Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=22.07.2022 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 01.09.22
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen  Mail: sekretariat@sgipt_ Zitierung  &  Copyright

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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und integrative Psychotherapie,
    Abteilung Geschichte der Psychopathologie, und hier speziell zum Thema:

    Gewissheit in der Logikschule von Port-Royal (1662)
    Materialien zur Studie Begriffsanalyse Gewissheit und Gewissheitserleben.

    Arnauld, Antoine & Nicole, Pierre (dt. 1972, fr. 1662f). Die Logik oder Kunst des Denkens [Die Logik von Port-Royal]. Übersetzt und eingeleitet von Christos Axelos. Darmstadt: WBG.

    Die Logik oder die Kunst des Denkens liest sich in der Neuausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ganz modern und aktuell und ist immer noch wissenschaftstheoretisch und methodologisch sehr anregend.

    Zusammenfassung-Gewißheit-PortRoyal:

      (1) Fundstellen im Buch nach Sachregister.
      (2) Haltungen zur Gewißheit.
      (3) Gewißheit wird trotz Aristoteles Kenntnis nicht erklärt.
      (4) Das Gewißheitsurteil kommt aus dem Geiste nicht von den Sinnen.
      (5) Es gibt unterschiedliche Grade von Gewißheit.
      (6) Vielfalt von gewiß und ungewiß im Geist und in den Sinnen.
      (7) 29 Fundstellenkürzel des Gebrauchs.
      Ausführlichere Fundstellen im Kontext.


    (1) Das Sachregister weist aus: Gewißheit 34, 283-286, 310, 319, 330. In den angegebenen Seiten wurde der Suchtext "gewiß" 29 mal gefunden, wobei der gesamte Text erfahrungsgemäß in der Regel weitere Fundstellen hat.

    (2) Es werden einige Haltungen oder Einstellungen zur Gewißheit besprochen:
    (2.1) zwar haben sich die einen, die neuen Akademiker, damit begnügt, die PR283.1Gewißheit zu leugnen,
    (2.2) die anderen, die Pyrrhonisten, haben selbst diese Wahrscheinlichkeit verneint und behauptet, daß alle Dinge gleichermaßen dunkel und PR283.2ungewiß seien."
    (2.3) gesunde Menschenvernunft (S.283), die Position der Autoren

    (3) Gewissheit wird von Arnauld & Nicole der Logikschule von Port Royal nicht erklärt. Obwohl auch die Metaphysik des Aristoteles im Register angeführt wird (Metaphysik Kapitel 11, 2), aber es fehlt Metaphysik Kapitel 11.5, woraus das folgende Zitat ist:
     

    "... Nun müssen diejenigen, 
    welche ihre Gedanken untereinander austauschen wollen, 
    etwas voneinander verstehen; 
    denn wie könnte denn,
    wenn dies nicht stattfindet,
    ein gegenseitiger Gedankenaustausch (...)
    möglich sein? 
    Es muß also jedes Wort (...) bekannt sein
    und etwas, und zwar eins
    und nicht mehreres, bezeichnen;
    hat es mehrere Bedeutungen, 
    so muß man erklären, 
    in welcher von diesen man das Wort gebraucht. ..."

     Aus: Aristoteles (384-322) Metaphysik. 11. Buch, 5. Kap., S. 244 (Rowohlts Klassiker 1966)

       
      Das merkt man dem Buch auch deutlich an und daran hat sich auch bis heute nicht viel geändert. Leider verstehen viele Philosophen, Juristen, Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaftler auch nach 2300 Jahren Aristoteles (384-322 v.Chr.) immer noch nicht, wie Wissenschaft elementar funktionieren muss: Wer wichtige Begriffe gebraucht, muss sie klar und verständlich erklären und vor allem auch  referenzieren  können, sonst bleibt alles Schwall und Rauch (>Sprachkritik:sch^3-Syndrom). Wer also über irgendeinen Sachverhalt etwas sagen und herausfinden will, der muss zunächst erklären, wie er diesen Sachverhalt begrifflich fasst, auch wenn dies manchmal nicht einfach ist.


    Aus einigen Beispielen lassen sich aber Kriterien-Merkmale erschließen. "Es kann sich zwar jemand finden, der zu zweifeln anfängt, ob er schläft, ob er verrückt ist, und der sogar glaubt, daß die Realität der [>284] Außenwelt PR284.1ungewiß ist, daß es zweifelhaft ist, ob Sonne, Mond, Materie wirklich sind. ..." In Beleg-285.4-286.212 wird ausgeführt, dass es Gewißheit als auch Ungewißheit  in den Sinnen wie im Geiste gibt.

    (4) Das Gewissheitsurteil kommt aus dem Geiste und nicht von den Sinnen:  "die PR284.3Gewißheit, ... nicht von den Sinnen kommt, sondern von einer Reflexion des Geistes,..."

    (5) Es werden verschiedene Grade von Gewissheit angenommen, ohne dass Kriterien angegeben werden:

    (6)  "Es gibt also sowohl PR285.4Gewißheit als auch PR285.5Ungewißheit, sowohl im [>286] Geist als auch in den Sinnen. Es wäre ein gleich großer Fehler, wollte man alle Dinge für PR286.1gewiß oder für PR286.2ungewiß ausgeben.
        Die Vernunft zwingt uns vielmehr, drei Arten von Dingen anzuerkennen.
    Denn es gibt Dinge, die klar und PR286.3gewiß erkannt werden können; es gibt welche, die man im Grunde nicht klar erkennt, bei denen man aber hoffen kann, daß man sie wird erkennen können; schließlich gibt es welche, deren PR286.4gewisse Erkenntnis nahezu unmöglich ist, entweder weil wir keine Prinzipien haben, die uns zu ihnen hinführen, oder weil diese Dinge der Größenordnung unseres Geistes nicht entsprechen. Die erste Art enthält alles, was man durch Beweis und Einsicht erkennt."

    (7)  Fundstellen-Kürzel des Gebrauchs

    1. "... Und zwar haben sich die einen, die neuen Akademiker, damit begnügt, die PR283.1Gewißheit zu leugnen, ..."
    2. "... die anderen, die Pyrrhonisten, haben selbst diese Wahrscheinlichkeit verneint und behauptet, daß alle Dinge gleichermaßen dunkel und PR283.2ungewiß seien. ..."
    3.     "Es kann sich zwar jemand finden, der zu zweifeln anfängt, ob er schläft, ob er verrückt ist, und der sogar glaubt, daß die Realität der [>284] Außenwelt PR284.1ungewiß ist, daß es zweifelhaft ist, ob Sonne, Mond, Materie wirklich sind. ..."
    4. "... ob nämlich die Dinge, die man nur durch den Geist kenntPR284.2gewisser oder weniger gewiß sind als die, die man durch die Sinne kennt. ..."
    5. "... Man kann selbst sagen, daß, obgleich die Sinne uns nicht immer mit dem Bericht, den sie uns geben, täuschen, dennoch die PR284.3Gewißheit, daß sie uns nicht täuschen, nicht von den Sinnen kommt, sondern von einer Reflexion des Geistes, durch welche wir unterscheiden, wann wir den Sinnen glauben und wann wir ihnen nicht glauben dürfen."
    6. "... und daß selbst die von den Sinnen gewährte PR284.4Gewißheit sich nicht sehr weit erstreckt. ..."
    7. "... Es gibt nämlich etliche Dinge, die man vermittels der Sinne zu wissen glaubt, von denen man aber nicht behaupten kann, daß man über sie PR284.5völlige Gewißheit hat."
    8. "... man wird aber PR285.1keine Gewißheit darüber haben können, ..."
    9. "... Demzufolge erkennt man PR285.2nie mit Gewißheit die absolute und natürliche Größe jedes einzelnen Körpers."
    10.     "Wie dem auch sei: mag auch das Urteil über die Größe der Dinge irgendwie PR285.3ungewiß sein, so ist es kaum notwendig und in keiner Hinsicht erforderlich, daraus zu schließen, daß ihm nicht eine PR285.4größere Gewißheit als allen anderen durch die Sinne übermittelten Informationen zukommt.
    11.     "Es gibt also sowohl PR285.5Gewißheit als auch PR285.6Ungewißheit, sowohl im [>286] Geist als auch in den Sinnen. Es wäre ein gleich großer Fehler, wollte man alle Dinge für PR286.1gewiß oder für PR286.2ungewiß ausgeben."
    12. Denn es gibt Dinge, die klar und PR286.3gewiß erkannt werden können; ..."
    13. "... schließlich gibt es welche, deren PR286.4gewisse Erkenntnis nahezu unmöglich ist
    14.     "Es ist jedoch anzumerken, daß es Dinge gibt, die in ihrem Sosein unverständlich, aber im Hinblick auf ihr Dasein PR287.1gewiß sind. Man kann nicht das Wie ihrer Wirklichkeit begreifen, obgleich es PR287.2gewiß ist, daß sie wirklich sind.
    15. Was gibt es Unverständlicheres als die Ewigkeit? Und was gibt es zu gleicher Zeit Sichereres? Ihre R287.3Gewißheit ist so einleuchtend, daß die Menschen, die durch eine furchtbare Verblendung in ihrem Geist die Gotteserkenntnis zerstört haben, gezwungen sind, sie dem häßlichsten und verächtlichsten aller Seinsbereiche, das heißt der Materie, zuzusprechen."
    16.     "Es sind also nicht die seit unserer Kindheit gemachten Beobachtungen, von denen die PR310.1Gewißheit dieses Axioms abhängt, denn es gibt im Gegenteil nichts Geeigneteres, uns in dem Irrtum zu bestärken, als bei diesen Vorurteilen unserer Kindheit stehenzubleiben."
    17. "... Die PR310.2Gewißheit hängt vielmehr einzig davon ab, daß die klaren und deutlichen Ideen, die wir von einem Ganzen und einem Teil haben, eindeutig ein Doppeltes implizieren: daß das Ganze größer als der Teil ist und daß der Teil kleiner als das Ganze ist."
    18.     "Und der ganze Beitrag der verschiedenen gemachten Beobachtungen über einen Menschen, der größer als sein Kopf, über ein Haus, das größer als ein Zimmer ist, besteht in der Gelegenheit, die sie uns geliefert haben, unsere Aufmerksamkeit auf die Ideen von dem Ganzen und dem Teil (bzw. auf die Idee „das Teile enthaltende Ganze“) zu richten. Es ist jedoch völlig falsch, wenn man annimmt, sie seien die Ursachen der PR310.3absoluten und PR310.4unerschütterlichen Gewißheit, die wir von der Wahrheit dieses Axioms haben, wie ich bewiesen zu haben glaube.
    19. "Das, was wir über dieses Axiom gesagt haben, läßt sich über alle anderen sagen. Daher glaube ich, daß die PR310.5Gewißheit und Evidenz der menschlichen Erkenntnis im Bereich der natürlichen Dinge von folgendem Prinzip abhängt: „Alles, was in der klaren und deutlichen Idee eines Dinges enthalten ist, kann diesem Ding zugesprochen werden und (als Prädikat) einen Satz bilden, der wahr ist. ...“
    20. "Erster Fehler Mehr Sorgfalt auf die PR319.1Gewißheit als auf die Evidenz und mehr auf die Überzeugung des Geistes als auf seine Erhellung verwenden"
    21. "... Trotzdem kann man aber bestimmte untere Grenzen angeben, die man überschritten haben muß, um jene PR330.1menschliche Gewißheit zu haben und bestimmte obere Grenzen, jenseits von welchen man ganz gewiß im Besitz jener PR330.2Gewißheit ist; der von diesen Grenzen umrahmte mittlere Bereich läßt ein Mehr und Weniger hinsichtlich der PR330.3Gewißheit bzw. PR330.4Ungewißheit zu, und zwar je nachdem man sich mehr den einen oder den anderen nähert. ..."
    22. "Es steht, zweitens, fest, daß der göttliche Glaube eine größere Macht Über unseren Geist haben muß als unsere eigene Vernunft. Und zwar leiht die Vernunft selbst diese Übermacht dem göttlichen Glauben indem sie uns zeigt, daß man immer den höheren Grad derPR330.5Gewißheit dem geringeren vorziehen muß und daß es gewisser ist, daß Gottes Aussagen wahr sind als daß das von unserer Vernunft überzeugenderweise Behauptete zutrifft, denn Gottes Unfähigkeit, uns zu täuschen, ist um vieles größer als die Unfähigkeit unserer Vernunft, getäuscht zu werden."
     
    Ende der Zusammenfassung.


    Ausführliche Fundstellen im Kontext

    PR_S.283:     "Wenn aber der Grund nicht nur scheinbar, sondern unerschütterlich und wahr ist, was durch längere und genauere Aufmerksamkeit, durch eine festere Überzeugung und durch die Art der Klarheit, die in diesem Fall lebhafter und durchdringender ist, festgestellt werden kann, dann heißt das Für-wahr-Halten, das durch den Grund herbeigeführt wird, Wissen. Über das Wissen werden verschiedene Betrachtungen angestellt.
        Zunächst, ob es das Wissen gibt, das heißt, ob wir eine auf klare und gewisse Gründe aufgebaute Erkenntnis haben; oder allgemeiner: ob wir klare und gewisse Erkenntnis haben. Diese Frage geht sowohl die Einsicht als auch das Wissen an.
        Es gibt Philosophen, die dies beharrlich leugnen und die sogar ihre ganze Philosophie auf dieser Grundlage aufgebaut haben. Und zwar haben sich die einen, die neuen Akademiker, damit begnügt, die PR283.1Gewißheit zu leugnen, indem sie nur die Wahrscheinlichkeit zulassen, die anderen, die Pyrrhonisten, haben selbst diese Wahrscheinlichkeit verneint und behauptet, daß alle Dinge gleichermaßen dunkel und PR283.2ungewiß seien. In Wirklichkeit haben alle diese Lehrmeinungen, die soviel Staub auf gewirbelt haben, niemals irgendwo anders als in den Reden, den Disputen oder den Schriften existiert und niemand war von ihnen jemals ernstlich überzeugt. Sie waren Spielereien und Zerstreuungen müßiger und erfinderischer Menschen. Sie sind jedoch niemals Meinungen gewesen, denen jene Menschen wirklich huldigten und die sie zu praktizieren bereit waren. Aus diesem Grund bestand das beste Mittel, jene Philosophen zu überzeugen, darin, sie sich ihre Bewußtseinsakte vergegenwärtigen zu lassen, an ihre Aufrichtigkeit zu appellieren und an sie die Frage zu stellen nach allen jenen Reden, durch welche sie zu zeigen suchten, daß man weder zwischen Schlafen und Wachen noch zwischen Irrsinn und gesunder Menschenvernunft unterscheiden kann, ob sie nicht trotz ihrer langen Begründungen davon überzeugt wären, daß sie nicht schlafen und daß sie einen gesunden Geist besitzen. Und wenn sie eine Spur von Ehrlichkeit gehabt hätten, hätten sie alle ihre eitlen Spitzfindigkeiten widerrufen und offen zugegeben, daß sie es nicht vermochten, jene Unterscheidungen für unwahr zu halten, als sie sich anschickten, sie zu leugnen.
        Es kann sich zwar jemand finden, der zu zweifeln anfängt, ob er schläft, ob er verrückt ist, und der sogar glaubt, daß die Realität der [>284] Außenwelt PR284.1ungewiß ist, daß es zweifelhaft ist, ob Sonne, Mond, Materie wirklich sind. Niemand könnte jedoch daran zweifeln, wie der heilige Augustinus sagt, ob er ist, ob er denkt, ob er lebt. Denn mag er schlafen oder wachen, einen gesunden oder kranken Geist haben, sich irren oder sich nicht irren, es ist jedenfalls sicher, daß er denkt, daß er ist und daß er lebt, da es unmöglich ist, das Dasein und das Leben von dem Denken abzutrennen und zu glauben, daß das Denkende nicht ist und nicht lebt. Von dieser klaren, gewissen und unbezweifelbaren Erkenntnis ausgehend, kann er sich eine Regel bilden, um alle Gedanken, bei denen er eine ähnliche Klarheit antreffen wird, als wahre Gedanken anzusprechen.
        Desgleichen ist es unmöglich, an seinen Sinneswahrnehmungen zu zweifeln, wenn man sie von ihrem Gegenstand trennt. Mag es Sonne und Erde geben oder nicht, ich bin sicher, daß ich mir vorstellen kann, sie zu sehen. Ich bin sicher, wenn ich zweifle, daß ich zweifle, und, wenn ich zu sehen glaube, daß ich glaube zu sehen, daß ich, wenn ich zu hören glaube, glaube zu hören usw. Man wird auf diese Weise, indem man in den eigenen Geist eindringt und zusieht, was sich dort abspielt, unendlich viele klare Erkenntnisse finden, die nicht angezweifelt werden können.
        Diese Überlegung kann zur Entscheidung einer anderen Frage dienen, ob nämlich die Dinge, die man nur durch den Geist kennt, PR284.2gewisser oder weniger gewiß sind als die, die man durch die Sinne kennt. Denn auf Grund des Gesagten ist es klar, daß wir uns unserer Sinneswahrnehmungen und unserer Ideen, die nur als Gegenstände einer Reflexion des Geistes präsent sind, sicherer sind als aller Gegenstände, die sich auf die Sinneswahrnehmungen beziehen. Man kann selbst sagen, daß, obgleich die Sinne uns nicht immer mit dem Bericht, den sie uns geben, täuschen, dennoch die PR284.3Gewißheit, daß sie uns nicht täuschen, nicht von den Sinnen kommt, sondern von einer Reflexion des Geistes, durch welche wir unterscheiden, wann wir den Sinnen glauben und wann wir ihnen nicht glauben dürfen.
        Und deshalb muß zugestanden werden, daß der heilige Augustinus, sich Platon anschließend, mit Recht behauptete, daß die Beurteilung der Wahrheit und die Regel, gemäß welcher sie festgestellt wird, nicht den Sinnen, sondern dem Geist angehören: Non est judicium veritatis in sensibus; und daß selbst die von den Sinnen gewährte PR284.4Gewißheit sich nicht sehr weit erstreckt. Es gibt nämlich etliche Dinge, die man vermittels der Sinne zu wissen glaubt, von denen man aber nicht behaupten kann, daß man über sie PR284.5völlige Gewißheit hat."

    284f:     "Man kann, zum Beispiel, vermittels der Sinne wissen, daß dieser [>285] Körper größer als jener ist; man wird aber PR285.1keine Gewißheit darüber haben können, welches die wirkliche und unverfälschte Größe jedes dieser Körper ist. Um das eben Gesagte einzusehen, muß man nur in Betracht ziehen, daß, wenn alle Menschen die Dinge unserer Umwelt seit jeher durch Vergrößerungsgläser betrachtet hätten, sie sicherlich die Körper und die Maße der Körper sich nach der Größe vorstellen würden, in der sie uns, durch jene Gläser gesehen, erschienen wären. Nun sind auch unsere Augen derartige Brillen: Wir wissen demnach nicht genau, ob sie nicht die Gegenstände, die wir sehen, verkleinern oder vergrößern, und ob nicht vielmehr die eigens gefertigten Brillen, die sie, nach unserer Meinung, verkleinern oder vergrößern, sie in ihrer wiederhergestellten wirklichen Größe erscheinen lassen. Demzufolge erkennt man PR285.2nie mit Gewißheit die absolute und natürliche Größe jedes einzelnen Körpers. ...
        Wie dem auch sei: mag auch das Urteil über die Größe der Dinge irgendwie PR285.3ungewiß sein, so ist es kaum notwendig und in keiner Hinsicht erforderlich, daraus zu schließen, daß ihm nicht eine PR285.4größere Gewißheit als allen anderen durch die Sinne übermittelten Informationen zukommt.
        Denn weiß ich auch nicht, wie ich bereits gesagt habe, welche die absolute und natürliche Größe eines Elefanten ist, so weiß ich dennoch, daß er größer ist als ein Pferd und kleiner als ein Walfisch, was für die Praxis des Lebens ausreicht.
    Es gibt also sowohl PR285.5Gewißheit als auch PR285.6Ungewißheit, sowohl im [>286] Geist als auch in den Sinnen. Es wäre ein gleich großer Fehler, wollte man alle Dinge für PR286.1gewiß oder für PR286.2ungewiß ausgeben.
        Die Vernunft zwingt uns vielmehr, drei Arten von Dingen anzuerkennen.
        Denn es gibt Dinge, die klar und PR286.3gewiß erkannt werden können; es gibt welche, die man im Grunde nicht klar erkennt, bei denen man aber hoffen kann, daß man sie wird erkennen können; schließlich gibt es welche, deren PR286.4gewisse Erkenntnis nahezu unmöglich ist, entweder weil wir keine Prinzipien haben, die uns zu ihnen hinführen, oder weil diese Dinge der Größenordnung unseres Geistes nicht entsprechen. Die erste Art enthält alles, was man durch Beweis und Einsicht erkennt."

    S.287: "Es ist jedoch anzumerken, daß es Dinge gibt, die in ihrem Sosein unverständlich, aber im Hinblick auf ihr Dasein PR287.1gewiß sind. Man kann nicht das Wie ihrer Wirklichkeit begreifen, obgleich es PR287.2gewiß ist, daß sie wirklich sind.
        Was gibt es Unverständlicheres als die Ewigkeit? Und was gibt es zu gleicher Zeit Sichereres? Ihre PR287.3Gewißheit ist so einleuchtend, daß die Menschen, die durch eine furchtbare Verblendung in ihrem Geist die Gotteserkenntnis zerstört haben, gezwungen sind, sie dem häßlichsten und verächtlichsten aller Seinsbereiche, das heißt der Materie, zuzusprechen."

    S.310:     "Es sind also nicht die seit unserer Kindheit gemachten Beobachtungen, von denen die PR310.1Gewißheit dieses Axioms abhängt, denn es gibt im Gegenteil nichts Geeigneteres, uns in dem Irrtum zu bestärken, als bei diesen Vorurteilen unserer Kindheit stehenzubleiben. Die PR310.2Gewißheit hängt vielmehr einzig davon ab, daß die klaren und deutlichen Ideen, die wir von einem Ganzen und einem Teil haben, eindeutig ein Doppeltes implizieren: daß das Ganze größer als der Teil ist und daß der Teil kleiner als das Ganze ist.
        Und der ganze Beitrag der verschiedenen gemachten Beobachtungen über einen Menschen, der größer als sein Kopf, über ein Haus, das größer als ein Zimmer ist, besteht in der Gelegenheit, die sie uns geliefert haben, unsere Aufmerksamkeit auf die Ideen von dem Ganzen und dem Teil (bzw. auf die Idee „das Teile enthaltende Ganze“) zu richten. Es ist jedoch völlig falsch, wenn man annimmt, sie seien die Ursachen der PR310.3absoluten und PR310.4unerschütterlichen Gewißheit, die wir von der Wahrheit dieses Axioms haben, wie ich bewiesen zu haben glaube.
        Das, was wir über dieses Axiom gesagt haben, läßt sich über alle anderen sagen. Daher glaube ich, daß die PR310.5Gewißheit und Evidenz der menschlichen Erkenntnis im Bereich der natürlichen Dinge von folgendem Prinzip abhängt: „Alles, was in der klaren und deutlichen Idee eines Dinges enthalten ist, kann diesem Ding zugesprochen werden und (als Prädikat) einen Satz bilden, der wahr ist.“ Vom Menschen kann ich infolgedessen sagen, daß er ein Lebewesen ist, weil „Lebewesen“ in der Idee „Mensch“ enthalten ist; von jedem Kreis kann ich sagen, daß seine Diameter untereinander gleich sind, weil das Besitzen von untereinander gleichen Diametern in dem Begriff des Kreises enthalten ist; nur weil die Gleichheit der Winkelsumme mit zwei rechten Winkeln in der Idee der aus drei Winkeln bestehenden geschlossenen Figur enthalten ist, kann ich diesen Sachverhalt von jedem Dreieck prädizieren."

    S.319: "Erster Fehler
        Mehr Sorgfalt auf die PR319.1Gewißheit als auf die Evidenz und mehr auf die Überzeugung des Geistes als auf seine Erhellung     verwenden"

    S.330: "... Dies hat zur Folge, daß die Menschen in zwei einander entgegengesetzte Abweichungen und Verirrungen geraten. Die einen finden wir bei den Leuten, die zu leichtgläubig das geringste Gerücht für wahr halten, und die anderen bei denen, welche lächerlicherweise ihre Geisteskraft auf den Versuch verschwenden, die bestbezeugten Tatsachen nicht zu glauben, wenn durch das Fürwahrhalten dieser Tatsachen die Vorurteile ihres Geistes erschüttert werden würden. Trotzdem kann man aber bestimmte untere Grenzen angeben, die man überschritten haben muß, um jene PR330.1menschliche Gewißheit zu haben und bestimmte obere Grenzen, jenseits von welchen man ganz gewiß im Besitz jener PR330.2Gewißheit ist; der von diesen Grenzen umrahmte mittlere Bereich läßt ein Mehr und Weniger hinsichtlich der PR330.3Gewißheit bzw. PR330.4Ungewißheit zu, und zwar je nachdem man sich mehr den einen oder den anderen nähert. ..."
        "Es steht, zweitens, fest, daß der göttliche Glaube eine größere Macht Über unseren Geist haben muß als unsere eigene Vernunft. Und zwar leiht die Vernunft selbst diese Übermacht dem göttlichen Glauben indem sie uns zeigt, daß man immer den höheren Grad der PR330.5Gewißheit dem geringeren vorziehen muß und daß es gewisser ist, daß Gottes [>331] Aussagen wahr sind als daß das von unserer Vernunft überzeugenderweise Behauptete zutrifft, denn Gottes Unfähigkeit, uns zu täuschen, ist um vieles größer als die Unfähigkeit unserer Vernunft, getäuscht zu werden."
     



    Links (Auswahl: beachte) > Querverweise.



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:  Wissenschaftlicher  und  weltanschaulicher  Standort.
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    assertorische-Evidenz
    assertorisch:=etwas behaupten. Evidenz:=Offenkundigkeit, Offensichtlichkeit, Augenscheinlichkeit (im Angloamerikanischen eine ganz andere Bedeutung, nämlich: belegt, begründet, beweisorientiert).
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    Epimeleia:=Aufmerksamkeit und Sorge für ein gutes Leben.
    __
    performative-utterances (Austin)
    Sprechhandlungen, die nicht nur sachlich etwas mitteilen, sondern auf eine Wirkung und Veränderung abzielen. [W.engl]
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    Non est judicium veritatis in sensibus - Es gibt kein Urteil über die Wahrheit in den Sinnen
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    Querverweise
    Standort: Gewissheit in der Logikschule von Port Royal (1662).
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    Begriffsanalyse Gewissheit * Fragebogen-Pilot-Studie Begriffsanalyse Gewissheit *
    Haupt- und Verteilerseite Begriffsanalysen. *Textanalysen und Sprachkritik * Definition Begriff. * Das A und O: Referenzieren *Begriffsverschiebebahnhöfe*Wissenschaftsglossar*Operationalisieren*Definition und definieren *Beweis und beweisen in Wissenschaft und Leben *Beweis und beweisen im Alltag. *Beweis und beweisen in den Psychowissenschaften*BA Gesunder Menschenverstand*
    Überblick Arbeiten zur Theorie, Definitionslehre, Methodologie, Meßproblematik, Statistik und Wissenschaftstheorie besonders in Psychologie, Psychotherapie und Psychotherapieforschung.
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