnisse (S. 147-154).
    Außerdem werden unter "Gesellschaftlichen Belastungsfaktoren" bindungsrelevante Ereignisse wie "Verfolgung oder Diskriminierung" und "Migration und soziale Verpflanzung" aufgeführt (S. 156)." ...
        "In sämtlichen Diagnosesystemen gibt es kein übergeordnetes Erklärungsmodell für die am beobachtbaren Verhalten und an den sozialen Belastungsfaktoren orientierte Bindungsdiagnostik. Dies ist erstaunlich, denn schon in früheren Jahren wurden auf dem Hintergrund der Bindungstheorie Typologien von Bindungsstörungen beschrieben, die aber in die oben angeführten Klassifikationssysteme bis heute keinen umfassenderen Eingang gefunden haben. Im folgenden werden Ansätze für solche Klassiflkationssysteme von Bindungsstörungen beschrieben. Diese sind nach meiner Ansicht für die klinische Anwendung geeignet <[82] und stellen einen ersten Schritt dar, um Bindungsstörungen differenzierter diagnostisch zu erfassen."

    Diagnostik und Typologie von Bindungsstörungen
     
    "Grundsätzlich ist anzumerken, daß die Diagnose einer Bindungsstörung nicht auf dem Vorliegen des Verhaltensmusters einer unsicheren Bindungsqualität beruht, da letzteres von der Bindungstheorie als ein im Rahmen der Norm liegendes Adaptationsmuster angesehen wird. Vielmehr sieht man bei Kindern mit einer Bindungsstörung ganz erhebliche Veränderungen im Verhalten mit den verschiedensten Beziehungspersonen."

        Diese Formulierung zeigt den schwierigen widerspruchsvollen bis paradoxen Spagat der Bindungstheorie. Einerseits soll es sich um ein normales Adaptationsmuster handeln, andererseits will man offensichtlich eine Bindungsstörung mit Krankheitwert diagnostisch konstruieren. Die im folgenden vorgeschlagenen Auffälligkeiten im Bindungsverhalten sind auch zu sehr an die Verhaltensebene fixiert und gehen viel zu wenig auf die affektiv-kognitive Ebene ein, was man in der Bindungstheorie "Innere Arbeitsmodelle" nennt.

    Keine Anzeichen von Bindungsverhalten
    "Diese Kinder fallen dadurch auf, daß sie überhaupt kein Bindungsverhalten gegenüber einer Bezugsperson zeigen."

    Undifferenziertes Bindungsverhalten
    "Diese Kinder verhalten sich freundlich gegenüber allen Bezugspersonen und machen keinen Unterschied darin, ob sie diese schon länger [<84] kennen oder ob sie ihnen noch ganz fremd sind; man bezeichnet dies auch als soziale Promiskaität." Und: "Ein andere Variante dieser Bindungsstörung wird als Unfall-Risiko-Typ beschrieben. Diese Kinder sind häufig in Unfälle mit Selbstgefährdung und Selbstverletzung verwickelt. Bei genauerer Untersuchung der Umstände des Unfallhergangs stellt sich heraus, daß sie diese Unfälle durch ihr ausgeprägtes Risikoverhalten selbst provoziert haben."  Die folgende differentialdiagnostische Aussage: "Hyperkinetische Kinder, die in ihrem Explorationsverhalten zwar auch getrieben und sprunghaft sein können, unterscheiden sich aber dadurch, daß sie in der Regel nicht zu häufigen Unfällen neigen, weil ihr Risikoverhalten nicht verstärkt ist." kann ich aus meiner Erfahrung mit hyperkinetischen Kindern (Typ ADHD [ICD 10 F 90x], nicht ADD ICD-10 F98.8]) nicht bestätigen. ADHD-Kinder sind häufig in Unfälle verstrickt und haben auch ein gesteigertes Risikoverhalten.

    Übersteigertes Bindungsverhalten
    "Bei dieser Form der Bindungsstörung fallen die Kinder durch exzessives Klammern auf: sie sind nur in absoluter Nähe zu ihrer Bezugsperson emotional beruhigt und ausgeglichen. ... Diese Bindungsstörung beobachtet man bei Kindern, deren Mütter etwa an einer Angststörung mit extremen Verlustängsten leiden. Ihre Kinder müssen für sie eine sichere emotionale Basis sein, damit sie sich auf diese Weise selbst psychisch stabilisieren können. Die Mütter geraten in panische Angst, wenn sich ihre Kinder emotional selbständig verhalten und sich von ihnen vorübergehend trennen. Das exzessive Klammern ähnelt dem Verhalten der Kinder mit unsicher-ambivalentem Bindungsmuster; das beschriebene Störungsbild ist allerdings durch ein extrem übersteigertes Verhalten des Kindes ge[<86]kennzeichnet, wie es bei ambivalent gebundenen Kindern in dieser übersteigerten Ausprägung nicht vorkommt."

    Gehemmtes Bindungsverhalten
    "Im Gegensatz zum übersteigerten Bindungsverhalten setzen diese Kinder Trennungen nur geringen oder gar keinen Widerstand entgegen. Sie wirken im Ausdruck ihres Bindungsverhaltens gegenüber der Bindungsperson gehemmt und fallen durch eine übermäßige Anpassung auf. Aufforderungen und Befehle der Bezugsperson erfüllen sie meistens umgehend und ohne Protest. Dabei wirkt ihr positiver emotionaler Austausch mit ihrer Bezugsperson eher eingeschränkt. Um so auffallender ist es, daß sie in Abwesenheit ihrer vertrauten Bezugsperson etwa ihre Gefühle freier und offener gegenüber fremden Personen zum Ausdruck bringen können.
    Diese Kinder haben sich, etwa nach massiver körperlicher Mißhandlung oder in Familien, deren Erziehungsstil durch die Ausübung von körperlicher Gewalt oder durch Gewaltandrohung geprägt ist, darauf eingestellt, ihre Bindungswünsche vorsichtig und zurückhaltend gegenüber ihren Bindungspersonen zu äußern, da sie einerseits bei diesen Schutz und Geborgenheit erwarten, andererseits diese ihnen aber auch etwa durch Androhungen von Gewalt Angst machen."

    Aggressives Bindungsverhalten
    "Kinder mit dieser Bindungsstörung gestalten ihre Bindungsbeziehungen vorzugsweise durch körperliche und/oder verbale Aggressionen. Auf diese Weise bringen sie ihren eindeutigen Wunsch nach Nähe gegenüber ihrer Bindungsperson zum Ausdruck.  ... Das Familienklima wird in auffallender Weise durch aggressive Verhaltensweisen unter den Familienmitgliedern geprägt. Dies muß sich nicht unbedingt in physischer Gewalt äußern, sondern kann auch durch verbale und non-verbale Formen der Aggression zum Ausdruck kommen. In den Familiensitzungen erlebt man als Therapeut [<87] ein hohes Maß an aggressiver Spannung, die von den Familienmitgliedern nicht wahrgenommen oder nach außen verleugnet wird. Diese Kinder müssen von solchen mit primär dissozialen Verhaltensstörungen unterschieden werden. Bei diesen ist die dissoziale Symptomatik vielfältiger und nicht nur auf das aggressive Interaktionsverhalten ausgerichtet."

    Bindungsverhalten mit Rollenumkehrung
    "Charakteristisch für diese Art der Bindungsstörung ist eine Rollenumkehr zwischen der Bezugsperson und dem Kind ("Parentifizierung"): In der Verhaltensbeobachtung erscheint das Kind überfürsorglich zu seiner Bindungsperson und übernimmt für diese Verantwortung. ...
    Diese Kinder haben Angst um den realen Verlust ihrer Bindungsperson, etwa bei drohender Scheidung, bei Suiziddrohungen oder nach einem Suizidversuch eines Elternteils. Wenn sie tatsächlich einen Elternteil durch Suizid verloren haben, kann sich ihr überfürsorgliches Verhalten mit Rollenumkehr auch auf den verbleibenden Elternteil richten."

    Psychosomatische Symptomatik
    "Störungen in der Bindung können sich auch in der Entwicklung von psychosomatischen Symptomen äußern. [89]"

    Bindungsdiagnostik bei Erwachsenen
    "In die Diagnostik erwachsener Patienten haben die Erkenntnisse der Bindungstheorie noch wenig Eingang gefunden. Es läßt sich nicht sagen, ob die bei Kindern festgestellten Kategorien pathologischer Bindungen auch bei Erwachsenen Geltung haben. Für manche Borderline-Patienten kann man dies allerdings vermuten. [<90]"
    "Zweifellos dürften Patienten mit Anteilen des desorganisierten Bindungsmusters in der klinischen Klientel zahlenmäßig eine große Rolle spielen, insbesondere etwa bei dissoziativen Erkrankungen, multipler Persönlichkeitsstörung und Borderline-Störung. Hierüber liegen aber bisher nur vereinzelte Kranken- und Behandlungsberichte sowie erste Studien vor (Liotti, 1992; Fonagy et al. 1995b; 1996a, 1997).
    [<91]"

    Alles in allem eine informative, kritische und praktisch nützliche und orientierende Differenzierung zum Thema Bindung und Psychopathologie, wofür wir uns beim Autor bedanken.
    Meine kritischen Anmerkungen habe ich bereits eingangs formuliert.
    Zur Kritik der Reduktion und Einengung auf den Bezugspersonen-Bundungstheoretischen Hintergrund, der viele seltsamen und schwer verständlichen Bindungsphänomene nicht angemessen oder hinreichend erklären kann, siehe bitte hier.



    Teil 3 Bindungstherapie

    Theorie der Therapie
    Der Autor berichtet von Bowlbys Enttäuschung, daß seine Forschungen so wenig Eingang die Klinik und Psychotherapie gefunden hätten. Nun das mag für traditionelle Psychoanalyse zutreffen, die ja wenig Sinn für Wissenschaft und Empirie aufbringt, aber sicher nicht für die überwiegende Mehrheit der psychologischen PsychotherapeutInnen (siehe auch).
    Diese Interpretation wird auch vom Autor durch seine folgenden kritischen Ausführungen gestützt: "Die Theorie der Psychoanalyse ging ursprünglich davon aus, daß sich der Behandlungsfokus ganz auf den Patienten zentriert und die Behandlungssituation eher als "Ein-Personen-Therapie" konzipiert ist. Wenn Freud selbst auch sicherlich interaktionell und beziehungsorientiert gearbeitet hat, so haben seine Formulierungen, daß der Psychoanalytiker ein "Spiegel" für den Patienten sein sollte, bei seinen Schülern und bei späteren Vertretern der Psychoanalyse dazu geführt, daß für lange Zeit die monadische, auf den Patienten ausgerichtete Beziehungssituation in der Behandlung vorherrschte. Interaktionelle Wechselbeziehungen zwischen Patient und Analytiker wurden zumindest theoretisch geleug [<93] net. Es bedurfte ausgedehnter Diskussionen innerhalb der Psychoanalyse, bis die Ideen der Objektbeziehungstheoretiker, die bereits auf ein dyadisches, interaktiv wechselseitig wirkendes Geschehen zwischen Patient und Therapeut hinwiesen, mehr in der Behandlungssituation und in der Ausbildung von Kandidaten in den Vordergrund rückten. Noch heute ist der Streit um den Fokus in der Behandlung innerhalb der Psychoanalyse nicht abgeschlossen. Allerdings haben Vertreter einer interaktiven Sichtweise der Behandlungssituation durch die Ergebnisse der Säuglingsforschung große Unterstützung erhalten. Der Säugling ist von Anfang an auf Interaktion mit seiner primären Bezugsperson ausgerichtet und hat dazu auch von Natur aus vielfältige frühe Fahigkeiten zur Wahrnehmung und zur Handlung. Deshalb können wir heute sagen: Die Beziehung zwischen Mutter und Säugling wird von Anfang an von beiden wechselseitig gestaltet (Dornes, 1993; 1997). Dem Säugling muß eine durchaus aktive mitgestaltende Qualität und Fähigkeit zugeschrieben werden. Bowlby war sicherlich einer derjenigen Vertreter der Objektbeziehungstheorie, die diese weiterentwickeln wollten und von einem interaktiven Geschehen zwischen Mutter und Säugling ausgingen. Für ihn war es daher auch selbstverständlich, daß der therapeutische Prozeß und die therapeutische Beziehung ein interaktives Geschehen darstellen, das wechselseitig vom Patienten wie vom Therapeuten geprägt wird. Die Vorstellung eines nur spiegelnden und sich abstinent verhaltenden Psychoanalytikers hat in diesem Konzept keinen Platz mehr (Köhler, 1995; 1998).
        Umfassende Studien aus der Psychotherapieprozeßforschung (Orlinsky, Grawe & Parks, 1994) ergaben, daß der Bindungsbeziehung zwischen Patient und Therapeut ("therapeutic bond")' aus dem gesamten Spektrum aller Variablen, die das Therapieergebnis beeinflussen können, ein ganz entscheidender prädiktiver Wert zukommt. Die Psychotherapieforschung zeigt konsistente Zusammenhänge zwischen der Qualität der therapeutischen Bindung und dem Therapieerfolg."
     
    Kritische Anmerkung Bindung und Beziehung in der (Psycho-) Therapie
    Ohne Zweifel ist eine tragfähige und "gute" Arbeitsbeziehung für den Therapieerfolg ein kaum zu überschätzender moderierender Heilwirkfaktor. Man muß sich aber davor hüten, Bindung mit Beziehung gleichzusetzen. Bindung ist ein Merkmal einer Beziehung. Beziehung ist der allgemeinere und weitere Begriff. Was im Einzelfall eine "gute" Arbeitsbeziehung ist, kann sehr stark variieren, jenachdem welche Persönlichkeit mit welchen bindungs- und beziehungsgeschichtlichem Hintergrund einem gegenübersitzt. Ob sich in Therapien, die vielleicht 50-100 Stunden und 1-3 Jahre dauern, stärkere Bindungen aufbauen lassen, ist einerseits zweifelhaft und zum andern auch als Moderatorziel fragwürdig und problematisch. Therapie ist eine helfende Beziehungauf Zeit. Die Trennung ist also unausweichlich und vorprogrammiert. Eine Trennung kann umso schwieriger und erneut traumatisierender sein, umso mehr eine stärkere Bindung entstanden ist. Die PsychotherapeutIn kann und darf Bindungsdefizite dann nicht kompensieren, wenn sich daran Hoffnungen und Erwartungen knüpfen, die auf längere Sicht nicht erfüllbar sind. Das ist auch eine große Gefahr in traditionellen Psychoanalysen, deren setting sehr intensive und regressive Affekte provoziert. Zu berücksichtigen ist weiter, daß nicht jede PatientIn mit sicheren Bindungsbasen zurechtkommt. Brisch sieht allerdings diese Gefahren und weist in einem eigenen Abschnitt darauf hin. Unrealistisch und undurchführbar für den ambulanten Bereich ist es zu fordern, daß Trennung und Ende nur von der PatientIn eingebracht werden dürfen.

    "Als auslösende Faktoren für die Herstellung und Aufrechterhaltung der therapeutischen Bindung werden die "unausgesprochene Affektabstimmung" zwischen Patient und Therapeut sowie das "affektive Klima" für bedeutungsvoll gehalten. Eine gute therapeutische Bindung beeinflußt die Bereitschaft des Patienten, sich zu öffnen und defensive Prozesse und Widerstände abzubauen. Der Bindung wird dabei durchaus unterstützende Qualität zugemessen. Sie wird als grundsätzliche Bedingung angesehen, damit therapeutische Techniken und Botschaften aus dem Beziehungserleben [<94] innerhalb der Therapie vermittelt werden können. Die Herstellung und Aufrechterhaltung einer guten therapeutischen Bindungsbeziehung über einen langen Therapiezeitraum wird besonders für die Behandlung von Patienten, die mit Persönlichkeitsstörungen und entsprechend schwerwiegender Psychopathologie in die Behandlung kommen, als eine Grundvoraussetzung dafür angesehen, daß man mit ihnen überhaupt einen längeren Therapieprozeß einleiten kann. Dabei hat eine selbstkongruente, offene, wertschätzende Haltung des Therapauten für die Herstellung der therapeutischen Bindung eine besondere Bedeutung. Diese Faktoren erinnern sehr an die von der Gesprächspsychotherapie schon vor langer Zeit geforderten basalen therapeutischen Fahigkeiten und Einstellungen (Finke, 1994; Rogers, 1973). Diese konsistenten Ergebnisse der Psychotherapieforschung (Rudolf, Grande & Porsch, 1988) zeigen Ähnlichkeiten mit der Bindungstheorie, die in der Herstellung der Bindung zwischen Patient und Therapeut für eine therapeutische Anwendung ihrer Theorie eine grund'legende Funktion sieht (Bowlby, 1995b)."
     
    Forschungshypothese über die Wirksmechanismen zur Veränderung der Bindungsrepräsentationen

    "Man kann vermuten, daß in der therapeutischen Beziehung durch Veränderungen der Affekte, der Kognitionen und des Verhaltens auch die Selbst- und Objektrepräsentanzen des Patienten reifen. Das bindungsrelevante Arbeitsmodell ("inner working model"; Bowlby, 1975; 1976) des Kindes bzw. die Bindungsrepräsentation des Erwachsenen kann sich durch neue Bindungserfahrungen verändern. Nach Bowlby enthält ein Arbeitsmodell nicht nur verschiedene Erfahrungen im Hinblick auf die erlebten Bindungserfahrungen mit den Bindungsfiguren, sondern auch Konzepte des Selbst, die aus den erfahrenen Interaktionen hervorgegangen sind. Es wird diskutiert, daß es auch mehrere Arbeitsmodelle geben kann, insbesondere wenn verschiedene einander widersprechende Bindungserfahrungen - etwa durch eine verstrickte Bindungsbeziehung zur Mutter und eine vermeidende zum Vater - internalisiert wurden (Buchheim, Brisch & Kächele, 1998; Köhler, 1998)."  [S. 95] 

    Der Autor erläutert sodann, weshalb er eine sichere Basis in der therapeutischen Beziehung für erforderlich hält.
    Ich glaube nicht, daß dieses Modell sichere Bindungsbasis für die therapeutische Situation allgemein taugt (siehe oben).

    Technik der Behandlung
    Bowlby fünf Behandlungsprinzipien finden Sie hier kurz dargestellt.

    Allgemeine Gesichtspunkte zur Psychotherapie von Erwachsenen
    "Der Patient ist wegen seiner Probleme beunruhigt und angstvoll, wenn er einen Therapeuten aufsucht. Der Therapeut muß sich bewußt sein, daß das Bindungssystem des Patienten mehr oder weniger aktiviert ist. [<96]
    Dieser wird mit allen ihm zur Verfügung stehenden - auch durch entsprechende Störungen verzerrten - Möglichkeiten seines Bindungsverhaltens nach einer Person suchen, die die Rolle der Bindungsperson übernehmen soll. Diese Erwartung wird vom Patienten auf den Therapeuten übertragen." Brisch hat in Anlehnung an Bowlby 9 Leitlinien für psychotherapeutische Behandlung von Erwachsenen formuliert, die Sie kritisch kurz-kommentiert hier finden.

        "Bowlby geht davon aus, daß die Selbst- und Elternrepräsentanzen mit den entsprechenden Bindungs- und Explorationsmustern aus der frühen Kindheit in der therapeutischen Übertragungsbeziehung reaktiviert werden."
        Warum sollte das der Fall sein? Warum sollte die PatienIn nicht ehe sich, wie Sie nun ist, in die therapeutische Beziehung einbringen? Zumal Bowlby ja selbst zwei Bindungsysteme, ein frühes (archaisches) und und ein aktuelles, postuliert hat?
        Im weiteren erörtert der Autor, wie im Hier und Jetzt der Sitzung mit der aktuellen Beziehung gearbeitet werden kann und soll: "Der Patient gelangt im Rahmen der Behandlung schließlich an seine schmerzlichen Bindungs- und Beziehungserfahrungen, sofern er nach und nach seine Affekte, in der Regel Wut und Trauer, wahrnimmt."
        Im folgenden entwickelt der Autor 6 Leitlinien für bindungsorientierte Kindertherapie und gelangt dann zur Erörterung:

    Spezielle Gesichtspunkte
    Hier geht der Autor auf die vielfältigen Hintergrundbedingungen und Erfahrungen der PatientInnen ein und er empfiehlt zur Beachtung (Auswahl) :

    Frühe Erfahrungen, Wechsel und Trennung mit Bezugspersonen explorieren und durcharbeiten

    Vorsicht und Behutsamkeit bei Bindungsvermeidenden
    "Bindungsvermeidende Störungen stellen hohe Anforderungen an den Therapeuten, weil er einerseits auf abgewehrte Bindungsbedürfnisse angemessen eingehen und sie vorsichtig interpretieren muß, andererseits das störungsbedingte Distanzierungsbedürfnis des Patienten berücksichtigen sollte. Eine Befriedigung von abgewehrten Bindungsbedürfnissen könnte aus diesem Grunde für den Patienten mit zu großer emotionaler Nähe verbunden sein. Dies könnte eine Bedrohung für die therapeutische Beziehung darstellen und zum Therapieabbruch führen."

    Klarheit und Zuverlässigkeit des angebotenen Settings
    "In der Behandlung von Patienten mit bindungsambivalenter Störung wird neben der verläßlichen, vorhersagbaren emotionalen Präsenz des Therapeuten ein weiteres Augenmerk auf der Klarheit und rahmensetzenden Struktur des Settings bestehen. Der Therapeut sollte durch Ver[<103] änderungen des Settings (Verschiebung von Therapiestunden, Absagen) und andere Verhaltensweisen, wie verspäteten Beginn der Therapiestunde durch Verschulden des Therapeuten, nicht unnötigerweise das Bindungssystem dieser Patienten erneut aktivieren."

    Angemessene Dosierung und Handhabung von Nähe und Distanz
    "Die Patienten erwarten in der Regel, daß ihre Bindungsbedürfnisse in der Wiederholung der Therapie ebenfalls nicht befriedigt werden und daß es früher oder später zu Bindungsenttäuschungen kommen wird. Es hat sich bewährt, Zuwendung und emotionale Nähe in der Dosis anzubieten, wie sie vom Patienten selbst reguliert werden kann, zum Beispiel indem der Patient die Stundenfrequenz mitbestimmen kann."

    Angemessene Handhabung Anfangen, Unterbrechen, Beenden
    "Besonderes Augenmerk muß auch auf bindungs- und trennungsrelevante Situationen gerichtet werden. Hierzu gehören der Stundenanfang, das Stundenende, Unterbrechungen der Behandlung durch das Wochenende, Urlaub und Erkrankungen. Auch das Ende der Behandlung oder eine Wiederaufnahme der Behandlung zu einem späteren Zeitpunkt sind unter diesem Gesichtspunkt von Bedeutung. Gerade in diesen Situationen wird das Bindungsbedürfnis der Patienten aktiviert, und dadurch ausgelöste Affekte werden einer Bearbeitung zugänglich."

    Bedeutung des Bindungsgegenspielers Explorationsverhalten der PatientIn
    "Neben einem Fokus auf bindungsrelevanten Erlebnissen besteht ein zweiter Fokus auf der Explorationsseite. Auch die Explorationsbedürfnisse eines Kindes können durch Interaktionen mit der Mutter und anderen relevanten Bezugspersonen in der frühkindlichen Zeit behindert, ja extrem verzerrt oder gestört worden sein. Grund für eine Störung im Explorationsverhalten kann etwa mangelnde Bindungssicherheit der Mutter sein. Man kann sich vorstellen, daß durch elterliche Psychopathologie ein Kind extrem von einem Elternteil "geklammert" wird. Wegen elterlicher Ängste werden keine Explorationsmöglichkeiten für das Kind zugelassen.
        Auch die Explorationsseite wird früher oder später in der psychotherapeutischen Interaktion aktiviert. Wenn der Therapeut die Notwendigkeit zur Exploration nicht anerkennt, kann das Verhalten der Patienten leicht als Widerstand gegen die Bearbeitung, als Agieren oder Vermeidung der Übertragungsbeziehung gedeutet werden. Ein Therapeut, der um den Zusammenhang von Bindung und Exploration weiß, wird überlegen, ob die Explorationsfreude des Patienten auch als Hinweis auf eine wachsende sichere Basis gesehen werden kann. Er wird den Patienten darin unterstützen, sich an seinen Explorationsmöglichkeiten und Erfahrungen zu freuen, und dieses Verhalten dem Patienten eher nicht als Widerstandsform oder Abwehrleistung deuten." [<104]


    Demnächst


    Teil 4 Behandlungsbeispiele aus der klinischen Praxis

    Teil 5 Ausblick auf weitere Anwendungsgebiete der Bindungstheorie 

    Teil 6 Fragen des Adult-Attachment-Interviews 

    Teil 7 Zusammenfassung

    End-Fußnoten - soweit in der Darstellung und Besprechung erfaßt - des Autors Karl Heinz Brisch
    Aus Kapitel 1
    EN03 Für eine ausführlichere Darstellung der Bindungstheorie, insbesondere auch mit psychometrischen Angaben zu den Methoden der Bindungsforschung sowie zu den Ergebnissen der statistischen Analysen aus verschiedenen Studien, wird auf andere Quellen verwiesen (Buchheim, Brisch & Kächele, 1998; Schmidt & Strauß, 1996; Spangler & Zimmermann, 1995; Strauß & Schmidt, 1997).
    EN04 Im folgenden spreche ich auch von 'Bindungsbeziehung' und meine damit den spezifischen Teil des Bindungssystems innerhalb der Beziehung. Die Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind wird aber nach Ende (1989) noch durch eine Vielzahl von anderen Aspekten bestimmt, wie z. B. durch das Mitteilen und Regulieren von Affekten, durch Regulation von physiologischen Bedürfnissen, durch Lernen, Spiel und Selbstkontrolle.
    EN05 In der Regel ist auch heute noch die Mutter die primäre Bezugsperson, so daß ich im weiteren Kontext auch die Mutter als primäre Bezugsperson annehme. Grundsätzlich können aber auch etwa der Vater, die Großmutter, eine älteres Geschwister, die Tagesmutter oder andere wichtige Personen für den Säugling zur primären Bezugsperson werden.
    EN06 Die Bedeutung der frühen Interaktionen zwischen Mutter und Säugling für die Herstellung der Bindung erinnert auch an die von Stern (1989) angenommene Konstruktion. Stern geht von repetitiven interaktiven Verhaltensmustern zwischen Mutter und Kind aus, die internalisiert und repräsentativ als generalisierte Muster abgespeichert werden.
    EN07 Nach Stern (1992) besteht das Bindungs-Arbeitsmodell aus vielen verschiedenen generalisierten Interaktionsrepräsentationen. Diese bilden die "basalen Bausteine des Arbeitsmodells". Das Arbeitsmodell ist somit nach Stern eine übergeordnete Struktur. Neue Interaktionserfahrungen werden in das Arbeitsmodell aufgenommen, alte möglicherweise getilgt. So kann man sich eine Veränderung im Sinne einer Reorganisation des Arbeitsmodells auf längere Sicht vorstellen (S. 165 ff).
    EN08 Ausgehend von der Säuglingsforschung hat Lichtenberg (1989) Bindung und Exploration in einen umfassenderen Kontext von motivationalen Systemen eingebettet. Als Motivationssysteme werden von ihm das System zur Regulation physiologischer Anforderungen (es wird besonders an Hunger, Durst, Wärmeregulierung und ähnliche körperliche Bedürfnisse gedacht), weiterhin das System zur Bindung sowie das zur Exploration angeführt. Dies wird später um das System der "selfassertion" erweitert, das heißt die Fähigkeit des Kindes, sich als ein selbstaktives und "selbst etwas in Bewegung setzendes Wesen" zu erfahren, sowie um das System der "aversion", das heißt die Fähigkeit, auf bedrohliche, gefährliche Reize mit Abwohr zu reagieren, und schließlich das System der sinnlichen und sexuellen Bedürfnisbefriedigung.
    EN09 Die Untersuchungen von Papousek (1977) haben gezeigt, daß Säuglinge schon sehr früh in der Lage sind, Zusammenhänge zwischen externen Reizen, ihren Aktionen und der Auslösung von Reaktionen zu realisieren und auch aktiv herzustellen, mit einem deutlichen Gefühl der Selbsteffektivität, die mit freudiger Erregung einhergeht.
    EN10 Wenn ein Säugling bereits laufen kann, aber dennoch im Alter von einem Jahr für viele Stunden am Tag in einen 1 m2 großen Laufstall gesetzt wird, so sind seine Explorationsbedürfnisse nicht befriedigt. Wenn er dagegen in diesem Alter das ganze Haus vom Keller bis zum Dachboden erkunden kann, so wird es dringend notwendig sein, ihm Grenzen zu setzen. Der altersgemäße Erkundungsraum und die dazugehörigen Grenzen müssen sich der jeweilige Altersentwicklung anpassen und entsprechend ausgeweitet werden, ohne aber zu eng oder zu weit zu sein.
    EN12 Diese "zielkorrigierte Partnerschaft" entwickelt sich während der Kindheit und gestaltet sich je nach altersentsprechenden Forderungen. Becker-Stoll (1997) untersuchte in einer Studie mit Jugendlichen, wie sich diese "zielkorrigierte Partnerschaft" in einem Streitgespräch zwischen dem Adoleszenten und der Bezugsperson im Hinblick auf die Aufgabe einer gemeinsamen Urlaubsplanung gestaltete.
    EN13 Die eine Mutter wacht bei dem kleinsten Laut ihres Kindes nachts auf; andere Mütter berichten von einem so tiefen Schlaf, daß ihr Kind bereits in Panik schreiend im Bett steht, bevor sie ihrerseits wach werden und auf das Weinen ihres Kindes reagieren können. Das Ausmaß der Sensibilität wird aber nicht nur von der inneren Befindlichkeit der Mutter bestimmt, sondern auch von den sozialen Randbedingungen. So kann eine Mutter, die von ihrem Partner unterstützt wird, sich besser auf die Bedürfnisse ihres Kindes konzentrieren als eine Mutter, die wegen Erschöpfung und Überforderung abends todmüde ist und kaum mehr die Kraft aufbringt, auf das wahrgenommene laute Weinen ihres Kindes angemessen zu reagieren.
    EN14 Bei Feldforschungen in Papua-Neuguinea konnte nicht beobachtet werden, daß Mütter, die dort traditionsgemäß ihre Säuglinge die meiste Zeit des Tages an ihrem Körper tragen, von diesen mit deren Ausscheidungen beschmutzt wurden. Man könnte dieses Phänomen so erklären, daß eine feinfühlige Mutter etwa an der zunehmenden Unruhe ihres Kindes wahrnimmt, wann es bereit ist, Stuhl abzusetzen (Wulf Schiefenhövel, mündliche Mitteilung). Ähnliche Beobachtungen wurden auch in einer Studie in Ost-Afrika gemacht (deVries & deVries, 1977).
    EN16 In klinischen Stichproben wurden bei bis zu 80 Prozent der Probanden desorganisierte Verhaltensweisen gefunden, dagegen nur bei 10-25 Prozent der Probanden in Stichproben aus der Mittelschicht (van IJzendoorn et al., 1992).
        Aus Kapitel 2



    Fußnoten Sponsel
    RS01  Das ein Teddybär oder ein Kuschelkissen  z. B. für ein Kleinkind einer sehr tröstende Ersatzfunktion hat, dürfte schon immer allgemeiner Oma-Psychologie-Standard sein. Ich frage mich immer wieder, wozu PsychoanalytikerInnen einfachste Sachverhalte in relativ unverständliche und seltsame Wortungetüme verpacken müssen, z. B. Objektbeziehungstheorie, Triangulation, Übergangsobjekt. Neue und fremdartig anmutende Worte machen noch keine Wissenschaft.

    Querverweis:
    Über Bindung in der IP-GIPT


    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). Autorisierte Buchbesprechung über: Brisch, Karl Heinz (1999). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart: Klett-Cotta.Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/lit/r_brisch.htm
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    02.03.15  Linkfehler geprüft, keinen gefunden. Layoutaktualisierung.
    17.02.05  Anpassung der Bindungsmuster Kürzel an die üblichen Bezeichnungen in der Literatur. Ich verdanke den Hinweis der Aufmerksamkeit  (Mail vom 13.1.5) Fabian Everdings (Danke).