John Bowlby (1907-1990)
Arzt, Psychoanalytiker, Pionier der Bindungsforschung
Wir folgen in der Würdigung des Lebenswerkes von
John Bowlby den Ausführungen Karl-Heinz Brisch in seinem Buch Bindungsstörungen.
Von der Bindungstheorie zur Therapie. Mit der Würdigung der
Leistungen John Bowlbys wird auch ein wichtiges Stück Psychoanalysegeschichte
geschrieben, wodurch durch Bowlbys Arbeit auch gezeigt wird, wie die Psychoanalyse
in die Wissenschaft integriert werden kann.
studierte zunächst Medizin, genauso wie sein Vater, der ein berühmter Chirurg war. Obwohl seine Leistungen in der Schule nicht so hervorragend waren, schloß er seinen ersten Studienabschnitt in Cambridge mit verschiedenen Auszeichnungen ab. Warum er danach sein glänzend begonnenes Studium nicht in London fortsetzte, sondern für zwei Jahre als Lehrer in einer Schule für Kinder und Jugendliche mit gestörtem Sozialverhalten arbeitete, ist weitgehend ungeklärt. Jeremy Holmes (1993) berichtet in seiner Biographie, Bowlby habe damals zum erstenmal ein Buch über Entwicklungspsychologie gelesen, das ihn sehr beeindruckt habe. Diese Erklärung reicht aber nicht aus, um Bowlbys Studienunterbrechung aus psychodynamischer Sicht zu verstehen. Bowlby stammte aus einer wohlhabenden großbürgerlichen Familie in England. Sein Vater war beruflich stark in Anspruch genommen; die Kinder wuchsen unter der Obhut von Angestellten auf, und ihr Kontakt mit der Mutter war auf wenige festgelegte Stunden am Tag beschränkt. Biographisch gesehen ist es sicher von Bedeutung, daß der Sohn eher eine distanzierte Beziehung zu seiner Mutter hatte und mit drei Jahren seine wichtigste primäre Bezugsperson, sein Kindermädchen, verlor. Auf dem Hintergrund dieser Kindheitsgeschichte kann man sich erklären, warum er sich gerade für Fragen von Bindung, Trennung und Verlust so stark interessierte und sich auch theoretisch eingehend damit befaßte. Die Möglichkeit, daß Bowlby durch die erwähnte Leklüre angeregt war, über seine eigene Kindheit nachzudenken, könnte zumindest als psychodynamische Hypothese formuliert werden. Sein Engagement in einer fortschrittlichen Schule für sozial auffällige Jugendliche könnte ebenfalls als ein Versuch verstanden werden, jene Schattenseiten der eigenen Psyche und der Gesellschaft kennenzulernen, die ihm bis dahin fremd geblieben waren. Vielleicht kann das vorübergehende Aussteigen aus dem Medizinstudium als eine postadoleszente pubertäre Phase betrachtet werden, weil er sich in dieser Zeit mit seinen Ideen und seinen Interessen deutlich von seiner Familie und dem ihm vorgegebenen Weg abgrenzte. Die Beschäftigung mit den Jugendlichen und Kindern war für ihn ein emotionales und inhaltliches Schlüsselerlebnis, das seine spätere Theorieentwicklung nachhaltig prägen sollte. |
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Nach der Beendigung des Medizinstudiums war er entschlossen,
sich für die damals neu entstehende Fachrichtung Kinderpsychiatrie
ausbilden zu lassen. Bereits während seiner Studienzeit hatte er mit
einer psychoanalytischen Ausbildung begonnen. Schon früh setzte er
sich mit den Theorien von Melanie Klein auseinander. Zeitlebens war ihm
eine kritische Einstellung gegenüber ideologisch gefärbten oder
dogmatisch unterrichteten Lehrmeinungen und ein Engagement für demokratische
Prozesse wichtig.
... Nach dem Krieg erhielt er relativ bald den Auftrag, eine Abteilung
für Kinderpsychotherapie in der Tavistock Clinic aufzubauen. In der
gesamten Aufbauphase, sowohl in diesem Krankenhaus als auch in der Britischen
Psychoanalytischen Gesellschaft, zeigte sich immer wieder Bowlbys großes
Organisationstalent und seine Fahigkeit, finanzielle Mittel für die
verschiedensten Zwecke, etwa für die psychoanalytische Forschung,
zu organisieren. ...
Bowlbys erste Publikation, die sich mit der Wirkung von Umwelteinflüssen auf die frühkindliche Entwicklung beschäftigt, bezieht sich explizit auf seine Erfahrungen mit jugendlichen Dieben. Insgesamt studierte er 44 Fälle von Jugendlichen, wertete Aufzeichnungen aus und publizierte sie in dem Artikel "Forty-four juvenile thieves: Their characters and home life" (1946). Er wollte damit deutlich machen, wie frühe emotionale Traumatisierungen durch Verlust- und Trennungserlebnisse die Entwicklung von Verhaltensstörungen beeinflussen können. Schon damals war Bowlby überzeugt, daß reale frühkindliche Erlebnisse in der Beziehung zu den Eltern die Entwicklung eines Kindes grundlegend bestimmen können und daß nicht nur der Ödipuskomplex und seine Lösung oder das Monopol der Sexualität für die emotionale Entwicklung eines Kindes verantwortlich seien. In dem grundsätzlichen Beitrag "The nature of the child's tie to his mother" (Bowlby, 1958) legte er erstmals seine Überlegungen dazu vor, daß es ein biologisch angelegtes System der Bindung gibt, das für die Entwicklung der starker emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Kind verantwortlich ist. Seine Überlegungen waren von seiner Bekanntschaft mit der ethologischen Forschung beeinflußt. Mehr durch Zufall war er auf die Arbeiten von Lorenz (1943) und Tinbergen (1952) aufmerksam geworden. In der Feldforschung von Lorenz (1965) über die frühe Prägung sowie später auch [31] durch die Studien von Harlow & Harlow (1969) über die Effekte auf das Verhalten von unterschiedlichen Mutter-Kind-Beziehungen bei Rhesusaffen fand er seine eigenen Beobachtungen bestätigt. Schließlich hielt er drei Vorträge vor der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft, in denen er seine Gedanken zur Bindungstheorie öffentlich zur Diskussion stellte (Bowlby, 1958; 1960 a; 1960 b). Die Reaktionen waren außerordentlich skeptisch bis offen ablehnend. Die schärfste Kritik an seiner Theorie bestand darin, daß er mit seinen Vorstellungen den Boden der psychoanalytischen Metatheorie, sprich der Triebtheorie, verlassen habe (A. Freud, 1960; Schur, 1960; Spitz, 1960). Insbesondere die Kleinianer begegneten Bowlbys Konzepten mit Mißtrauen. ...
In jener turbulenten Zeit der Auseinandersetzung mit seinen neuen Thesen erhielt Bowlby von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) den Auftrag, einen Bericht über die Situation der vielen heimatlosen und verwaisten Kinder in der Nachkriegszeit zu verfassen (Bowlby, 1951; 1953; 1973a; 1995a). Er nutzte diese Gelegenheit sowohl zur Feldforschung über die emotionale Situation der Kriegswaisen als auch zu Kontakten mit amerikanischen Entwicklungspsychologen, denn als solcher war Bowlby nicht ausgebildet. Die Erkenntnisse aus dem WHO-Bericht ermutigten ihn in seiner Theorie, und seine neu erworbene Reputation durch diese Arbeit stärkte auch seine Position in der Psychoanalytischen Gesellschaft.
Viele junge Studenten und Promotionsstipendiaten in Bowlbys Forschergruppe waren von seinen Ideen beeindruckt. Unter ihnen befand sich auch die Kanadierin Mary Ainsworth. Sie hatte noch in Toronto promoviert und war nur aufgrund beruflicher Aktivitäten ihres Ehemannes nach London gekommen. In ihrer Promotion hatte sie sich mit der "Sicherheitstheorie" von Blatz (1940) auseinandergesetzt, wonach [32] jedes menschliche Wesen für seine emotionale Entwicklung ein Urvertrauen zu einer wichtigen Bezugsperson entwickeln müßte. Hier finden sich bereits wesentliche Gedanken, die später in die Bindungstheorie eingingen. Mit diesen Kenntnissen kam Mary Ainsworth nach London in Bowlbys Forschungsgruppe und war von dessen Gedanken begeistert, auch wenn sie der ethologischen Fundierung der Bindungstheorie lange Jahre skeptisch gegenüberstand."