JAllgemeine
Psychotherapieprinzipien
am Beispiel der Neurasthenie nach Otto
Binswanger (1852 - 1929)
Frühe Quellentexte zum Eklektizismus, zur Psychotherapie Integration und Entwicklung einer allgemeinen Psychologischen Psychotherapie (ADEIS)
ausgewählt von Rudolf Sponsel, Erlangen
Aus: BINSWANGER, O. (1896). Die Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Jena: G. Fischer. Hier aus der 13. Vorlesung, Aus: S. 357 - 373. [kursiv: bei Binswanger g e s p e r r t, hier Heilmittel kursiv-fett und Störmittel kursiv einfach; Funktorenzuordnung im Text durch Sponsel].
Einleitung. Besonders bemerkenswert an Otto BINSWANGERs Beiträgen zur Psychopathologie (die Monographie über die Hysterie 1904 hat allein 954 Seiten!, wobei er damals schon vor einer Überbewertung der Hypnotherapie warnte, die für ihn nur ein kleines Element im Arsenal der psychotherapeutischen Heilmittel war > BINSWANGER 1904, S. 849) aus moderner psychotherapeutischer Sicht ist (1) die große Bedeutung, die BINSWANGER den ganz handfesten und praktischen sozialen und realen gesellschaftlichen Bedingungen und Verhältnissen beimaß und damit als einer der ersten großen "Sozialpsychiater" gelten kann, der auch schon Partei für die besonders überbeanspruchten Arbeiterfrauen ergriff > BINSWANGER 1896, S. 361; (2) seine Ansicht, daß nicht Symptome oder Krankheiten sondern ein kranker und ganzer Mensch behandelt werden müsse; (3) sein sehr differenzierter Ansatz einer individuellen Indikation und (4) der vorwegnehmende Einbau verhaltenstherapeutischer Programme - er nennt es methodische Übungen (S. 373) - in die Psychotherapie. Seltsamerweise ist die Neurasthenie - von G. M. BEARD (1839 - 1883, USA) 1869 kreiert - als Diagnose fast völlig verschwunden, obwohl sie auch im ICD-10 noch nach wie vor als eigene Neuroseform aufgeführt wird. Möglicherweise ist die alte Neurasthenie im allgemeinen Streßsyndrom auf- bzw. in der Erschöpfungsdepression untergegangen.
"... Die Aufgaben, welche uns hinsichtlich einer rationellen Therapie der Neurasthenie erwachsen, finden Sie in ihren Grundlinien schon vorgezeichnet in den Vorlesungen über allgemeine Pathologie und Aetiologie dieser Erkrankung. Sie gipfeln in dem Grundsatze, daß wir nicht eine bestimmte Krankheit, geschweige denn eine einzelne Krankheitserscheinung, sondern einen kranken JMenschen zu behandeln haben." (S. 357)
"Es ist aber nicht nur notwendig, die tJArbeitszeit zu beschränken, sondern auch dafür Sorge zu tragen, daß sowohl der Kopf- wie der Muskelarbeiter in ihren JErholungszeiten sich wirklich Jerholen können." (S. 358)
"Nur dadurch, daß beide Arbeitsklassen die JZeit gewinnen, ein Familienleben zu führen, sich um die geistige und körperliche JErziehung ihrer Kinder zu kümmern, wird der fortschreitenden t Verwilderung der Jugend Einhalt gethan und so zum Schutze der nächsten Generation die mächtigste Waffe geschmiedet. ...
Diese Aufgabe ist aber nicht lösbar, bevor nicht die JWohnungshygiene bei den Jgesetzgeberischen Faktoren und den Jmaßgebenden Verwaltungsbehörden die ihr Jgebührende Berücksichtigung erlangt hat. Solange nicht für die Familie des unbemittelten Lohnarbeiters Jgesunde Wohn- und Schlafräume in Jausreichendem Maße gegen billiges Entgelt beschafft worden sind, welche ihm den Aufenthalt in der Häuslichkeit zu einer wohlthuenden Erholung gestalten, solange nicht das Schlafstellenwesen geregelt ist, solange wird auch vom Standpunkt des Nervenarztes eine gedeihliche Volkshygiene eine unerfüllte Forderung sein." (S. 359)
Mit der Formulierung "in ausreichendem Maße" kommt hier auch ein Quantor, das Heilmittel Ausprägung und rechten Maßes ins Spiel. Bedeutsam auch die Erkenntnis, wie wichtig die politisch- soziologischen und juristischen Heilmittelklassen J Gesetze, J Verordnungen und ihre J rechte Anwendung und Umsetzung durch die Behörden sein können. Man erinnere sich, daß die Selbstmordepidemie der Jungfrauen von Milet durch eine politisch- juristische Verordnung gestoppt wurde.
"... Die speziellen Aufgaben der Psychotherapie {in der Behandlung der Neurasthenie} ... :
1) Die JEntfernung der allgemein wirkenden psychischen Schädlichkeiten. ...: berufliche Entlastung bei Kopfarbeitern, JFernhaltung von Quellen emotiver Erregungen, JEntwöhnung von t schädlichen Genuß- und Reizmitteln, vornehmlich von den t Narkoticis, Regelung der Ernährung u. s. w.
2) Die Bekämpfung resp. die Beseitigung der Symptome der intellektuellen t Dauerermüdung und zwar sowohl der t Reiz- als auch der t Schwäche- und t Erschöpfungssymptome. Dabei dürfen wir nie vergessen, daß die Phase der t Uebererregung sowohl auf affektivem als intellektuellem Gebiete durch geringfügigste innere und äußere Ursachen, vor allem aber durch neu zufließende psychische Reize (zu denen die große Gruppe der Organempfindungen zu zählen ist) ganz unvermittelt in ausgeprägte t Erschöpfungszustände ausarten kann. Sowohl t Uebererregung als t Erschöpfung werden ausschließlich durch JRuhe und JErholung bekämpft; endgiltig beseitigt wird aber die Dauerermüdung nicht durch Ruhe allein, sondern durch J methodische Uebungen des ausgeruhten Seelenorgans und die Bekämpfung derjenigen psychopathischen Phänomene, welche dem Wiedererstarken der geistigen Thätigkeit am unheilvollsten entgegenwirken. Das sind: Die t psychische Hyperalgesie, die t reizbare Verstimmung, der t hypochondrische Vorstellungsinhalt einschließlich der verschiedenartigen t Furchtvorstellungen, sowie die t Entschluß- und t Willensschwäche, welche aus diesen psychischen Vorgängen resultieren.
3) Wenn Sie aber bedenken, daß auf Grund dieser psychischen Veränderung selbst geringfügige Lokalerkrankungen einen überwältigenden Einfluß auf die geistige Sphäre erlangen, so ist es leicht verständlich, daß auch im Rahmen der speziellen Psychotherapie die Jbesondere Berücksichtigung solcher örtlicher Leiden Platz finden muß." (S. 372 f)
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