Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    IP-GIPT DAS=25.03.2002 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 19.02.05
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen * Mail:_sekretariat@sgipt.org

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     Willkommen in unserer Abteilung Geschichte der Psychotherapie, hier:

    Historischer Rahmen
    für den Zeitgeist um 1802 als die Rhapsodieen von Johann Christian Reil (1759-1813) geschrieben wurden und sein fachlicher Werdegang

    Die politische Bedeutung Deutschlands läßt sich unmittelbar folgender Karte entnehmen (Quelle S. 68/69): "Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts"


    Die Zeit der Aufklärung, der Romantik und Napoleons I.

    Aufklärung: England: Locke, Hume, Newton. Frankreich: Voltaire, Diderot, Helvetius, Holbach. Deutschland: Leibniz, Lessing, Kant; Friedrich II. Die Aufklärung kulminiert gesellschaftlich und politisch in Befreiungsbewegung und Revolutionen, bricht die Macht der Kirche und des Adels.
    Politisch: Deutschland war zu dieser Zeit zersplittert, herausragend wurde Preußen, das mit Frankreich, Österreich, England, Schweden und Rußland in Europa sich in einem ständigen Machtkampf um Vorherrschaft und Gebiete befand. Der politsche Mensch war trotz Aufklärung weitgehend ein "Neandertaler" geblieben: Gottes fürchterliche Ebenbilder sind überall am Werk: Krieg, Ausbeutung, Unterdrückung, Macht- und Landhunger.
    Deutsche Romantik 1795-1830 (Zentrum Jena) und die Vorherrschaft Napoleons I.

    Zeitgeist-Splitter und Zeitgeist-Montage Hintergrund 1750 bis 1800
    1713-1740: Friedrich Wilhelm I. schafft eine zentrale Verwaltung, unbestechliches Beamtentum mit den Leitwerten Pflicht und Gehorsam und ein bedeutsames Heer, das 2/3 der Staatsausgaben verschlang. Deutschland in Form von Preußen wurde wieder wer: Steuerlasten auf Bürgern und Bauern, der Adel war frei. 1750: K. A. Fürst von Hardenberg, preußischer Staatsmann, geboren. Maupertius versucht aus seinem Prinzip der kleinsten Wirkung, Gott zu beweisen. Sebastian Bach stirbt. Münchner Residenztheater im Rokokostil. Abschaffung Hexenprozese in D. Rousseau: Abhandlung über die Wissenschaften und Künste. Erster engl. Garten in D. (Hameln). Generalkarte des Mondes (J. T. Mayer). Erste Luftheizungsanlage in Petersburg. Einführung der Personenpost in D. 14 Regeln zum Umgang mit der Tabakdose. Aufkommen von Kaffegärten in D. Gesellschaftstanz: Menuett. 1751: Französische Enzyklopädie erscheint in 35 Bdn. Lamettrie: Die Kunst, die Wollust zu empfinden. 1752: Ecole Militaire Paris. Blitzableiter (Franklin). Literarischer Frauenkreis in London trägt blaue Strümpfe. 1753: Wenzel (Österreich). Große Koalition gegen Preußen, was Mme. Pompadour unterstützt. Arbeitszeiten in den Fabriken: 14-17 Stunden.
        Preußen: 1740-86 Friedrich II. der Große: 7jähriger Krieg mit Österreich (1756-1763). Friedrich Wilhelm II. von 1786-1797. Österreich: 1740-80: Maria Theresia. 1755: Erdbeben in Lissabon (30000 Tote). 1765 wird die Kartoffel in ganz Dt. bekannt. 1769: Watt: Patent Dampfmaschine. 1776 Proklamation der Bill of Rights (Virginia), Unabhängigkeitserklärung USA. Im gleichen Jahr erscheint Tissots verhängnisvolles Werk "Onania" auf dt. 1783 erste Ballonaufstiege. 1783 gibt Moritz das Magazin für Erfahrungsseelenkunde heraus. 1789 Die Französische Revolution tobt: der Adel beginnt, sich aus der Politik zu verabschieden. 1790 Adam Smith stirbt. Polenteilungen: Erste 1776 (Preußen besetzt Westpreußen), zweite 1792 (Preußen verleibt sich Danzig, Thorn, Posen und Kalisch = Südpreußen ein), der dritte verbrecherische Akt 1795 durch Preußen, Rußland und Österreich. Französische Revolution, 26.8.1789 Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Pinel befreit 1793 die Geisteskranken von ihren Ketten. Von Trotz der Schreckensherrschaft (1793-94) erobert von Frankreich ausgehend eine neue, menschlichere Psychiatrie - der Begriff wurde erst 1808 von J. C. Reil geschaffen - die Welt, die sich auch schnell in den meisten deutschen Anstalten durchsetzt und mit der non-restraint-Bewegung in England 1830 - 1840 einen ihrer frühen menschlichen Höhepunkte erreichte. 1799: Balzac und Puschkin werden geboren. Schiller siedelt zu Goethe nach Weimar über. Das Industrie- und Maschinen- Zeitalter nimmt seinen Lauf. Gauß formuliert den Fundamentalsatz der Algebra. Erste Dampfmaschine in Berlin. Beethoven, Haydn, Liszt. Die Zeit der Romantik bricht an. 1800: Errichtung Vereinigtes Königreich Großbritannien und Irland. England besetzt Malta. Franzosen schlagen Österreicher bei Marengo. Moltke geboren. Schiller: Lied von der Glocke. Beethovens erste Symphonie im Hofburgtheater (Wien). Zahlenmäßig überlegenes österreichisch (bayerisches) Heer von Moreau vollständig aufgerieben. Schelling in Jena: System des transzendentalen Idealismus. Schillers Maria Stuart in Weimar uraufgeführt. Goya: Bildnis einer Frau. Evans: Hochdruckdampfmaschine mit Kondensation. Herschel entdeckt ultraroten Teil des Sonnenspektrums. Erstes elektrisches Element durch Alessandro Volta (1745-1827), Entdeckung der Elektrolyse: Knallgas. London und Tokio Millionenstädte. Paris 550.000, New York ca. 60.000 Einwohner.

    1796: Bonaparte siegt in Italien; 1798 - 99 Zug nach Ägypten, um dort die Engländer zu treffen; Napoleon gewinnt die Macht und verwüstet Europa. 1799 Staatsstreich: "Bürger! Die Revolution ist zu Grundsätzen zurückgekehrt, von denen sie ausging; sie ist zu Ende!" Scheindemokratie und Militärdiktatur Napoleons I. 1802 wird Napoleon durch Plebiszit Konsul auf Lebenszeit. Entwicklung zur monarchistischen Diktatur. Zweiter Koalitionskrieg 1799 - 1802 Österreich, England, Rußland, Portugal, Neapel und die Türkei gegen Frankreich - Preußen neutral.

    Deutschland, Europa und Frankreich zur Zeit Napoleons I. (1769-1821)
    Abb-Quelle

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    1801 erste dt. Zuckerrübenfabrik. 1801 Friedensvertrag zwischen Frankreich und Österreich beendet Koalitionskrieg; Lothringen geht an Frankreich und der Rhein wird Staatsgrenze. Rheinpfalz von Bayern an Österreich. Gefrorenes Mammut in Sibirien gefunden. Owen führt in seiner Baumwollspinnerei soziale Reformen durch. Thomas Jefferson Präsident der USA. 1803 Säkularisationsbewegung mit dem 25.2. Reichsdeputationshauptschluß.


    Medizin, Psychologie, Psychopathologie und Psychiatrie

    Siehe bitte auch Geschichte der Psychotherapieverordnungen (1750-1813)
     

    Siegel Schola clinica  (28)

    Bestallungsurkunde 1788 (136)
    Reils fachlicher Werdegang [Quelle]

    Im ostfriesischen Rhaude als Sohn eines Pfarrers geboren und aufgewachsen. Zur Schulentlassung 1779 trägt er ein Gedicht "Lob der Medicin in Versen vorgestellet" vor. 
    Reil studierte zunächst in Göttingen - wo Haller (1708 - 1777) bis 1753 lehrte - bis ihn das Heimweh packte, dann ab Herbst 1780 in Halle. Dort schließt er sich seinem Mentor Goldhagen an und wird Mitglied der Loge "Zu den drei Degen", bei der Goldhagen den Vorsitz hat. 1782 Promotion. Danach der obligatorische Cursus in Berlin mit einer Empfehlung an Marcus Herz (1747 - 1803), wo er am geistigen Leben im Umfeld der jüdischen Familie Herz teilnimmt. Danach Praxis in seiner ostfriesischen Gymnasialstadt Norden. 1785 erste Veröffentlichung "Diaetetischer Hausarzt für meine Landsleute", aus dem bereits Reils soziales und kommunikationsmedizinisches Anliegen hervorgehen soll. 

    Ab 1787 ist Reil wieder in Halle - es wird vermutet auf Anregung Goldhagens - und wird Privatdozent. 

        Reil wirkt bei der von Goldhagen ab 1786 aufgebauten staatlichen schola clinica mit. Hier steht folgendes auf dem Vorlesungsprogramm: Klinische Übungen, Pharmakotherapie (speziell bei fieberhaften und chronischen Erkrankungen), Krankheitslehre, Pathologie, Volksarzneikunde und Ophthalmologie. Nach dem Tod Goldhagens Übernahme der Schola clinica Halensis- die unter ihm zu einem Erfolgsunternehmen wird - und Professur 1788. Aus dem Status der Schola geht eine Art moderner poliklinisch- internistischer Unterricht hervor wie er auch "heute kaum anders in der Ambulanz einer Universitätsklinik praktiziert wird ..." (S. 29) . 1789 Übernahme des Stadtphysikats in Halle.

        1795 hat er das „Archiv für Physiologie“ gegründet und darin Von der Lebenskraft veröffentlicht (s.u.). Goethe vermerkt in seinem Tagebuch am 1.7.1795: „Jacobs empirische Psychologie. Reil“. 1802 Ablehnung einer Berufung nach Göttingen; erste persönliche Begegnung mit Goethe, ab 1803 einer der Leibärzte Goethes, der auch am 15.8.1803 im Tagebuch zu R.s. psychopathologisch- psychotherapeutischem Hauptwerk Rhapsodieen ... notiert: „Bergrat Reil Danck für sein Werck.“ Eine Rezension von Goethe sandte dieser am 25.11.1804 an Reil.

        Aus psychologischer Sicht beeindruckt seine scharfsinnige, kühne, weitsichtige, der Humanität und Menschlichkeit verpflichtete grundlegende 1803 erschienene Arbeit Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode. Sie enthält bereits den Heilmittel-Hauptsatz, in dem die quantitative Relativität, die Paracelsus schon formulierte - die Dosis macht das Gift - qualitativ verallgemeinert wurde.

        Er gründete mehrere psychologische Magazine, 1805 zusammen mit dem Philosophen Kayssler das „Magazin für die psychische Heilkunde“.  In diesem Magazin entwickelt er bereits 1805 die grundlegende Jung'sche Selbstentfaltungs- und die moderne humanistische Selbstverwirklichungsidee.

        1808 und 1812 gab er zusammen mit dem an Heilkunde interessierten Philosophen Hoffbauer die zwei Bände „Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode“ heraus. Und im ersten Band 1808 - dem Jahr in dem er den Ehrendoktor für Philosophie erhält - erfindet Reil den Begriff der Psychiaterie, der sich sehr schnell durchsetzt und in kurzer Zeit zur Psychiatrie wird.

        Ebenso oft vitalistisch mißverstanden wie sein Buch von der Lebenskraft wurden seine kühnen und phantastisch anmutenden Ideen einer theatralischen und quasi hollywood-perfekten Illusionstherapie in ganz spezifischen psychopathologischen Ausnahmesituationen. Quelle all dieser kühnen Ideen waren  immer Empirie, Beobachtung und Kasuistik. 1809 Eröffnung der Reil’schen Badeanstalt in Halle. 1810 Berufung zum ord. Professor nach Berlin. 1813 Übertragung der Aufsicht über die Lazarette links der Elbe. In eben dieser infizierte er sich bei seiner Tätigkeit auf dem Schlachtfeld bei Leipzig am Flecktyphus und er starb am 22.11.1813 in Halle, zuletzt Professor der Medizinischen Klinik in Berlin.
     
    Ernest Harms würdigt 1960 im American Psychiatric Association Journal (66, 1037-1039) Reils Konzeption von den Geisteskrankheiten als „die großartigste psychologisch-biologische Philosophie“ die ihm jemals begegnet ist. (zit. nach Ellenberger 1973, Bd. I, S. 300).  

    Wichtige theoretische Beiträge und Orientierungen: Hauptleistung: Allgemeine, integrative und interdisziplinäre Grundlegung der Psychotherapie. Im Zusammenhang mit Pawlow und der Verhaltenstherapie mag es interessieren, dass Reil bereits 1795 in seiner gelegentlich als romantisch oder vitalistisch missverstandenen Arbeit über die „Lebenskraft“ in § 21 (S. 141 ff) die Idee des bedingten Reflexes als Prinzip der assoziativen Verkettung nach Zeit und Häufigkeit formuliert. Seine Arbeit über die Lebenskraft beginnt ganz unromantisch wie folgt: „§ 1 Die Erscheinungen belebter Körper haben vorzüglich in der Materie ihren Grund“. Lebenskraft nach Reil ist nur eine Bezeichnung für die Naturgesetze und Regeln, die aus toter Materie Leben hervorbringen. Das Prinzip der Konditionierung und assoziativen Verkettung formuliert Reil 1795 in „§ 21 Drittes Gesetz: Wenn mehrere tierische Organe, die miteinander in Gemeinschaft stehen, in einer gewissen Ordnung, nämlich zu gleicher Zeit, oder in einer unmittelbaren Folge zusammenwirken; und diese vereinigten Wirkungen in derselben Ordnung oft wiederholt werden: so werden dadurch die Organe so miteinander verbunden, dass, wenn eins aus der verbundenen Menge durch eine zufällige Ursache in Tätigkeit gesetzt wird, die andern eine Neigung ha-ben wieder mitzuwirken. Ihre Tätigkeit begleitet oder folgt gerne auf die Tätigkeit des gereizten Organs. Übrigens ist es einerlei, ob die Tätigkeiten durch Vorstellungen oder durch Bewegungen sichtbar werden, nur müssen die Organe, deren Tätigkeiten sich gegenseitig erregen sollen, eine gewisse Gemeinschaft miteinander haben.“

        In § 17 der Rhapsodieen (S.218-19) formuliert Reil ein Empirisch-Kreatives Konzept zur Erforschung der psychischen Curmethode: „Daher sollte man vorerst gute Köpfe, die Genie, Scharfsinn, Erfindungsgeist und Philosophie haben, durch  Übung zu einer geläuterten Empirie ausbilden. Diese würden mit Behutsamkeit das Bekannte auf die vorkommenden Fälle anwenden, ihren Irrthum bald einsehen, dadurch zu entgegengesetzten Methoden geleitet werden und nach und nach von ihren gemach-ten  Er¬fahrungen allgemeine Ideen absondern, die als künftiges Regulativ in der Behandlungsart der Irrenden dienen könnten.“

        Moderne psychosomatische Auffassung der psychischen Kur bei Reil: „Psychische Curmethoden sind also methodische Anwendungen solcher Mittel auf den Menschen, welche zunächst auf die Seele desselben und auf diese in der Absicht wirken, damit dadurch die Heilung einer Krankheit zustande kom¬men möge. Es ist daher in Rücksicht ihres Begriffes gleichgültig, ob sie eine Krankheit der Seele oder des Körpers heilen;“ ('4, S. 27/ 28).

        Auch der Begriff des Unbewussten [erste Nennung: Goethe in seinem Gedicht 1777 An den Mond] war Reil bereits bekannt (Rhapsodieen 1803, S. 127): „Einige Wahnsinnige, bemerkt Helmont [demens idea; Opera p. 174], waren sich, nach dem Anfall, der Symptome bewusst, die sie während desselben erlitten hatten. Ihre Seele, sagten sie von sich aus, sey im Alltag desselben bey einem Begriff stehen geblieben, von dem es ihnen vorgekommen sey, als wenn sie ihn im Spiegel vor sich gesehen hätten. Doch sey es ihnen nicht klar gewesen, dass sie denselben gedacht hätten. Auch würden sie mehrere Tage lang gestanden seyn, ohne es zu wissen, wenn der Anfall sie im Stehen überfallen hätte.“

        Grundaxiome der Heilbarkeit: „Es giebt nur zwey Wege, Krankheiten zu heilen, entweder wir tilgen sie direkt, oder entfernen die Ursachen, durch welche sie entstehn. Wir vernichten das Produkt, oder die Kräfte, durch welche es ursprünglich erzeugt und in der Folge unterhalten wird, und die Vegetation zerstört alsdenn das Produkt. Ein krummer Baum wird gerade, wenn er an eine Stange gebunden, oder dem Windstoß, der ihn krümmt, der Zugang vermauert wird. Alle andere Curregeln sind, unter diese begriffen.“ Und das Primat des Psychischen Heilprinzips „Die direkte Cur des Wahnsinns, oder das ärztliche Einwirken unmittelbar auf den Theil des Organismus, in welchem die Phänomene der Verrücktheit zunächst und zureichend gegründet sind, muß höchst wahrscheinlich bloß durch die psychische Curmethode geschehen.“ (§. 7., S. 45).

        Einheit von Theorie und Praxis. „Von der Differenz der Ärzte in wissenschaftliche, in denen Wissen und Handeln eins ist, und in empirische, die als psychologische Automaten zwar nach Regeln handeln, aber der Begründung derselben sich nicht bewußt sind, habe ich an einem andern Ort  geredet.“ (1808, S. 173).

        Das Relativitätsprinzip der Heilmittel: „Heilmittel sind Dinge, durch deren Anwendung auf thierische Körper wir die Krankheiten derselben zu entfernen suchen. Es ist gleich viel, ob diese Dinge körperlicher oder unkörperlicher Natur, Substanzen der Erde, oder ätherische Stoffe sind, die dem ganzen Weltall angehören, ob sie durch mechanische, chemische oder andere Kräfte wirken. Ihre Realität gründet sich also auf ein Verhältnis, das zwischen ihnen und dem Zweck statt findet, den sie erreichen sollen. Es giebt daher in der Welt, die als ein Mannichfaltiges nach den Gesetzen der Causalität existirt, keine Dinge, die ausschließlich zu dem vorhanden wären, Krankheiten zu heilen. Ihre Zweckmäßigkeit ist bedingt, und so mannichfaltig als die Gegenstände, auf welche sie angewandt werden. Das nemliche Ding, welches der Arzt zur Heilung der Krankheiten gebraucht,  kann auch andern Zwecken, z. B. zur Zerstörung der Organisation angewendet werden, und ist alsdenn, in dieser andern Beziehung, ein Gift. Die Heilmittellehre hat also in der Reihe der Naturdinge kein bestimmtes Gebiet (dominium), das sie als Eigenthum beherrscht, sondern wählt aus dem Inbegriff aller solche aus, die Behufs des Zwecks der Heilung auf den menschlichen Körper tauglich sind. Ihr ist in dem Gebiete derselben bloß ein Aufenthaltsort (domicilium) zugestanden, dessen Umfang nicht absolut begrenzt ist, sondern nach den Fortschritten der Kunst sich verändert, verengert, erweitert. Das nemliche Ding ist ein Nahrungsmittel, wenn es den Verlust an Substanz in einem gesunden Körper ersetzt; eine Arzney, wenn es die verlohrne Gesundheit wieder herstellt; und ein Gift, wenn es dieselbe zerstört. Dabey bleibt es an sich, immer das nemliche Ding. Daher muß jeder Versuch verunglücken, durch die Diätetik, Arzneimittellehre, Toxikologie u.s.w. bestimmte Scheidungslinien in dem Naturreich zu ziehen, und es gleichsam in besondere Provinzen abzutheilen.“ (Rhapsodieen § 3, S. 23f). Reil erkannte zahlreiche psychische Heilmittel (-klassen). Zur Organisation einer Heilanstalt: „Der Arzt und Psychologe sind die nächsten Kräfte, durch welche die Kur der Irrenden bewerkstelligt werden muss. Sie sind beide Heilkünstler, bloss verschieden durch die Mittel, welche sie anwenden, sofern jener durch pharmaceutische, dieser durch psychische Mittel wirkt.“ (Rhapsodieen S. 476).

    Wesentliche Publikationen (psychopathologisch, psychologisch und psychotherapeutisch)

    • Reil, J. C. (1794). Ueber die Krisen, die den wahren Nervenkrankheiten eigen sind. Journal
    • Reil, J. C. (1794). Ueber das Gemeingefuehl (als Anhang zur dt. Übersetzung von De La Roche: Analyse des fonctions du système nerveux). Halle:
    • Reil, J. C. (1795). Von der Lebenskraft. Archiv für die Physilogie, 8-162. Neu aufgelegt in der Reihe Klassiker der Medizin, hrsg. Von Karl Sudhoff, 1910 Leipzig: Barth. Unveränderter Nachdruck Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1968.
    • Reil, J. C. (1799-1815). Ueber die Erkenntniß und Cur der Fieber. 5 Bde. Halle: Curt
    • Reil, J. C. (1803). Rapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle: Curt'sche Buchhandlung. Nachdruck Bonset Amsterdam. Auch im Internet unter: https://www.sgipt.org/gesch/reil/r03-iv.htm.
    • Reil, J. C., Hoffbauer, J. C. (1808-1812). Die Zeitschrift „Beyträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege“ zusammen mit dem Kantianer Hoffbauer herausgegeben.
    • Reil, J. C., Kayssler (1805-1806). Herausgabe des „Magazin für psychische Heilkunde“ zusammen mit dem Naturphilosophen Kayssler.
    • Reil, J. C. (1805). Medicin und Pädagogik. In: Reil, J. C., Kayssler (1805-1806), S. 411-446.
    • Reil, J. C. (1808). Einige Parallelen zwischen Seele und Leib, somatischem und pneumatischem Kopf, Gehirn und Denkvermögen, behufs der Diagnosis der Asthenie des letzern. In: Reil, J. C., Hoffbauer, J. C. (1808). S. 33-54
    • Reil, J. C. (1808). Ueber den Begriff der Medicin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik der Psychiaterie. In: Reil, J. C., Hoffbauer, J. C. (1808). S. 161-279
    • Reil, J. C. (1812). Die Bestimmung des vegetativen Pols des Lebensprocesses durch den animalisch-sensoriellen, oder die Rückwirkung der Seele auf den Körper, durch ein Paar Beyspiele erläutert. In: Reil, J. C., Hoffbauer, J. C. (1812), S. 60-69.
    • Reil, J. C. (1812). Ueber das Unvermögen der Seele, die Richtung zu halten, durch ein Paar Beyspiele erläutert. In: Reil, J. C., Hoffbauer, J. C. (1812), S. 70-77.
    • Reil, J. C. (1812). Ueber die gegenseitige Abhängigkeit der Gesammt- und Eigengefühle voneinander, und den darin sichtbaren gegenseitigen Einfluß des gesammten Nervensystems auf seine Theile, und dieser auf jenes. In: Reil, J. C., Hoffbauer, J. C. (1812), S. 94-112.
    • Reil, J. C. (1815-1816). Entwurf einer allgemeinen Pathologie. 3 Bde. [Hrsg. Nasse; Keukenberg]. Halle: Curt'sche Buchhandlung.
     

    Literatur zu Reils historischer Rolle für die Psychotherapie.

    • Ellenberger, H. F. (dt. 1973). Johann Christian Reil. In: Die Entdeckung des Unbewußten, S. 298-300. Bd.I. Bern: Huber.
    • Harms, Ernest (1960). Johann Christian Reil. American Psychiatric Association Journal (66, 1037-1039)
    • Kronfeld, Arthur (1928). Einige Bemerkungen über die ersten psychotherapeutischen Veröffentlichun-gen, insbesondere J. C. Reil. Allgemeine Ärztliche Zeitschrift für Psychotherapie und Hygiene 1, 1, 10-23. Auch unter:  https://www.sgipt.org/gesch/reil/kronf28.htm.
    • Sponsel, Rudolf: https://www.sgipt.org/gesch/reil/reil-ueb.htm.


    Literatur zur Biografie

    • Borucki, Hans-Joachim (1960). Genealogische Tabellen (Ahnentafel Le Veaux, Ahnentafel Johann Christian Reil, Stammtafel Johann Christian Reil). In: Mothes, Kurt (1960, Hrsg.), S. 153-159
    • Eulner, Hans-Heinz (1960). Johann Christian Reil, Leben und Werk. In: Mothes, Kurt (1960, Hrsg.), S. 7-50
    • Gregor, Adalbert (1921). Johann Christian Reil. In: Kirchhoff, Theodor (1921, Hrsg.). Deutsche Irren-ärzte. Einzelbilder ihres Lebens und Wirkens, S. 28-42. Berlin: Springer.
    • Kaiser, Wolfram & Mocek, Reinhardt (1979). Johann Christian Reil. Leipzig: Teubner.
    • Kaiser, Wolfram & Völker, Anna (1989). Johann Christian Reil und seine Zeit. Hallesches Symposion. Halle: Martin Luther Universität Halle-Wittenberg. Wissenschaftliche Beiträge 1989/43 (T 73).
    • Mothes, Kurt (1960, Hrsg.). Johann Christian Reil 1759-1813. Nova Acta Leopoldina, Neue Folge 144, Bd. 22. Leipzig: Barth. [mit zahlreichen Abildungen und Faksimiles]
    • Piechocki, Werner (1960). Johann Christian Reil als Stadtphysikus in Halle. In: Mothes, Kurt (1960, Hrsg.), S. 103-124.
    • Pönitz, Karl (1960). Johann Christian Reil und die Psychiatrie. In: Mothes, Kurt (1960, Hrsg.), S. 99-102.
    • SGIPT in der IP-GIPT: https://www.sgipt.org/gesch/reil/reil-ueb.htm.


    Bildnisquellen:
    In Mothes (1960); Kaiser, Wolfram & Mocek, Reinhardt (1979). Porträts: Schat-tenriß von unbekannt von 1791. Kupferstich von Hans Veit Friedrich Schnor von Carolsfeld 1799. Gemälde von Johann Friedrich August Tischbein (nach 1802). Gemälde - Reil als Ritter des Roten Ad-lerordens - von Heinrich Anton Dähling 1812. Lithographie Leon Noël 1812. Reil Büste von Ernst Rietschel 1852. Porträt Reils auf Gedenkmedaille von J. L. Jachtmann 1813. Weitere Abbildungen und Faksimiles zu Reils Leben, Werk und Umgebung in Mothes (1960, Hrsg.).

    Reil und die Aufklärung

    Das Zeitalter der Aufklärung brachte auch in die Behandlung der psychisch Gestörten Bewegung. Als eine auch heute noch für wichtig empfundene Großtat gilt PinelsBefreiung der Kranken von ihren Ketten. Auf den ersten Blick muten daher Reils entwertende, deutsch- national anmutende Bemerkungen gegenüber Pinel aus heutiger Perspektive unverständlich an. Ich führe sie auf das spannungsreiche Verhältnis zu Frankreich (Revolution, Napoleon, Kriege, Rivalität mit der Grande Nation) zurück. Ungeachtet der Entwertung der Leistung der Franzosen, insbesondere auch Pinels, kann Reil in der Behandlungsfrage der psychisch Gestörten selbst als Revolutionär angesehen werden, besonders, was seine Bewertung der psychologischen Methoden und seine grundsätzliche Einstellung gegenüber den psychisch Kranken betrifft, wie seinem Werk "Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen" ja nun auch entnommen werden kann.


    Fußnoten:
    Karte "Europa zur Zeit Napoleons I." aus: Stier, H.-E. et al. (1967). Völker, Staaten und Kulturen. Braunschweig: Westermann. Seite 71, Ausschnitt.
    Quellen Reils fachlicher Werdegang:
  • Kaiser, Wolfram & Mocek, Reinhard (1979). Johann Christian Reil. Leipzig: Teubner. (Es wird noch eine gesonderte Bibliographie- Seite erstellt).
  • Nova Acta Leopoldina Neue Folge 144 Bd. 22. (1960) Johann Christian Reil 1759-1813. Vier auf der Reil-Feier in Halle am 25. Februar 1959 gehaltene Vorträge.



  • Änderungen
    19.02.05   Fortsetzung und vorläufiger Abschluß der Fachbiographie Reils.


    Querverweise
    Johann Christian Reil in der IP-GIPT.


    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Historischer Rahmen für den Zeitgeist um 1802 als die Rhapsodieen von Johann Christian Reil (1759-1813) geschrieben wurden und sein fachlicher Werdegang. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gesch/g1759-13.htm
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