Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=17.07.2022 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 28.08.22
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen  Mail: sekretariat@sgipt_ Zitierung  &  Copyright

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    Willkommen in unsere Internet-Publikation für Allgemeine und integrative Psychotherapie, Abteilung Geschichte der Psychopathologie,
    und hier speziell zum Thema:

     Analyse von Bertrand Russells Ausführungen zum Grade der subjektiven Gewißheit.
    Materialien zur Studie Begriffsanalyse Gewissheit und Gewissheitserleben.

    Russell, Bertrand  (dt. 1950) D. Grade der subjektiven Gewißheit  in ( 389-390) Das menschliche Wissen. Darmstadt: Holle.

       
      Zusammenfassung-Russell1950-389f:  Grundlegend führt er aus: "R2Subjektive Gewißheit ist ein psychologischer Begriff, während Glaubwürdigkeit, mindestens teilweise, logischer Natur ist." Aus der Formulierung nahezu R15gewiß folgt auch eine quantitative Auffassung von Gewissheit, man kann also auch mehr oder minder gewiss sein.  Russell unterscheidet eingangs drei Gewissheiten: 
      • logische Gewissheit (R7)
      • erkenntnistheoretische Gewissheit (R11)
      • psychologische Gewissheit (R13)
      In engem Zusammenhang mit Gewissheit stehen die Begriffe Glaubwürdigkeit, sicher sein, Wissen und Überzeugung: "Auch wenn ein Mensch subjektive R14Gewißheit  nicht erlangt hat, kann er doch von etwas mehr oder weniger überzeugt sein. ..." Daraus ergibt sich, dass nach Russell Gewissheit den höchsten Grad von Überzeugung ausdrückt, wobei er ein mehr oder weniger zulässt.

          Häufigkeiten verwandter Begriffserwähnungen:

      • Gewiss: 17 Erwähnungen.
      • Glaubwürdig: 12 Erwähnungen. 
      • Glauben: 9 Erwähnungen.
      • Sicher: 5 Erwähnungen, wobei Russell Grade von sicher sein zulässt. Einen möglichen Unterschied zwischen Gewissheit und sicher sein thematisiert Russell nicht. Es scheint, als machte er keinen Unterschied zwischen Gewissheit und sicher sein.
      • Überzeug: 3 Erwähnungen.
      • Wissen: 2 Erwähnungen, wobei die Begriffsbeziehung zwischen Wissen und Gewissheit von Russell nicht erörtert wird. 
      Fazit: Gewissheit ist ein grundlegender Begriff beim Thema Wissen und Erkenntnis. Die wichtige Frage, wodurch das Gewissheitserleben bewirkt wird, erörtert Russell in diesem interessanten Abschnitt nicht. Auch die Zusammenhänge mit Glauben, Glaubwürdigkeit, Überzeugung, Wissen und vor allem sicher sein werden nicht gründlich analysiert und geklärt.


      "GRADE DER 1GLAUBWÜRDIGKEIT

      D. Grade der R1subjektiven Gewißheit

      R2Subjektive Gewißheit ist ein psychologischer Begriff, während 2Glaubwürdigkeit, mindestens teilweise, logischer Natur ist. Die Frage, ob es irgendeinen Zusammenhang zwischen beiden gibt, ist eine Form der Frage danach, ob wir überhaupt etwas 1wissen. Eine derartige Frage läßt sich nicht auf der Grundlage eines völligen Skeptizismus untersuchen; wenn wir nicht bereit sind, irgend etwas zu behaupten, so ist keine Beweisführung möglich.
          Zunächst haben wir drei Arten von R3Gewißheit zu unterscheiden.
          1. Eine Aussagefunktion ist R4gewiß hinsichtlich einer anderen, wenn die Klasse der Elemente, welche der zweiten genügen, ein Teil der Klasse von Elementen ist, welche der ersten genügen. Z. B. »x ist ein Tier« ist R5gewiß in bezug auf die Behauptung »x ist ein vernünftiges Tier«. Diese Bedeutung von R6Gewißheit gehört zur mathematischen Wahrscheinlichkeit. Wir wollen diese Art vonR7Gewißheit als »logisch« bezeichnen.
          2. Eine Aussage ist R8gewiß, wenn sie den höchsten 3Grad von Glaubwürdigkeit hat, entweder ihrer Natur nach oder als Ergebnis einer Schlußfolgerung. Vielleicht ist in diesem Sinn keine Aussage R9gewiß, d. h. wie R10gewiß eine Aussage auch in bezug auf den Kenntnisstand einer Person sein mag, so kann doch fernere Erkenntnis ihren 4Glaubwürdigkeitsgrad erhöhen. Diese Art von R11Gewißheit wollen wir als »erkenntnistheoretisch« bezeichnen.
          3. Eine Person ist ihrer Sache R12gewiß hinsichtlich einer Aussage, wenn sie keinerlei Zweifel an der Wahrheit der Aussage verspürt. Dieses ist ein rein psychologischer Begriff, und wir wollen ihn als R13»psychologische Gewißheit« bezeichnen.
          Auch wenn ein Mensch subjektive R14Gewißheit  nicht erlangt hat, kann er doch von etwas mehr oder 1weniger überzeugt sein. Wir fühlen uns dessen 1sicher, daß die Sonne morgen aufgehen wird und daß Napoleon existiert hat; wir sind weniger 2sicher, daß die Quantentheorie richtig ist und daß Zoroaster existiert hat. Noch weniger 3sicher sind wir dessen, daß Eddington die Anzahl der Elektronen richtig bestimmt hat, oder daß es einen König namens Agamemnon bei der Belagerung von Troja gegeben hat. Immerhin sind dies Dinge, hinsichtlich deren ziemlich allgemeine Übereinstimmung herrscht. Aber es gibt andere Dinge, hinsichtlich deren Meinungsverschiedenheit die Regel ist. Einige Menschen zweifeln nicht daran, daß Churchill gut und Stalin schlecht ist, andere 1glauben genau das Gegenteil. Einige Menschen waren sehr 4sicher, daß Gott auf der Seite der Alliierten stand, andere 2glaubten, daß er auf der Seite der Deutschen stand. Subjektive 5Sicherheit ist daher keine Gewähr für Wahrheit oder auch nur für einen hohen 5Grad von Glaubwürdigkeit.
          Irrtum besteht nicht nur im absoluten Irrtum, indem man das 3glaubt, was falsch ist, sondern er besteht auch im quantitativen Irrtum, also darin, daß man stärker oder schwächer glaubt, als durch den 6Grad von Glaubwürdigkeit gerechtfertigt wird, welcher der Aussage auf Grund der Kenntnis dessen, der da 4glaubt, zu-[>390]kommt. Ein Mann, der 2völlig überzeugt ist, daß ein bestimmtes Pferd das Derby gewinnen wird, befindet sich im Irrtum, selbst wenn das Pferd gewinnt.
          Das wissenschaftliche Verfahren besteht grob gesagt, in einem Verfahren und in Regeln, die dazu bestimmt sind, die Grade des Glaubens so gut wie möglich mit dem Grade der 7Glaubwürdigkeit in Übereinstimmung zu bringen. Wir können aber nicht damit anfangen, eine solche Harmonie zu suchen, wenn wir nicht von Sätzen ausgehen können, die sowohl 8erkenntnistheoretisch glaubwürdig als subjektiv nahezu R15gewiß sind. Das legt einen Cartesischen Zweifel nahe, aber einen, der, um fruchtbar zu sein, ein nicht skeptisches Leitprinzip haben muß. Gäbe es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen 9Glaubwürdigkeit und R16subjektiver Gewißheit, so könnte es auch so etwas wie 2Wissen nicht geben. Wir nehmen in der Praxis an, daß eine Klasse von 3Überzeugungen als wahr angesehen werden könne, wenn sie a) von allen 5fest geglaubt werden, die sie sorgfältig überdacht haben, wenn es b) keinen positiven Grund gegen ihre Annahme gibt, wenn es c) keinen bestimmten Grund für die Annahme gibt, daß die Menschen sie auch dann 6glauben würden, wenn sie unwahr wären. Auf dieser Grundlage wird allgemein angenommen, daß einerseits Wahrnehmungsurteile und andererseits logische und mathematische Urteile denjenigen Teil unserer Kenntnis bilden, der am R17gewissesten ist. Wir werden sehen, daß, wenn wir zu einer Naturwissenschaft gelangen wollen, Logik und Mathematik durch gewisse außerlogische Grundsätze ergänzt werden müssen, unter denen die Induktion bisher (wie mir scheint, mißverständlicherweise) der am allgemeinsten anerkannte Grundsatz ist. Diese außerlogischen Grundsätze werfen Probleme auf, die zu untersuchen unsere Aufgabe sein wird.
          Völlige Vernünftigkeit besteht nicht darin, zu 7glauben, was wahr ist, sondern darin, jeder Aussage den 8Grad von Glauben beizumessen, der ihrem 10Glaubwürdigkeitsgrad entspricht. Hinsichtlich empirischer Aussagen ändert sich der Grad von 11Glaubwürdigkeit, wenn neue Erfahrung hinzukommt. In der Mathematik wird ein vernünftiger Mensch, wenn er kein Mathematiker ist, 9glauben, was man ihm sagt. Er wird daher seine Meinungen ändern, wenn Mathematiker in den Arbeiten ihrer Vorgänger Fehler entdecken. Der Mathematiker selbst kann völlig vernünftig sein, selbst wenn er einen Fehler begeht, wenn dieser Fehler derart ist, daß er zu jener Zeit nur schwer zu entdecken war.
      Ob wir uns um Vernünftigkeit bemühen sollen, ist eine ethische Frage. Ich werde einige Erwägungen hierüber im nächsten Abschnitt anstellen."



    Links (Auswahl: beachte)
    Wortschatzportal: https://wortschatz.uni-leipzig.de/de
    https://www.ub.uni-leipzig.de/recherche/fachspezifische-datenbanken/detailansicht-dbis/?libconnect%5Btitleid%5D=3108
    https://www.woerterbuchnetz.de/#0



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:  Wissenschaftlicher  und  weltanschaulicher  Standort.
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    assertorische-Evidenz
    assertorisch:=etwas behaupten. Evidenz:=Offenkundigkeit, Offensichtlichkeit, Augenscheinlichkeit (im Angloamerikanischen eine ganz andere Bedeutung, nämlich: belegt, begründet, beweisorientiert).
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    Epimeleia:=Aufmerksamkeit und Sorge für ein gutes Leben.
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    performative-utterances (Austin)
    Sprechhandlungen, die nicht nur sachlich etwas mitteilen, sondern auf eine Wirkung und Veränderung abzielen. [W.engl]
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    Querverweise
    Standort: Russell Grade subjektiver Gewissheit
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    Begriffsanalyse Gewissheit * Fragebogen-Pilot-Studie Begriffsanalyse Gewissheit *
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    Überblick Arbeiten zur Theorie, Definitionslehre, Methodologie, Meßproblematik, Statistik und Wissenschaftstheorie besonders in Psychologie, Psychotherapie und Psychotherapieforschung.
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