EINIGE BEMERKUNGEN ÜBER DIE ERSTEN PSYCHOTHERAPEUTISCHEN VERÖFFENTLICHUNGEN, INSBESONDERE J. C. REIL
J. C. A. Heinroth schrieb - neben vielen anderen Werken - das erste umfassende Werk einer bewußten und planmäßigen psychischen Hygiene: das „Lehrbuch der Seelengesundheitskunde" (2 Bände, Leipzig 1825). Im Theoretischen weitschweifig philosophierend, ganz im Geiste J. G. Fichtescher Gedanken, und mit dem gleichen moralistisch-pathetischen Einschlag, der diesen Denker kennzeichnet, - dabei von einem an Pedanterie grenzenden Bedürfnis nach systematischer Einteilung getragen, ist dieses große Werk dennoch im ganzen Wurfe und auch in vielen Dingen der Erfahrung und des praktischen Urteils nicht unwert, den Grundstein jener neuen Disziplin zu bilden, die erst ein volles Jahrhundert später sich zu entfalten beginnt. Heinroth widmet dem Körper, der Seele und dem Geiste je einen Hauptteil seiner Gesundheitslehre; diese zerfällt für jedes der drei Gebiete in eine Diätetik (Genußlehre), eine Ergastik (Tätigkeitslehre) und eine Prophylaktik. Das Kriterium des Gesunden erwächst ihm aus einer spekulativen Konstruktion über das ideale Verhältnis von Freiheit und Naturgebundenheit im Menschen; es ist, wie dies ja nicht anders sein kann, im Grunde nur eine Paraphrase über die swfrounh, das „rechte Maß" in allen Dingen - und zwar in einem durchaus moralisch gemeinten Sinne.
Zwanzig Jahre vor diesem Werke war, ebenfalls auf deutschem Boden, das erste grundlegende Werk über Psychotherapie entstanden: J. C. Reils „Rhapsodien über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen" (Halle 1803). Das eigenartig kühne, ganz persönliche und - bei all seinen oft grotesken Verirrungen - durchaus schöpferische Werk ist erfüllt von Problemen, die uns auch heute noch teilweise bewegen. Es übte einen großen Einfluß auf die Psychiatrie seiner Zeit aus; nach fast einem Menschenalter noch nennt Feuerstein, der Schüler Kiesers, in seinem Werke „Die sensitiven Krankheiten" (Leipzig 1828) Reil, „den herzigen Reil (E1), als „den ersten Begründer einer wissenschaftlichen Psychiaterie"; und noch mehr als 40 Jahre später gehen Kieser und Ideler in ihren Werken auf seiner Spur. Dabei ist Feuersteins Meinung nicht einmal richtig; Reil empfindet sich selber in psychiatrischer Hinsicht durchaus als den Schüler des Hallenser Philosophen Hoffbauer; und dieser eigenartige psychopathologische Denker hatte ein Jahr zuvor seine zweibändigen „Untersuchungen über die Krankheiten der Seele" (Halle und Hannover 1802) erscheinen lassen. In diesem Werke findet sich übrigens eine sonderbar verfrühte Überlegung, die mit fast seherischem Nihilismus die innere Antinomik aller späteren psychiatrischen Symptomatologie und klinischen Nosologie beleuchtet: „Wonach sind die Krankheiten der Seele am zweckmäßigsten zu klassifizieren? Nach ihren Symptomen? - Zu geschweigen, daß eine solche Klassifikation schon selbst eine Klassifikation der Symptome voraussetzt, und wenn man auch mehrere Klassifikationen, oder gar logische Einteilungen der Symptome hätte, hier noch immer die Frage entstehen würde, an welche man dann sich halten solle? so würde eine solche Klassifikation doch nicht zu dem Begriffe von dem Wesen der einzelnen Arten von Krankheiten führen. Und hierauf ist es doch bei einer Klassifikation zunächst abgesehen. Man will die Dinge nach ihrer Ähnlichkeit und inneren Verschiedenheit um so leichter übersehen können. Die Symptome geben aber nur äußere Übereinstimmung und Verschiedenheiten zunächst an. Um von diesen auf die inneren zu schließen, muß man sich meistens an mehrere, oft an alle Symptome halten. Denn ganz heterogene Krankheiten können in einzelnen Symptomen übereinkommen. Muß man sich, um das Wesen der Krankheit ganz zu erkennen, an mehrere Symptome halten: so würde zudem die Frage sein: wie viel Symptome, und nach welchen Regeln soll man sie zusammennehmen, um danach verschiedene Krankheiten zu unterscheiden? - Ebensowenig mögten die Seelenkrankheiten nach ihren Ursachen zu klassifizieren sein ... Sollten die Krankheiten der [>12] Seele nach ihren Ursachen klassifiziert werden, so könnte man sie doch nur nach ihren zureichenden Ursachen klassifizieren. Eine Klassifikation, die auf diesem Grunde beruht, würde aber schon eine Klassifikation dieser Ursachen selbst, und diese Klassifikation der Ursachen eine anderweitige Klassifikation der Krankheiten voraussetzen." (L. c. Bd. 1, S. 286-288.)
Um zur Psychotherapie zurückzukehren, so finden sich psychotherapeutische Bemerkungen, Mutmaßungen und Anweisungen verstreut fast in der gesamten gleichzeitigen Literatur der speziellen Psychiatrie jener Zeit. Bisweilen wird sogar in der allgemeinen Psychiatrie ein systematisches Prinzip ihrer Ausbildung angegeben. So hat der ungewöhnlich bedeutende A. Haindorf, welcher der somatischen Schule näherstand als der philosophischen, trotz seiner eigenen philosophischen Beschlagenheit, mit vorsichtiger Skepsis für die Geisteskrankheiten eine somatische Therapie gefordert, und in seelischer Hinsicht lediglich der „individuellen Behandlung, die keine allgemeine Regeln zuläßt, das Wort geredet. „Sobald aber der Arzt das bestimmte Individuum von seiner physischen und ideellen Seite durchaus erkannt und sich selbst zur höchsten Stufe der Humanität erhoben hat", kann er „nach Umständen, indem er sich entweder zur Stufe eines bestimmten Individuums herabläßt und sich dem Individuum gleichsetzt, das Individuum mit sich heben; oder er kann auch dem Individuum im nötigen Falle sein Übergewicht fühlen lassen, um dieses dadurch zu demütigen und zur Einsicht zu bringen". Und er fährt fort: „Mit dieser Erhebung und Herabsetzung eines Individuums ist im allgemeinen die ganze Möglichkeit der geistigen Heilmethode gegeben. Alle übrigen Kurmethoden fallen entweder in die medizinische oder in die chirurgische Praxis, oder sie beruhen auf bloßer Empirie, die oft instinkt-mäßig glücklich in das Ganze eingreift." (Versuch einer Pathologie usw., Heidelberg 1811, S. 37.) Gegen diese somatologische Ansicht wettert Ideler noch 1840 in seiner Vorrede zu der Preisschrift von R. F. Dubois über Hypochondrie und Hysterie; er weist heftig und mit berechtigtem Spott über die damalige pathologische Anatomie und Pharmakologie der Psychosen und Neurosen auf den Primat der seelischen Heilbehandlung hin. Hier geht er ganz im Fahrwasser Reilscher Gedanken. Freilich beginnt sein Schützling Dubois den therapeutischen Absatz seines Werkes mit Tönen, die der Fanfare Idelers recht ungemäß sind: „In therapia maxime claudicamus".
Neben den sporadischen Bemerkungen über Psychotherapie in der deutschen psychiatrischen Literatur jener Zeit finden sich ähnliche Ansätze auch in der Literatur des Auslandes. Sie alle sind nicht systematischer Natur; und dennoch enthalten die praktischen Erfahrungen eines Pinel in Frankreich, oder gar eines Mannes von der Größe Sydenhams oder Thomas Willis' in England manche gereiften psychotherapeutischen Erkenntnisse, [>13] wenn auch in somatologisch- verschleierten Formen. Willis insbesondere, der als erster und gegen den Widerstand all seiner Zeitgenossen die Hysterie nosologisch vom Uterus emanzipiert hat und ihre zerebrale Natur klar erfaßte, trieb deutliche symptomatische Psychotherapie. Er lag diesbezüglich im Streite mit seinem großen Zeitgenossen Highmore, dem er vergeblich zu beweisen versuchte, „daß fast immer bei den hysterischen Weibern das Herzklopfen, die Dyspnoe, die Präkordialangst usw. reine Nervenzustände sind" (Dubois 1. c. S. 349); ja, „Willis treibt sogar die Gefälligkeit soweit, daß er die Wirksamkeit stark riechender Substanzen zugestand" (ibidem). Doch hat er niemals systematische Grundlinien seiner Psychotherapie bekanntgegeben. Und Reil sagt etwas spöttisch: „Herr Willis soll vorzüglich durch die psychische Kurmethode wirken, ist aber so bescheiden, daß er seine Geheimnisse für sich behält." Nur bei Crichton finden sich bestimmtere Gedanken psychotherapeutischer Art. Ihn hat denn auch Reils Vorbild, Hoffbauer, in deutscher Sprache neuediert und kommentiert (1810) (E2); und Reil drückt ihm „im Vorübergehen die größte Hochachtung" aus. Crichtons Werk „Über die Natur und den Ursprung der Geisteszerrüttung" ist aber weit davon entfernt, eine Psychotherapie zu sein, so wie sie etwa Reil intendiert und geschaffen hat. Und so kann Reil mit einem gewissen nationalen Stolze von sich sagen, daß er, soweit er überhaupt bei seinen Bestrebungen Vorläufer gehabt habe, diese im eigenen Vaterlande gehabt habe. Als solche Vorgänger nennt er Kant, nämlich dessen bekannten Aufsatz über die Macht des Gemütes, ferner Bolten, „Gedanken von psychologischen Kuren" (Halle 1751), Tabor, „Über die Heilkräfte der Einbildungskraft" (1786) - Tabor schrieb übrigens ein Werkchen „Skizze einer medizinischen Psychologie" (1787), welches mir leider nicht zugänglich geworden ist - er nennt ferner noch eine Reihe anderer Autoren und hebt besonders Erhard, Langermann und Kloekhof hervor (E3). Soweit ich deren Werke und Arbeiten erhielt und prüfen konnte, geschieht diese Hervorhebung nicht gerade mit Recht. Es handelt sich immer um spekulative Konstruktionen darüber, daß „der Wahnsinn" und „die Tollheit" oder ihre lateinischen Aquivalentbezeichnungen durch Einwirkung auf die gleichen Seelenvermögen müßten geheilt werden können, von deren Störung sie theoretisch herleitbar seien. Von echter ärztlicher Empirie sind diese Ausführungen nicht eben getragen.
Schon lange wird sich dem Leser die Frage aufdrängen: wo bleibt in diesen Erörterungen der Mesmerismus? Wissen wir doch, mit welch [>14] außerordentlicher Kraft die von Mesmer ausgehende therapeutische Bewegung in der Frühromantik um sich griff. Sollte nicht ein Widerschein davon sich auch in den psychotherapeutischen Studien jener Zeit aufzeigen lassen?
Nun sind freilich, auch wenn wir uns mitten in der Ära der Romantik bewegen, die Psychiater der damaligen Epoche keineswegs alle Romantiker im engeren Sinne. Für Reil gilt diese Charakteristik noch am ersten. Gewiß hat sich kaum einer der damaligen Forscher dem philosophischen Zeitgeiste völlig verschlossen; auch waren sie fast durchweg Anhänger der Stahlschen humoral- vitalistischen, „animistischen" biologischen und pathologischen Grundlehren. Dennoch würde man ihnen ein Unrecht tun, wenn man sie in Bausch und Bogen in jene romantische Ärzteschule eingliederte, die ihren Ausgangspunkt von Ringseis und den Männern um Schelling und seine „Zeitschrift für spekulative Physik" nahm und die unlängst von Ricarda Huch in ihrem Werk über die Romantik geschildert worden ist. In der mir vorliegenden ersten deutschen Ausgabe des Mesmerschen Hauptwerkes (E4) nennt der Herausgeber Wolfart den Mesmerismus ausdrücklich das „Grundgesetz", das „gemeinsame Naturband" „zu den verschiedenen genialen Anwendungen des Schellingianismus auf die Heilkunde". Er leistet „allerdings der Schellingschen Naturphilosophie" „gar viel Vorschub", „dergestalt, daß er der unwidersprechlichen Naturansicht von der Polarität als Beispiel diente". Wolfart warnt davor, am Mesmerismus bloß eine seelische Einwirkung zu sehen oder bloß eine physische; in ihm wirke vielmehr die Aufhebung dieser Polarität, er sei alles in einem; Mesmer selber, der ihn für eine physische Kraft hielt, habe dies verkannt; er sei das Wesen des Lebens selber. Dies wird mit einem Wust von pseudophilosophischem Tiefsinn begründet.
Mochte der Mesmerismus im Sinne dieser Lehre Puységurs und Wolfarts nun das Ens vitalis sein, oder, nach des Entdeckers weniger anspruchsvoller Annahme, eine körperliche Naturkraft, eben der "tierische Magnetismus": in jedem Falle rechneten ihn die damaligen Ärzte, die ihn anwandten, zu den physischen Behandlungsmitteln und keineswegs zur Psychotherapie. So ist es auch bei Reil. Soweit er den Mesmerismus unter den psychischen Kurmitteln überhaupt erwähnt, tut er dies nebenbei unter den körperlichen Lustreizen: „angenehmes Lebensgefühl, Wein, Mohnsaft, Wärme, Streicheln, tierischer Magnetismus, Beischlaf, Entfernung der Schmerzen". Er sagt aus-[>15]drücklich, diese Reizmittel seien nan sich materieller Natur", sie würden "unmittelbar mit dem Körper des Kranken in Gemeinschaft gebracht, und dies in der Absicht, damit derselbe durch sie auf eine bestimmte Art verändert und sein veränderter Zustand der Seele durchs Gemeingefühl vorgestellt werde". Der tierische Magnetismus wirke „unmittelbar durch den sanften Hautreiz und vorzüglich durch die Erhöhung der Lebensfähigkeit überhaupt". Er faßt ihn also als körperliche Behandlungsmethode auf und legt ihm - wie dieser ganzen Klasse symptomatischer Erleichterungen in physischer Hinsicht - nur einen nebensächlichen psychotherapeutischen Wert bei.
Erst später wird, lange nach der Vorläuferschaft von Faria und Barbarin, die psychische Wirkung des Mesmerschen Verfahrens allgemein als die eigentliche erkannt. Welch übertriebenes Ausmaß von Wirksamkeit ihm selbst dann noch zugeschrieben wurde, ersehen wir beispielsweise aus Balzacs "Ursula Mirouet". Es ist ein historisches Glück für die Psychotherapie jener Zeit, daß dieses gefährlichste Gift der Romantik außerhalb ihrer Wirkungssphäre in wissenschaftlicher wie in praktischer Hinsicht verblieb. So können wir sagen: die Psychotherapie, so wie sie sich in Reils fundamentalem Werk zuerst systematisch niederschlug, ist ein Kind der Psychiatrie; und ihre Geburt wurde durch die psychologische Natur jener Psychiatrie begünstigt - wieviel man auch sonst gegen diese sagen mag.
In edler und mitreißender Sprache, wie sie kaum jemals einem zweiten psychiatrischen Forscher zu Gebote stand, gibt Reils Werk zunächst eine Einführung in die drängende Notwendigkeit einer psychotherapeutischen Fragestellung. Er ist im Innersten ergriffen von dem traurigen und barbarischen Lose der Geisteskranken seiner Zeit. „Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf die Knochen abgerieben, und ihre hohlen und bleichen Gesichter harren des nahen Grabes, das ihren Jammer und unsere Schande zudeckt. Man gibt sie der Neugierde des Pöbels Preis, und der gewinnsüchtige Wärter zerrt sie, wie seltene Bestien, um den müßigen Zuschauer zu belustigen. Die Erhaltung der Ruhe und Ordnung beruht auf terroristische Prinzipien. Peitschen, Ketten und Gefängnisse sind an der Tagesordnung. Die Offizianten sind meistens gefühllose, pflichtvergessene, oder barbarische Menschen, die selten in der Kunst, Irrende zu lenken, über den Zirkel hinausgetreten sind, den sie mit ihrem Prügel beschreiben. Der gescheuteste Arzt ist gelähmt, wie der Handwerker ohne Werkzeug." Reil sieht in diesem Milieu die theologische Seelsorge am Werke und dankt ihr. Doch nicht ohne feine Ironie: er hält ihr „gerne die Kunstliebe für die Heilung moralischer Krankheiten zugute. Allein hier tut er (der Theologe) wohl, ein Hilfskorps unter [>16] seine Fahne zu nehmen ... Dazu empfehle ich ihm die Zunft der Ärzte. Sie haben Mut und Kraft, weil jeder ihrer bedarf. Sie sind Zöglinge aus der großen Schule der Natur, die den Menschen vom Menschen nicht trennt, und sehen daher den Kränkungen seiner Rechte mit Unwillen zu. Sie kennen endlich den Menschen, dem sie leider zu oft hinter den Vorhang schauen, wenn er es im Drange der Umstände vergißt, die Maske festzuhalten". Freilich: "Ärzte, die Scharfblick, Beobachtungsgeist, guten Willen, Beharrlichkeit, Geduld, Übung, einen imponierenden Körper, und eine Miene, die Ehrfurcht gebietet, kurz alle zur Kur Irrender nötige Eigenschaften besitzen, sind so selten, daß sie kaum für öffentliche Anstalten, vielweniger für zerstreute Privatkranke gefunden werden." Reil erfaßt auch mit voller Schärfe die Forderung einer doppelten Funktion der Anstalten: nicht bloß Bewahrungsanstalten zu sein, sondern Heilanstalten, mit besonders dazu geschultem Personal und besonderen Einrichtungen für psychotherapeutische Zwecke. "Die Ärzte bestehen darauf, allein durch Arzneien zu heilen. Durch Molmsaft und Niesewurz soll jede verstimmte Saite des Gehirns zum normalen Ton angeschroben werden. Sie achten der reichhaltigen Überreste der psychischen Curmethode und deren Anwendung nicht, die das Altertum auf uns fortgepflanzt hat." Er ist nicht kritiklos und gibt der somatischen Therapie ihre Stelle; aber er weiß, „ihre Zweckmäßigkeit ist bedingt"; und so setzt er neben die somatologische Therapie die psychischen Mittel der Heilung, ,wenn sie durch eine bestimmte Richtung der Seelenkräfte, der Vorstellungen, Gefühle und Begierden solche Veränderungen in der Organisation hervorbringen, durch welche ihre Krankheiten geheilt werden". Freilich ist diese Lehre "noch rohes Feld". Ihre „methodische Anwendungen" auszuarbeiten, ist ein dringendes Zukunftsgebot.
Die Psychotherapie stößt allerdings von Anbeginn an auf Schwierigkeiten: sie kann "die absolute Kraft" ihrer Wirkungsweise nicht im voraus berechnen; sie muß meistens „die Eindrücke auf den Kranken extemporieren". „Noch mehr Spielraum hat der relative Effekt der psychischen Mittel"; und zwar im Hinblick auf die Anlagen, die wir heute dem endogenen Faktor im Einzelfalle zuschreiben würden. Nur in seltenen Fällen „kömmt uns der Patient zu Hilfe. Er beobachtet sich selbst und teilt uns seine Erfahrungen über den Einfluß auf sich mit. Er entschließt sich als freier Mensch zur Vollziehung des vorgelegten Kurplanes und hält seinen Geist, wie es dem Zweck seiner Genesung angemessen ist." In den meisten Fällen bedarf es des Zwanges. „Nun setzt aber dieser Zwang teils ein besonderes, fast individuelles Studium der Erfahrungs- Seelenkunde dieser eigenartigen Geschöpfe voraus, teils beengt er mehr oder weniger die extensive und intensive Wirksamkeit der psychischen Kurmethode."
[>17] Und nun folgen die prachtvollen Worte: „Allein diese Schwierigkeiten in der Anwendung der psychischen Curmethode, mögen sie auch noch so groß sein, sollen uns weder muthlos noch unthätig machen. Nur der Faule scheut den Löwen im Wege. Manche Hindernisse beseitigt das Genie des Künstlers in der Ausübung. Hier scheiden sich Theorie und Praxis. Jene gibt die allgemeinen Regeln, diese muß sie den individuellen Umständen anpassen. Um dies Verhältnis richtig aufzufassen, muß der Arzt nicht allein den vorliegenden Fall in allen, selbst in seinen verstecktesten Beziehungen, überschauen; sondern auch im Besitz der Regeln sein, die er auf denselben anwenden soll. Es ist daher ein so trivialer als falscher Gemeinplatz, daß gute Praktiker gebohren und nicht gezogen werden müssen."
Diese Regeln finden ihre Grundlage in einer besonderen Psychologie. „Allein eine solche Psychologie für Aerzte und wahrscheinlich auch von Aerzten würde einen anderen Zuschnitt als die gewöhnlichen haben müssen. Dem Philosophen, als bloßem Naturforscher, genügt es, seinen Gegenstand ohne Rücksicht auf einen besonderen Zweck zu bearbeiten. Er hält sich vorzüglich an die Naturlehre der Seele in ihrem normalen Zustande; höchstens fügt er etwan ihre moralischen Gebrechen zu, die den Arzt nichts angehen. Der Arzt bedarf zwar auch einer Naturlehre der gesunden Seele, damit er eine Norm für die kranke habe. Allein vorzüglich greift die Lehre ihrer Krankheiten und die Methode, sie zu entfernen, in seine eigenthümliche Bestimmung ein. Eine Psychologie für Aerzte würde daher ein ganz anderes Ding, ein Inbegriff empirisch psychologischer Erkenntnisse seyn, die mit beständiger Rücksicht des gegenseitigen Einflusses beider Theile des Menschen aufgesucht, und mit dem Heilgeschäft in der engsten Verbindung gesetzt sind." Er fordert also eine "Physiologie und Pathologie der Seele, psychische Heilmittellehre und psychische Therapie". Er führt diesen Gedanken des längeren aus, jedoch in einer philosophischen Zeitgebundenheit, die seine Wiedergabe hier entbehrlich macht. Dann sagt er - und schlichtet damit einen erst unlängst aktuell gewesenen Streit: „Der Arzt war meistens nicht Philosoph, der Philosoph nicht Arzt genug, um die Psychologie nach dieser Idee zu bearbeiten. Man raisoniert zu viel und beobachtet zu wenig; schaut theils ohne Plan, theils nicht ohne Vorurtheil an; philosophirt auf der Stube und vergleicht die gemachten Erfahrungen zu sparsam mit der Natur, so daß sie durch die kreisenden Traductionen von einem Verleger zum andern zuletzt ihre ursprüngliche Gestalt verlieren." „Gute Köpfe sollten sich in Nervenkrankheiten selbst beobachten, welches aber, leider! selten geschieht. Denn dadurch würde mehr Ausbeute, und diese von einem besseren Gehalt gewonnen, als durch das kalte Anschauen der Oberfläche, welches bloß einer dritten Person möglich ist." Wer denkt hier nicht an die Forderung [>18] von Jaspers und der Heidelberger Schule, Selbstschilderungen reichbaltiger individueller Einzelfälle zum Ausgangspunkt psychopathologischer Forschungen zu machen. Auch Reils Schilderung der verschiedenen Schulen psychiatrischer und psychopathologischer Theorie und Praxis mutet uns wie etwas Heutiges an. „Über sie alle schwebt, gleich dem Adler, eine sublime Gruppe spekulativer Naturphilosophen, die ihre irdische Beute in dem reinsten Aether assimilirt und als schöne Poesien widergibt. Möchte doch jeder unter uns glauben und lehren ohne Partheisucht, die Wahrheit auf seiner Straße verfolgen, aber nicht ungerecht sein gegen das benachbarte Verdienst, und es nicht vergessen, daß an dem großen Tempel für Menschenglück und Menschenwohl Hände aller Art arbeiten müssen."
In der grundsätzlichen und allgemeinen Intention seines Werkes ist Reil der erste bewußte und programmatische Verkünder der Psychotherapie, so wie sie als ärztliche Aufgabe noch heute vor uns steht und wohl immer bestehen wird. In dieser historischen Rolle liegt Reils eigenartige Größe. Verfolgt man jedoch die Ausführung und Durchbildung, die Reil selber seinem Grundgedanken zuteil werden ließ, so wird man mit schmerzlichem Bedauern inne, wie seine Zeitgebundenheit ihn unfähig macht, die Erreichung des Ziels mit gleicher Größe zu bewältigen wie die Erkennung desselben. Das Licht des Geistes, dem die psychotherapeutische Idee in ihrer unvergänglichen Formulierung entspringt, wird durch die historische Gebundenheit und Befangenheit vielfach beschattet und bisweilen völlig verdunkelt. Zwar bricht im Verlaufe seiner Gedankenführung immer wieder Reils geistiger und ethischer Schwung durch und nimmt Fragestellungen vorweg oder gibt praktische Anregungen, die seinem Zeitalter weit vorauseilen. Aber dies Edelmetall ist in massenhafte Schlacke eingebettet.
Zum Teil liegt dies an den physiologischen, insbesondere neurophysiologischen Grundvorstellungen, in denen Reil gänzlich ein Kind seiner Epoche war. Wir brauchen denselben an dieser Stelle nicht zu folgen. Aus ihnen folgt für unsern Zweck vor allem die Konsequenz, daß Reil noch keinen naturwisssenschaftlich geklärten Krankheitsbegriff in dem Sinne besitzt, daß er zwischen Atiologie, nosologischer Eigenart und symptomatologischer Ausprägung zu unterscheiden vermag; und noch weniger vermochte ihm etwa eine Rangordnung und Wertigkeitsbestimmung der Ursachen oder auch nur der Symptome in Beziehung auf das Krankheitsgeschehen, also in nosologischer Hinsicht, jemals zum Problem zu werden. Symptomenbild und Krankheit sind ihm unbesehen dasselbe. „Es gibt nur zwey Wege, Krankheiten zu heilen, entweder wir tilgen sie direkt, oder wir entfernen die Ursachen, durch welche sie entstehen. Wir vernichten das Produkt oder die Kräfte, durch welche es ursprünglich erzeugt wird. Ein krummer Baum wird gerade, wenn er an eine Stange gebunden, oder dem Windstoß, der ihn krümmt, der Zugang vermauert wird. Alle anderen Curregeln sind unter diese begriffen." Die Ursachen interessieren ihn in der Folge nur nebenbei und mehr theoretisch; er hält sich an „das Produkt". Der Baum wird an die Stange gebunden, und zwar mit psychologischen Mitteln. Das kann ohne Gewalttätigkeit gegen den Baum nicht geschehen. Nur so ist der Irrweg verständlich, der diesen humanen Geist dahin bringt, Furcht und Gehorsam als die Grundvehikel aller Psychotherapie theoretisch festzulegen und mit dem Inventar einer fast wollüstigen Phantasie im Kranken zum Durchbruch zu bringen.
Das „Produkt", die psychische Erkrankung ist psychologischer Natur. Mit psychologischen Mitteln wird es verändert. Diese Auffassung verrät bei Reil den Keim zu einer Idee von jener psychischen Dynamik, die uns heute gerade im Neurosengebiet zu ungeahnten Einsichten und therapeutischen Möglichkeiten verhilft. Reil verallgemeinert diesen Gedanken aus theoretischen Gründen. Ihm trennen sich nicht Neurosen und organische Erkrankungen mit psychischen Symptomen. Er spannt das Netz seiner psychotherapeutischen Wirkung über alles Psychisch-Anomale. Dieser Gedanke wäre groß, er wäre vielleicht auch heuristisch fruchtbar - wie die neueren Arbeiten zur Psychodynamik und Psychoanalyse der Schizophrenie, der Melancholie, der Paralyse usw. beweisen -, wenn Reil in der psychologischen Ausführung desselben nicht ganz befangen wäre von jenem rationalisierenden Intellektualismus, der mit seinen fast magisch und animistisch anmutenden physiologischen und psychophysischen Grundvorstellungen seltsam konstrastiert. So bleibt auch hier ein geniales Aufblitzen gänzlich in der Zeitgebundenheit stecken.
Reils Aufgabe wäre - und er erfaßt sie durchaus als solche -, zunächst die Strukturen des seelisch-anomalen Erlebens und Reagierens psychologisch zu erfassen, um diese sodann hinsichtlich ihrer seelischen Beeinflußbarkeit und Veränderlichkeit zu untersuchen. Indem er sich diesen „Naturalismen" zuwendet, hat er zunächst wieder einen großen Gedanken: denjenigen, daß das Zentrum aller psychischen Dynamik das Selbstbewußtsein bilde, „die Grundveste unserer moralischen Existenz". „Was wären wir ohne dasselbe? ein leeres Gleichnis des Spiegels einer See . . ." Reil wäre zweifellos auf den Kern des Neurosenproblems gestoßen, wenn er seinem eigenen Programm gemäß untersucht hätte, wie das Selbsterlebnis und die Selbstdarstellung des Ich sich im seelischen Leben vollziehen, im gesunden wie im abnormen. Aber kaum daß er das Problem des Selbstbewußtseins gesichtet hat, sieht er sich durch seine intellektualistische Befangenheit bewogen, statt dem Erleben zu folgen, eine theoretische und rationalisierende Substruktion des Selbstbewußtseins zu geben, die in empirischer Hinsicht um keinen Schritt weiterführt.[>20]
Er verwickelt sich damit in eine theoretische Psychologie des Intellekts, die ihn zwingt, neben das Selbstbewußtsein die Besonnenheit und die Aufmerksamkeit als Grundfaktoren der psychischen Persönlichkeit des Kranken zu stellen Wo er sich den Anomalien des Selbstbewußtseins zuwendet, ist Reit wieder äußerst interessant; seine Beispiele betreffen fast alle solche Fälle, die wir Heutigen als psychogen im weitesten Sinne bezeichnen würden: Dämmerzustände, Persönlichkeitsspaltungen, Depersonalisation usw. - also Syndrome, die wir heute für psychotherapeutisch durchaus zugänglich halten. Und ganz besonders verdienstvoll ist Reils Gedanke, daß das Selbstbewußtsein in seiner konkreten erlebnismäßigen Ausgestaltung "durchs Gemeingefühl" sich bilde und beeinflußt werde. Aus seinem Werke geht nicht hervor, ob dieser Gedanke durch die zeitgenössische französische Philosophie ihm übermittelt, oder ob er Reils eigener Intuition entsprungen sei. Die spätere Geschichte der Psychiatrie und der Neurosenforschung ist ein einziger großer Beweis für Reils glänzende Konzeption in diesem Punkte. Leider jedoch wertet er auch diese Idee in der praktischen Ausführung seiner Psychotherapie nur ungenügend aus. Immerhin hat sie ihn darauf gebracht, der Gymnastik, "welche Herodikus zuerst zu einem Zweige der Heilkunde gemacht hat", warmherzig das Wort zu reden. Neben diesem modernen Gedanken stehen dann freilich als völlig gleichberechtigte Kurmittel "Senf, Meerrettig, Pfeffer, Vanille, das Einatmen des Sauerstoffgas, die Elektricität, der Galvanismus ... Tropfbad, Douche, Blasenpflaster auf den Wirbel ... man reibt und kitzelt den Kranken, impft ihm die Krätze ein, und erregt ihm allerhand andere schmerzhafte Gefühle".
Im Verlaufe seiner dynamologischen Gedankengänge über den Aufbau des abnormen Selbstbewußtseins kommt Reil im Vorübergehen sogar flüchtig auf den Gedanken, sich danach zu fragen, ob nicht gewisse psychische Vorgänge durch unbewußte Mechanismen bewirkt sein könnten. Allein in seiner intellektualistischen Gebundenheit weist er "logisch" diese Möglichkeit von sich: „Was sind dunkle Vorstellungen, Vorstellungen ohne Bewußtsein? Chimären." „Es bleibt also bloß die Frage zu beantworten übrig, wie zuweilen Vorstellungen entstehen, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht entstehen, und uns daher über ihren Ursprung in Verlegenheit setzen." So klar er hier die psychoanalytische Fragestellung zu erfassen scheint, so sehr hindert ihn seine theoretische Apodiktizität wiederum daran, ihr nachzugehen; und er flüchtet sich in seine bequeme mystische Physiologie: „Allein wenn die Temperatur der Kräfte des Gehirns gesteigert, das Kraftverhältnis seiner Teile aufgelöst, die Angel der Verbindung abgezogen ist, die Getriebe einzeln und in dem Grade stärker wirken, als die übrige Maschine ruht: so müssen allerdings auch eben solche eigenartigen Wirkungen erfolgen." [>21]
Nach dieser rationalistischen Psychologie der Persönlichkeitsstruktur und nach einer darauf beruhenden unselbständigen Psychologie der Seelenstörungen, die wir hier übergehen können, folgt die Indikationsstellung für die Psychotherapie. Sie ist, wie zu erwarten, breit und allgemein gehalten: ,daß überhaupt genommen alle Geisteszerrüttete, die noch als heilbar anerkannt werden, für die psychische Curmethode geeignet sind." Differenzierend setzt Reil nur den erstaunlich klarsehenden Satz hinzu: „Doch müssen solche Geisteszerrüttungen, die von Leidenschaften, Anstrengungen der Seele und anderen moralischen Ursachen entsprungen, einfach und rein dynamisch (ab intemperie immateriali), also ohne Fehler und sichtbare Desorganisationen ... sind, ganz allein durch die psychische Curmethode behandelt werden."
Reil läßt sodann den Inbegriff einer psychischen Heilmittellehre an uns vorbeiziehen, den er der somatischen Pharmakologie angegliedert wissen will. Er erkennt die Relativität ihrer Wirkungen, er erkennt als ihren Angriffspunkt das Gemeingefühl und die Sinnesorgane. Eine direkte Wirkung psychischer Faktoren findet sonst nur noch auf die Gefühls- und Vorstellungssphäre statt; auf Triebe und Entschlüsse vermag man nur indirekt psychisch zu wirken. Hiernach unterscheidet er drei Klassen der psychischen Mittel: die aufs Gemeingefühl, die auf die äußeren Sinne, und die sprachlichen und symbolischen Wirkungen auf Gefühl und Phantasie. Schon durch diese Dreiteilung, die wieder recht dem intellektualistischen Schema entspricht, erschwert sich Reil die wirkliche psychotherapeutische Einstellung; die gleichsam peripheren Einwirkungen überwuchern die eigentlich psychischen. Er unterscheidet in der Anwendung eine "negative Heilmethode", die beruhigende, Reize ausschaltende, ablenkende - und eine von ihm überwertete "positive Heilmethode", welche durch Anwendung von Reizen wirksam ist".
Seine allzu breite Indikation für psychotherapeutische Einwirkungen, die auch schwere Psychosen umgreift, und ebenso jenes Schema der Reizwirkungen, von dem soeben die Rede war und in welchem die „peripheren" überwiegen, führt nunmehr folgerecht zu dem uns heute völlig mißlungen erscheinenden Aufbau der psychischen Kurmethode selber. Diese eigentliche „Therapeutik" ist so gedacht, daß die Kranken zunächst mit allen Mitteln in ihrem kranken Eigenwillen gebrochen werden, bedingungslosen Gehorsam lernen und in diesem Zustand dazu erzogen werden, besonnen zu sein, sich aufmerksam zu verhalten und auf körperlichem wie auf geistigem Gebiete zu einem normalen Selbstbewußtsein, zum Gebrauch ihrer Fähigkeiten in nützlicher Hinsicht und zur Unterdrückung ihres krankhaften Erlebens zu gelangen.
Es würde dem Genius dieses Mannes nicht entsprechen, wenn wir uns diese in zwei Paragraphen skizzierten Methoden in ihrer Absurdität und viel-[>22]fachen Grausamkeit durch ausführliche Wiedergabe hier verdeutlichen würden. Reil hat zugestandenermaßen hier nicht seine geringen praktischen Erfahrungen sprechen lassen, sondern seine Phantasie. Daher auch wohl der Titel seines Werkes: "Rhapsodien". Für uns Heutige ist nichts von diesen Dingen mehr brauchbar; obwohl sich nicht verkennen läßt, daß gewisse Einzelheiten auch uns noch einen Problemwert enthalten. So ist er ein warmer Befürworter des psychotherapeutischen Gebrauchs von Musik, von Arbeit, von Vernachlässigung der manifesten Symptome bei erregten Kranken; er sucht (bei „fixem Wahn") persuasiv zu wirken usw. Im ganzen hat er sich nicht von seinem theoretisch vorbereiteten Schema und vom Geist der Irrenpflege seiner Zeit freimachen können, so sehr er diesen Geist selber bekämpft. Am erstaunlichsten ist immer wieder die Wirkung, die dieser humane Mensch sich von Angst, Schrecken, "schaudernden Eindrücken" auf seine Kranken verspricht. Selbst die Drohung mit dem glühenden Eisen verschmäht er in gewissen Fällen nicht.
Bei allen diesen Schwächen, die bisweilen eine schauerromantische Phantastik aus sich hervortreiben, bleiben im Werke Reils jene großen Gesichtspunkte, von denen wir berichteten, ein unvergängliches Verdienst. Sie waren es auch, die schon seine Zeitgenossen mit regem Interesse für die von Reil so kühn inaugurierte "psychische Kurmethode" erfüllten. Es kam damals auch schon zur Gründung der ersten psychotherapeutischen Zeitschriften. Reil selber war bei zwei derselben als Herausgeber mitbeteiligt: 1805 gab er zusammen mit Kayssler ein "Magazin für psychische Heilkunde" heraus, in welchem er selber einen Aufsatz schrieb über das durchaus moderne Thema: "Medizin und Pädagogik". Diese Zeitschrift ging vor Ablauf eines Jahres ein. Drei Jahre später begründete Reil zusammen mit dem schon genannten Hoffbauer die "Beiträge zur Beförderung einer Kurmethode auf psychischem Wege". Das Programm entsprach ungefähr demjenigen Programm, welches noch heute für die Zeitschrift gilt, die in die Welt zu setzen wir im Begriffe stehen. Es sollten psychische Heilungsversuche analysiert werden, es sollten die Hilfswissenschaften der Psychotherapie, insbesondere die ärztliche Psychologie, durch Beiträge ausgebaut werden, es sollte die körperliche Wirkung psychischer Einflüsse festgelegt werden. Reil selber beteiligte sich an dieser Zeitschrift mit Beiträgen von verschiedenem Werte, deren keiner aber das Niveau seines früheren Werkes wieder erreichte. Wir werden dies mit Gregors ausgezeichneten Ausführungen über Reil daraus verstehen können, "daß er wohl eine gründliche Kenntnis von Psychoneurosen erlangte, Psychosen aber doch nur gelegentlich sah, und so blieb sein psychiatrisches Denken durch die auf jenem Gebiete gemachten Erfahrungen einseitig orientiert", „ . . . weil ihm die Lebensumstände auf diesem Gebiet keine klinische Forschung ermöglichten". Dies tut der geistigen Größe des Mannes keinen Abbruch; und so mag es gerechtfertigt sein, seiner gerade bei der Eröffnung eines psychotherapeutischen Fachorganes zu gedenken als des geistigen Vaters einer Bewegung, die, auch heute noch vielfach irrend und ohne genügende Fundamente, dennoch in ihren Fragestellungen wie ihren Zielen von unvergänglicher Bedeutung ist.
Den Hinweis auf die Arbeit Kronfelds und die Geschichte der Allgemeinen
Ärztlichen Zeitschrift für Psychotherapie und psychische Hygiene
verdanke
ich Ingo-Wolf
Kittel aus Augsburg.