Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=09.09.2001
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung 27.3.10
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Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20
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Selbstbefriedigung (Onanie, Masturbation)
Geschichte einer metaphysischen und wissenschaftlichen
Verirrung - des sog. "einsamen Lasters"
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Das Schuldgefühl, etwas Verbotenes oder angeblich Unnatürliches oder obendrein gar etwas Schädliches zu tun, dürfte im Laufe der Zeit tatsächlich manchen nicht nur in schwere Neurosen, sondern sogar in die Psychose getrieben haben. So macht nicht etwa Selbstbefriedigung krank - die erhält eher gesund - sondern der schuldbeladene, konfliktreiche und zermürbende Kampf mit ihr, wie gerade auch das Schicksal Ludwigs II. König von Bayern und seine Tagebücher in tragischer Weise beweisen.
Selbstbefriedigung kann nicht nur dazu dienen, sich sexuell zu entladen und zu entlasten, das ist sozusagen die einfachste Variante, sie kann auch eine gute Schulung der Phantasie, Hingabe und Technik sein: in der besonderen Form der "Squeeze Technik" ist sie durch Masters & Johnson ja sogar als wichtige therapeutische Hilfsmethode in der Therapie der Ejaculatio Praecox (vorzeitiger Samenerguß) und der Impotenz (mangelnde Erektion) eingegangen.
"Das einsame Laster
Der Horror der bürgerlichen Gesellschaft vor
autoerotischen Praktiken gibt uns Aufschluß über das Ausmaß
der in ihr geläufigen Heuchelei. Viele Historiker, von Jean-Louis
Flandrin bis zu Jean-Paul Aron, haben hervorgehoben, wie übertrieben
die medizinische Diskussion über dieses von der Kirche seit langem
verdammte Übel war. Ein wichtiges Datum war das Jahr 1760, in dem
Dr. Tissots berühmte Onania erschien, die dann bis 1905 mehrfach
neu aufgelegt wurde. In der Fachwelt war die Frage nach der Ausbreitung
masturbatorischer Praktiken umstritten, eine Frage, über die uns auch
die quantitative Geschichtsforschung keine definitiven Auskünfte liefern
kann. Verschiedene Faktoren sprechen dafür, daß autoerotische
Praktiken auf dem Vormarsch waren - es sei denn, die Sublimierung hätte
in demselben Maße zugenommen -; genannt seien das höhere Heiratsalter,
das Entstehen von Junggesellen-Gettos in den Großstädten, der
Wegfall der traditionellen vorehelichen Sexualität auf dem Lande,
die steigende Zahl der Internate, die Verbreitung des Schlafzimmers und
des Einzelbettes sowie die allgemeine Furcht vor Geschlechtskrankheiten.
Hinzu kommt, daß jene Errungenschaften, von denen oben die Rede war
und die das Individuum stärkten und seinen inneren Monolog förderten,
auch diese Form des sexuellen Vergnügens begünstigt haben müssen.
Denken wir ferner an die Faszination der Grenzüberschreitung, an die
Wonnen des Erliegens und Sündigens, aber auch - bei unbefriedigten
Ehefrauen - an den Wunsch nach Ersatz oder nach Rache, verbunden mit dem
Bestreben, die mit der Wahl eines Geliebten verknüpften Komplikationen
zu vermeiden. Dies alles läßt vermuten, daß die Kampagnen
der Moralisten gegen die »Onanie« nicht so heftig ausgefallen
wären, wenn die einschlägigen Praktiken nicht wirklich verbreitet
gewesen wären.
Wenden wir uns nun wieder den grimmigen Mahnungen
der Mediziner zu, deren abschreckende Wirkung wohl nicht zu unterschätzen
ist. Die endlosen Diatriben gegen die Masturbation, die im übrigen
mit der von Michel Foucault beobachteten Sexualisierung der Kindheit einhergingen,
gründeten in erster Linie auf dem Wahnbild einer gesunden »Ökonomie
des Spermas«, das man um keinen Preis verlieren oder vergeuden durfte.
[FN 19] Daher führte die männliche Autoerotik, wie man nicht
müde wurde zu betonen, zu rapidem Verfall. Auszehrung, vorzeitiger
Altersschwachsinn und dann der Tod, das waren die Wegstationen dieser hohlwangigen,
blassen, anämischen Wesen, die offenbar die Wartezimmer der Ärzte
bevölkerten. In dieser Dramatisierung des klinischen Bildes pochte
die panische Furcht, die Masturbation könne die Kraftreserven des
Mannes erschöpfen und ihn arbeitsunfähig machen; dahinter verbarg
sich die Weigerung, den Menschen über seine Lust lernen zu lassen
und die hedonistische Funktion der Masturbation anzuerkennen.
Besonders unerträglich und verpönt war
der Selbstgenuß der Frau ohne Mitwirkung des Mannes. Diese »Manualisierung«
war das Laster schlechthin; für den Mann war sie etwas absolut Geheimnisvolles
noch geheimnisvoller als die Erregung der Frau beim Orgasmus. Die Gefahren
der Kraftvergeudung konnte man hiergegen nicht ins Feld führen, schien
doch die erotische Kapazität der Frau unerschöpflich zu sein.
Dafür malte man andere, nicht minder schreckliche Visionen an die
Wand: Keine klinische Erhebung, keine Lebensgeschichte einer Nymphomanin,
Hysterikerin oder Prostituierten, die nicht mit dem Bild der jungen Onanistin
beginnt. Wir haben es hier mit der bekannten Feindschaft der Medizin des
19. Jahrhunderts gegen die Klitoris zu tun - ein Organ, das einzig der
Lust dient und für die Zwecke der Fortpflanzung überflüssig
ist.
Die Überwachung des Onanisten
Zum Kampf gegen das Übel der Onanie waren die Eltern, der Pfarrer,
vor allem jedoch der Arzt aufgerufen. Die Fachliteratur empfahl strenge
häusliche Überwachung der Kinder. In den Augen kirchlicher Erzieher
hatte der Schlaf ein Abbild des Todes zu sein, das Bett ein Ebenbild des
Grabes, das Erwachen ein Vorgeschmack der Auferstehung. Im Schlafsaal der
Mädchenpensionate wachte eine Schwester darüber, daß es
beim Zubettgehen und beim Aufstehen »sittsam« zuging. Tagsüber
war es ratsam, die Kinder nicht ungebührlich lange sich selbst zu
überlassen. Die Schulordnung in den Häusern der Ursulinerinnen
schrieb vor, daß jedes Mädchen stets in Sichtweite mehrerer
Kameradinnen zu bleiben hatte. Die Ärzte warnten vor zu warmen und
feuchten Betten; sie verboten Daunen und eine zu große Zahl von Decken
und verordneten eine bestimmte Lage beim Schlafen. Reitende Frauen erregten
ebenso ihren Verdacht wie die Nähmaschine, die von der Académie
de Médecine 1866 offiziell verurteilt wurde.
Bei der Verhütung der Onanie waren Gerätehersteller
und Orthopäden behilflich. 1878 empfahlen Fachleute die Ausrüstung
der Toiletten mit Spezialtüren, die oben und unten eine Öffnung
aufwiesen, durch die sich die Haltung des Benutzers hinter der Tür
beobachten ließ. Manche Ärzte präferierten als Kleidungsstück
für Jungen das lange Hemd mit Zugsaum. In hartnäckigen Fällen
von »Onanismus« sollten, so die Meinung der Fachleute bis 1914,
besondere Bandagen angelegt werden; für Mädchen wurden »Züchtigkeitsgürtel«
hergestellt. In Irrenanstalten fesselte man geisteskranke Nymphomaninnen
mit Handschellen und legte ihnen Apparate an, die verhinderten, die Oberschenkel
aneinander zu reiben. Wurde das Übel nicht behoben, konnte der Chirurg
eingreifen. So scheint die Kauterisierung der Harnröhre ziemlich häufig
vorgenommen worden zu sein. Theodore Zeldin schildert das Martyrium eines
achtzehnjährigen Kommis, der diese Prozcdur, die den unfreiwilligen
Samenabgang unterbinden sollte, siebenmal über sich ergehen lassen
mußte. [FN 20] Noch aufschlußreicher sind die Torturen, die
Amiel erdulden mußte und die er selbst ausführlich dargestellt
hat. Der Ärmste »erlitt« in regelmäßigen Abständen
»Samenabgänge«. »Jede Pollution ist ein Schlag in
Ihr Gesicht«, hatte ein Facharzt dem Neunzehnjährigen erklärt,
und seitdem registrierte Amiel besorgt jeden seiner nächtlichen Ergüsse.
Er gelobte Besserung und faßte immer neue Vorsätze; abends nahm
er ein kaltes Bad, aß feingestoßenes Eis und rieb den Unterleib
mit Essig ein. Nichts half; am 12. Juni 1841 beschloß er, nachts
nicht länger als vier bis fünf Stunden zu schlafen, und zwar
auf einem Stuhl sitzend . . .
Die Kauterisierung der Klitoris und der Scheidenöffnung
blieb hingegen eine seltene Prozedur. Noch seltener war die Klitorisdektomie,
die Dr. Robert seit 1837 vornahm und die Dr. Demetrius Zambaco noch um
die Jahrhundertwende praktizierte. Man muß allerdings Augenmaß
bewahren und darf die Häufigkeit solch furchtbarer Praktiken nicht
überschätzen, so negativ ihre Folgen für die Betroffenen
auch waren.
Wir haben gesehen, wie im Laufe des 19. Jahrhunderts
der Körper zu einer Obsession des privaten Lebens geworden war. Das
Horchen auf die geheimen Zeichen im Innern des Körpers, die Wachsamkeit
gegen die fleischliche Versuchung, die ständige Bedrohung, welcher
die Scham sich ausgesetzt wähnte, die stets mögliche Faszination
der sexuellen Grenzüberschreitung - dies alles trug zur Aufwertung
des Körpers bei. Man vermied jetzt den Anblick kopulierender Tiere.
Aus harmlosen Anspielungen wurden schmutzige »Herrenwitze«,
über die man heute nicht einmal mehr schmunzeln kann. Man gründete
Liedertafeln und Vereine zu dem alleinigen Zweck, über sexuelle Dinge
zu reden und zu lachen. Die Nacktheit unter ihren vielen Hüllen erregte
die Phantasie der Männer. Die Besucher der Comtesse Sabine in Zolas
Roman Nana diskutierten lang und breit über die Form der Hüften
ihrer Gastgeberin. Im Vergleich dazu wirkt unsere heutige vielbeschworene
Sexualisierung unsinnlich, ja, geradezu krude."
Hier wird im Laufe der Zeit das Originalwerk eingescannt (als GIF - Faksimilie, pro zwei Seiten ca. 40 k) - Beginn 9.9.2001 - und somit der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt. Fortsetzungen werden jeweils bekannt gegeben und können im Inhaltsverzeichnis Aktuell nachgeschlagen werden.
Literaturhinweise (psychoanalytische
Arbeiten sind mit einer gewissen Vorsicht zu genießen):
Einige Werke aus den Literaturhinweisen werden im Laufe der Zeit ausführlicher
und kritisch vorgestellt
Medien & Videos zum Thema Selbstbefriedigung
Aus Liebe zu mir (Frankreich,
2007, 52mn) ARTE
F Freitag, 26. März 2010 um 01.45 Uhr
Regie: Jean-Paul Fargier Stereo 16:9 (Breitbildformat)
"Im Mittelpunkt des Films stehen die beiden Jugendlichen Manu und Emma,
die über den Blog "Aus Liebe zu mir: Masturbation" ihre Fantasien
zur sexuellen Selbstbefriedigung austauschen. In diesem Blog kommt alles
zur Sprache, was man und frau schon immer über Onanie wissen wollte.
Die beiden Jugendlichen, die sich noch nie getroffen haben, suchen alle
Websites zur Onanie auf und entdecken dabei die Geschichte der kulturellen
und politischen Aspekte einer pikanten Debatte.
Die Helden dieses Films sind zwei Jugendliche, Manu
und Emma. Ungeniert und ohne Komplexe tauschen sie ihre Ideen und Fantasien
zur sexuellen Selbstbefriedigung über den Blog "Aus Liebe zu mir:
Die Masturbation" aus, dessen grafische Gestaltung die geheimsten Wunschvorstellungen
nährt. Außerdem veröffentlicht Emma im Blog ihre Gespräche
mit Schriftstellern, Philosophen, Künstlern und Ärzten, die Einblick
in die Geschichte der Onanie-Debatte gewähren.
Zur Veranschaulichung des Themas zeigt der Film
außerdem Kunstwerke von Rodin, Klimt und Schiele, exzessive Fantasien
Salvador Dalís, provokante Theaterperformances von Jan Fabre aus
den 70er Jahren, Spielfilmausschnitte und eine Auswahl von Sex-Toys. Dieser
kaleidoskopische Blick auf die Masturbation macht deutlich, dass das Thema
nach wie vor die künstlerische Produktion inspiriert und den Meinungsstreit
entfacht.
Zu Wort kommen neben den beiden Jugendlichen unter
anderem der Psychiater Philippe Brenot, die Philosophin Beatriz Preciado,
die Autorin und Kunstkritikerin Catherine Millet, die Literaturprofessorin
Anne Deneys, der Schriftsteller Philippe Sollers, der Philosoph Patrice
Maniglier und die Fotografin Ariane Lopez-Huici."
Jetzt Onanie! (115mn) ARTE
F Freitag, 23. November 2007 um 22.10 Uhr
"Aufgrund einer religiös und medizinisch geprägten Sozialmoral
gilt in vielen Gesellschaften die sexuelle Selbstbefriedigung auch heute
noch als Tabu oder Perversion. Der Themenabend will die gängigen Vorurteile
gegen Onanie und Masturbation entkräften und lässt Wissenschaftler,
Künstler und Jugendliche zu Wort kommen.
Von der Kirche wird sie seit je geschmäht,
von der Gesellschaft im Namen einer teils religiös, teils medizinisch
geprägten Sexualmoral eher verurteilt und noch heute scheiden sich
die Geister an der Onanie oder Masturbation, der sexuellen Selbstbefriedigung.
Im Jahr 1995 drängte die angesehene britische Medizinzeitschrift "Lancet"
darauf, die Masturbation endlich vorurteilslos zu erörtern, da sie
ein Aspekt des menschlichen Sexualverhaltens sei. Diesem Rat schließt
sich der Themenabend ganz entschieden an. In den beiden Dokumentationen
"Aus Liebe zu mir: Die Masturbation" und "Klitoris, die schöne Unbekannte"
behandelt er die wesentlichen Punkte des Streits zwischen Gegnern und Befürwortern
der sexuellen Selbstbefriedigung und versucht, die Vorurteile hinsichtlich
dieser Praktiken zu entkräften."
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