Analyse von Bertrand Russells Ausführungen
zum Grade der subjektiven Gewißheit.
Materialien zur Studie Begriffsanalyse Gewissheit
und Gewissheitserleben.
Russell, Bertrand (dt. 1950) D. Grade der subjektiven Gewißheit in ( 389-390) Das menschliche Wissen. Darmstadt: Holle.
"GRADE DER 1GLAUBWÜRDIGKEIT
D. Grade der R1subjektiven Gewißheit
R2Subjektive Gewißheit
ist ein psychologischer Begriff, während 2Glaubwürdigkeit,
mindestens teilweise, logischer Natur ist. Die Frage, ob es irgendeinen
Zusammenhang zwischen beiden gibt, ist eine Form der Frage danach, ob wir
überhaupt etwas 1wissen.
Eine derartige Frage läßt sich nicht auf der Grundlage eines
völligen Skeptizismus untersuchen; wenn wir nicht bereit sind, irgend
etwas zu behaupten, so ist keine Beweisführung möglich.
Zunächst haben wir drei Arten von R3Gewißheit
zu unterscheiden.
1. Eine Aussagefunktion ist R4gewiß
hinsichtlich einer anderen, wenn die Klasse der Elemente, welche der zweiten
genügen, ein Teil der Klasse von Elementen ist, welche der ersten
genügen. Z. B. »x ist ein Tier« ist R5gewiß
in bezug auf die Behauptung »x ist ein vernünftiges Tier«.
Diese Bedeutung von R6Gewißheit
gehört zur mathematischen Wahrscheinlichkeit. Wir wollen diese Art
vonR7Gewißheit
als »logisch« bezeichnen.
2. Eine Aussage ist R8gewiß,
wenn sie den höchsten 3Grad von Glaubwürdigkeit
hat, entweder ihrer Natur nach oder als Ergebnis einer Schlußfolgerung.
Vielleicht ist in diesem Sinn keine Aussage R9gewiß,
d. h. wie R10gewiß
eine Aussage auch in bezug auf den Kenntnisstand einer Person sein mag,
so kann doch fernere Erkenntnis ihren 4Glaubwürdigkeitsgrad
erhöhen. Diese Art von R11Gewißheit
wollen wir als »erkenntnistheoretisch« bezeichnen.
3. Eine Person ist ihrer Sache R12gewiß
hinsichtlich einer Aussage, wenn sie keinerlei Zweifel an der Wahrheit
der Aussage verspürt. Dieses ist ein rein psychologischer Begriff,
und wir wollen ihn als R13»psychologische
Gewißheit« bezeichnen.
Auch wenn ein Mensch subjektive
R14Gewißheit
nicht erlangt hat, kann er doch von etwas mehr oder 1weniger
überzeugt sein. Wir fühlen uns dessen 1sicher,
daß die Sonne morgen aufgehen wird und daß Napoleon existiert
hat; wir sind weniger 2sicher,
daß die Quantentheorie richtig ist und daß Zoroaster existiert
hat. Noch weniger 3sicher
sind wir dessen, daß Eddington die Anzahl der Elektronen richtig
bestimmt hat, oder daß es einen König namens Agamemnon bei der
Belagerung von Troja gegeben hat. Immerhin sind dies Dinge, hinsichtlich
deren ziemlich allgemeine Übereinstimmung herrscht. Aber es gibt andere
Dinge, hinsichtlich deren Meinungsverschiedenheit die Regel ist. Einige
Menschen zweifeln nicht daran, daß Churchill gut und Stalin schlecht
ist, andere 1glauben genau das Gegenteil.
Einige Menschen waren sehr 4sicher,
daß Gott auf der Seite der Alliierten stand, andere 2glaubten,
daß er auf der Seite der Deutschen stand. Subjektive
5Sicherheit
ist
daher keine Gewähr für Wahrheit oder auch nur für einen
hohen 5Grad von Glaubwürdigkeit.
Irrtum besteht nicht nur im absoluten Irrtum, indem
man das 3glaubt, was falsch
ist, sondern er besteht auch im quantitativen Irrtum, also darin, daß
man stärker oder schwächer glaubt,
als durch den 6Grad von Glaubwürdigkeit
gerechtfertigt wird, welcher der Aussage auf Grund der Kenntnis dessen,
der da 4glaubt, zu-[>390]kommt.
Ein Mann, der 2völlig überzeugt
ist, daß ein bestimmtes Pferd das Derby gewinnen wird, befindet sich
im Irrtum, selbst wenn das Pferd gewinnt.
Das wissenschaftliche Verfahren besteht grob gesagt,
in einem Verfahren und in Regeln, die dazu bestimmt sind, die Grade des
Glaubens
so gut wie möglich mit dem Grade der 7Glaubwürdigkeit
in Übereinstimmung zu bringen. Wir können aber nicht damit anfangen,
eine solche Harmonie zu suchen, wenn wir nicht von Sätzen ausgehen
können, die sowohl 8erkenntnistheoretisch
glaubwürdig als subjektiv nahezu
R15gewiß
sind. Das legt einen Cartesischen Zweifel nahe, aber einen, der, um fruchtbar
zu sein, ein nicht skeptisches Leitprinzip haben muß. Gäbe es
überhaupt keinen Zusammenhang zwischen 9Glaubwürdigkeit
und R16subjektiver Gewißheit,
so könnte es auch so etwas wie 2Wissen
nicht geben. Wir nehmen in der Praxis an, daß eine Klasse von 3Überzeugungen
als wahr angesehen werden könne, wenn sie a) von allen 5fest
geglaubt werden, die sie sorgfältig überdacht
haben, wenn es b) keinen positiven Grund gegen ihre Annahme gibt, wenn
es c) keinen bestimmten Grund für die Annahme gibt, daß die
Menschen sie auch dann 6glauben
würden, wenn sie unwahr wären. Auf dieser Grundlage wird allgemein
angenommen, daß einerseits Wahrnehmungsurteile und andererseits logische
und mathematische Urteile denjenigen Teil unserer Kenntnis bilden, der
am R17gewissesten ist. Wir
werden sehen, daß, wenn wir zu einer Naturwissenschaft gelangen wollen,
Logik und Mathematik durch gewisse außerlogische Grundsätze
ergänzt werden müssen, unter denen die Induktion bisher (wie
mir scheint, mißverständlicherweise) der am allgemeinsten anerkannte
Grundsatz ist. Diese außerlogischen Grundsätze werfen Probleme
auf, die zu untersuchen unsere Aufgabe sein wird.
Völlige Vernünftigkeit besteht nicht darin,
zu 7glauben, was wahr ist,
sondern darin, jeder Aussage den 8Grad von
Glauben beizumessen, der ihrem 10Glaubwürdigkeitsgrad
entspricht. Hinsichtlich empirischer Aussagen ändert sich der Grad
von 11Glaubwürdigkeit,
wenn neue Erfahrung hinzukommt. In der Mathematik wird ein vernünftiger
Mensch, wenn er kein Mathematiker ist, 9glauben,
was man ihm sagt. Er wird daher seine Meinungen ändern, wenn Mathematiker
in den Arbeiten ihrer Vorgänger Fehler entdecken. Der Mathematiker
selbst kann völlig vernünftig sein, selbst wenn er einen Fehler
begeht, wenn dieser Fehler derart ist, daß er zu jener Zeit nur schwer
zu entdecken war.
Ob wir uns um Vernünftigkeit bemühen sollen, ist eine ethische
Frage. Ich werde einige Erwägungen hierüber im nächsten
Abschnitt anstellen."
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