Persönlichkeitspsychologie
Perspektiven einer wirkungsgerechten
Grundlagenwissenschaft.
Jüttemann,
Gerd (1995). Heidelberg: Asanger.
Buchpräsentation von Rudolf Sponsel, Erlangen
Inhaltsverzeichnis * Aus dem Vorwort * Entwurf einer nicht-systemimmanenten Psychologie * Fachpolitische Entwicklungen * Bewertung * Anmerkung: Persönlichkeit und Entwicklung * Links * Querverweise *
"Kaum jemand wird bezweifeln, daß
von allen grundlagenwissenschaftlichen Teildisziplinen unseres Fachs die
Persönlichkeitspsychologie die interessanteste sein könnte. Aber
vielleicht noch unstrittiger ist die Einschätzung, daß sie gegenwärtig
die problemreichste und außerdem die am wenigsten wissenschaftlich
etablierte Teildisziplin der Psychologie darstellt.
So kann es nicht überraschen, daß vor gut einem Jahrzehnt zum Thema Persönlichkeitspsychologie ein Buch erschien, dessen Untertitel lautete: Auf der Suche nach einer Wissenschaft. Das Werk (Autor: H.-J. Fisseni) enthielt, wie viele andere einschlägige Publikationen auch, nur einen Überblick über die verschiedensten Modelle der Persönlichkeit. ... Die implizite Systematik des Inhalts aller Ausführungen verweist in letzter Konsequenz auf eine doppelte Zielsetzung: Zum einen geht es darum aufzuzeigen, daß weder die operationalistischen Ansätze der naturwissenschaftlich orientierten traditionellen Psychologie noch die uferlose Vielfalt der außerdem vorhandenen Konzepte, die im Rahmen der (bisherigen) Persönlichkeitspsychologie diskutiert werden, strengen grundlagenwissenschaftlichen Kriterien genügen. Zum anderen wird versucht zu verdeutlichen, daß eine entwicklungsfähige Persönlichkeitspsychologie eine empirisch-geisteswissenschaftliche Fundierung benötigt und in diesem Sinne z.B. die von Hans Thomae initiierte, also biographisch apostrophierte Forschungsrichtung richtungweisend ist. Es gibt derzeit wenigstens vier verschiedene Arten und Weisen, ein allgemeines Fachbuch über Persönlichkeitspsychologie inhaltlich zu gestalten. Die durch einschlägige Beispiele belegbaren Möglichkeiten reichen von der (1) Kreation und Elaboration eines völlig neuen Persönlichkeitsmodells bzw. einer Modellvariante über die (2) Konzentration auf einen einzigen - bereits vorliegenden - [>6] Ansatz, d.h. auf dessen ausführliche Referierung sowie (3) die aufzählende und u.U. vergleichende Darstellung einer Auswahl konkurrierender Konzepte bis hin zu einer (4) kritischen Analyse der bestehenden (verworrenen) Situation in der gegenwärtigen Persönlichkeitspsychologie und der Vorbereitung einer umfassenden Erneuerung dieser Teildisziplin. Da der Verfasser die ersten drei der hier genannten Gestaltungsformen stets als wissenschaftlich problematisch ansah, entschied er sich für den Versuch, zumindest umrißhaft die Möglichkeit einer kritischen Analyse zu realisieren, und in diesem Rahmen die Ergebnisse sowohl theoretisch-gedanklicher als auch praktischer Forschungsarbeit vorzutragen. Damit verbindet er die keineswegs bescheidene Hoffnung, daß die Anwendung der gewonnenen Erkenntnisse dazu beitragen kann, die Situation im Fach Persönlichkeitspsychologie und darüber hinaus im Gesamtbereich der Psychologie in einer absehbaren Zeit und in entscheidender Weise zu verändern. Dabei geht es um nicht mehr und nicht weniger als um die Etablierung einer alternativen Psychologie auf empirisch geisteswissenschaftlicher Grundlage. Als ich aus der Praxis kommend vor nunmehr 20 Jahren meine Lehrtätigkeit im Fach Persönlichkeitspsychologie im Sommersemester 1975 an der Technischen Universität Berlin aufnahm, ahnte ich noch nicht, daß das damals bereits 30 Jahre alte Wittgenstein'sche Wort von der Öde der Psychologie auch in vollem Umfang für die Teildisziplin Persönlichkeitspsychologie gelten würde, wunderte mich aber über die vergleichsweise geringe Anerkennung gerade dieses Fachgebiets. Ich glaubte jedoch an einen baldigen Wandel der Verhältnisse und zwar im Sinne meiner Überzeugung, daß gerade das Fach Persönlichkeitspsychologie ungehobene wissenschaftliche Schätze in sich birgt. Der erwartete Wandel ist bisher nicht eingetreten, doch meine Überzeugung besteht unverändert." |
1. Gegenstandsangemessenheit des Vorgehensa) Das pInversionsprinzip [FN63] außer Kraft setzen. |
Es beginnt mit einem kleinen Paukenschlagabschnitt, der nichts Gutes
ahnen läßt (S. 117):
"Fachpolitische Entwicklungen
Im November 1991 fand in Heidelberg die „ l. Arbeitstagung für Differentielle Psychologie und Persönlichkeitsforschung" statt, und zwar mit dem Ziel, eine eigenständige intradisziplinäre Fachgruppe [FN69] zu gründen. Der Gründungsbeschluß kam tatsächlich auch zustande. Langwierig und schwierig gestaltete sich dabei jedoch der Prozeß der Namensgebung. Als (knapp) mehrheitsfahig erwies sich lediglich die durchaus merkwürdig anmutende - aber institutionell akzeptierte [FN70] — Bezeichnung „Fachgruppe Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik". Dieser Titel spiegelt nicht nur den Verlauf der Diskussion auf jener l. Arbeitstagung, sondern auch - zumindest im Hinblick auf den deutschsprachigen Raum — die Lage im Fach Persönlichkeitspsychologie (bzw. Differentielle Psychologie) wider. Hier ist die Situation vor allem durch das Vorhandensein zweier Lager gekennzeichnet, von denen das eine die monotheoretische, das andere die multitheoretische Position genannt werden soll. Die Vertreterinnen und Vertreter der monotheoretischen Position favorisieren einseitig das faktorenanalytische Persönlichkeitsmodell, präferieren den Begriff Differentielle Psychologie und sehen diese grundlagenwissenschaftliche Teildisziplin eng verknüpft mit der dem Anwendungsbereich zugeordneten traditionellen (psychometrischen) Psychologischen Diagnostik. Demgegenüber betonen die Vertreterinnen und Vertreter der multitheoretischen Position die Notwendigkeit einer pluralistischen Sichtweise, geben dem Terminus Persönlichkeitspsychologie den Vorzug und gehen von einem eher weitläufigen Zusammenhang zwischen grundlagenwissenschaftlicher Theoriebildung einerseits und anwendungswissenschaftlicher Orientierung bzw. konkreten - z.B. diagnostischen oder therapeutischen - Praxisformen andererseits aus." |
Das es heutzutage überhaupt noch FaktorenanalytikerInnen an den Universitäten geben soll, ist geradezu erschreckend, daß sie aber anscheinend auch noch so viel zu sagen haben, ist geradezu eine Horrorvorstellung. Jüttemann hält beide Wege für Sackgassen und postuliert die Notwendigkeit einer Neuorientierung (S.120-123), hieraus (S.123): |
"Neben diesen beiden Neuorientierungen
wird dann später noch von der Notwendigkeit partieller Umorientierungen
die Rede sein. Dabei geht es zum einen um die besondere Beachtung einer
erst noch zu entwickelnden Funktionsanalyse des Subjekts und zum
anderen um die neu zu gestaltende wissenschaftliche Verortung der differentiellen
Phänomene, und hier vor allem um eine völlig veränderte
Einordnung jener den „Normalbereich" überschreitenden [FN72] differentiellen
Phänomene, die bisher noch überwiegend den (Teil-) Disziplinen
Klinische Psychologie bzw. Psychopathologie oder Psychiatrie zugeordnet
sind.
In diesem Zusammenhang wird die Auffassung vertreten, daß es geradezu logisch zwingend ist, alle normabweichenden differentiellen Phänomene prinzipiell grundlagenwissenschaftlich zu erforschen und somit in die Zuständigkeit der Persönlichkeitspsychologie zu überführen. Darüber hinaus wird gefordert, die Kategorie der „normalen" differentiellen Phänomene innerhalb der Persönlichkeitspsychologie zu präzisieren und in Analogie zur Kategorie der normüberschreitenden differentiellen Phänomene vielfältig weiterzuentwickeln, und zwar unabhängig vom „trait"-Ansatz bzw. über diesen weit hinausgehend. Erwartet wird, daß auf diese Weise die ganze Fülle der Inhalte, die sich im Rahmen des Fachs Persönlichkeitspsychologie (bzw. Differentielle Psychologie - im Sinne der Ausführungen von Kap. 2) gegenstandsangemessen untersuchen lassen, sichtbar werden kann. Darin würde dann nicht nur eine Aufhebung der zwanghaften Konzentration auf den Faktorenansatz, sondern auch eine Annäherung an das ursprüngliche, von Stern (1900, 1921) umrissene Konzept der Differentiellen Psychologie zum Ausdruck kommen." |
Die differentielle und Persönlichkeitspsychologie ist von kaum zu überschätzender Bedeutung für den Beruf der PsychologIn, daher sind Bearbeitungen zu diesem wichtigen Thema natürlich grundsätzlich sehr interessant. Insgesamt ein kritisches und lesenswertes Buch zum Thema. Das Buch liefert aber keine Persönlichkeitspsychologie, sondern ist ein Buch über Persönlichkeitspsychologien und deren Unzulänglichkeiten und eine Art Programm oder Programmatik. Die richtigen prägalileiischen Grundlagenmängel der "Wissenschaft" Psychologie werden nicht erkannt und beim Namen genannt. Aber auch nicht die Grundprobleme der Persönlichkeitspsychologie, die sich sehr schnell zeigen, wenn man praktisch wird. Das scheut allerdings die akademische KathederpsychologIn wie der Teufel das Weihwasser. Der größte Mangel und die größte Schwäche der akademischen, meist amerikanisch pseudoexakt versauten [0,1,2,3,4,5] und oberflächlichen Psychologie - die man Jüttemann sicher nicht vorwerfen kann - ist offensichtlich, daß sie es nicht nötig hat, mit wirklichen Menschen in wirklichen konkreten Lebenssituationen zu arbeiten. So konnte sich weitgehend der Wahnwitz einer Psychologie ohne praktischen "Gegenstand" - den Menschen und seine Seele - am Katheder und in der Klause, im berüchtigten Elfenbeintürmchen, entwickeln (Ausnahme etwa Dörner und seine Bamberger Schule). Kein Wunder, daß rauskommt, was rauskommt. Immerhin, den desolaten, zum Himmel schreienden Zustand der Psychologie als "Wissenschaft" vom "Menschen" vermittelt dieses Buch. So gesehen ist es gut, aber viel zu zahm und viel zu wenig praktisch und zu wenig alternativ-konstruktiv. |
Das Schlußwort möge der Autor für uns sprechen:
Gerd Jüttemann: "Die große Ironie der Gegenwartspsychologie liegt darin, daß diese Wissenschaft, deren zentrale und eigentliche Thematik das Subjektsein des Menschen darstellt, gerade diesen Gegenstand auf operationalistischem Wege aus ihrem Betrachtungsbereich ausgeklammert hat, um ganz und gar eine (objektive) Naturwissenschaft werden zu können. Indem operationalistische Psychologie dabei die Einnahme eines kausalmechanisch-deterministischen Standpunkts voraussetzt, fällt sie sogar noch hinter die Position Kants und dessen Bestimmung von der Freiheit als Selbstdetermination des Menschen zurück [FN80]." Aus dem Abschnitt: Auf dem Wege zu einer Funktionsanalyse des Subjekts, S.129. |
Thomae: Persönlichkeit und Entwicklung
Ohne Zweifel entwickeln und verändern sich Persönlichkeiten, ja es gibt anscheinend sogar radikale Wandlungen - in der IP-GIPT als Saulus-Paulus-Phänomen bezeichnet. Andererseits war intuitiv mit der Idee von Persönlichkeitsmerkmalen meist die Idee einer Konstanz und Stabilität verknüpft (man kann aber natürlich auch wechselnde, instabile und fluktuierende Merkmale als persönlichkeitstypisch ansehen). Und so gesehen wären wir dann bei einem Grundwiderspruch der Persönlichkeitspsychologie, dem besonders auch die Therapie von Persönlichkeitsstörungen ausgesetzt ist. Einerseits sprechen wir von Persönlichkeitsmerkmalen als zumindest relativ konstanten und stabilen Phänomenen, andererseits entwickeln und verändern sich Persönlichkeiten und es soll auch (psycho) therapeutisch auf sie entsprechend eingewirkt werden können (1). Asendorpf widmet sich u.a. dieser Fragestellung in dem Abschnitt (S. 47f) "Persönlichkeit und Entwicklung: Ein Widerspruch?" |
Links zu Gerd Jüttemann und Umfeld
korrigiert: 02.05.04 irs