Gewissheit in der Logikschule von Port-Royal (1662)
Materialien zur Studie Begriffsanalyse Gewissheit
und Gewissheitserleben.
Arnauld, Antoine & Nicole, Pierre (dt. 1972, fr. 1662f). Die Logik oder Kunst des Denkens [Die Logik von Port-Royal]. Übersetzt und eingeleitet von Christos Axelos. Darmstadt: WBG.
Die Logik oder die Kunst des Denkens liest sich in der Neuausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ganz modern und aktuell und ist immer noch wissenschaftstheoretisch und methodologisch sehr anregend.
Zusammenfassung-Gewißheit-PortRoyal:
(1) Das Sachregister weist aus: Gewißheit
34, 283-286, 310, 319, 330. In den angegebenen Seiten wurde der Suchtext
"gewiß" 29 mal gefunden, wobei der gesamte Text erfahrungsgemäß
in der Regel weitere Fundstellen hat.
(2) Es werden einige Haltungen oder Einstellungen
zur Gewißheit besprochen:
(2.1) zwar haben sich die einen, die neuen Akademiker, damit begnügt,
die PR283.1Gewißheit zu
leugnen,
(2.2) die anderen, die Pyrrhonisten, haben selbst diese Wahrscheinlichkeit
verneint und behauptet, daß alle Dinge gleichermaßen dunkel
und PR283.2ungewiß
seien."
(2.3) gesunde Menschenvernunft (S.283), die Position der Autoren
(3) Gewissheit wird von Arnauld & Nicole der Logikschule
von Port Royal nicht erklärt. Obwohl auch die Metaphysik des Aristoteles
im Register angeführt wird (Metaphysik Kapitel 11, 2), aber es fehlt
Metaphysik Kapitel 11.5, woraus das folgende Zitat ist:
welche ihre Gedanken untereinander austauschen wollen, etwas voneinander verstehen; denn wie könnte denn, wenn dies nicht stattfindet, ein gegenseitiger Gedankenaustausch (...) möglich sein? Es muß also jedes Wort (...) bekannt sein und etwas, und zwar eins und nicht mehreres, bezeichnen; hat es mehrere Bedeutungen, so muß man erklären, in welcher von diesen man das Wort gebraucht. ..." Aus: Aristoteles (384-322) Metaphysik. 11. Buch, 5. Kap., S. 244 (Rowohlts Klassiker 1966) |
Aus einigen Beispielen lassen sich aber Kriterien-Merkmale erschließen.
"Es kann sich zwar jemand finden, der zu zweifeln anfängt, ob er schläft,
ob er verrückt ist, und der sogar glaubt, daß die Realität
der [>284] Außenwelt PR284.1ungewiß
ist,
daß es zweifelhaft ist, ob Sonne,
Mond, Materie wirklich sind. ..." In Beleg-285.4-286.212 wird ausgeführt,
dass es Gewißheit als auch Ungewißheit in den Sinnen
wie im Geiste gibt.
(4) Das Gewissheitsurteil kommt aus dem Geiste und nicht von den Sinnen: "die PR284.3Gewißheit, ... nicht von den Sinnen kommt, sondern von einer Reflexion des Geistes,..."
(5) Es werden verschiedene Grade von Gewissheit angenommen, ohne dass Kriterien angegeben werden:
(7) Fundstellen-Kürzel des Gebrauchs
PR_S.283: "Wenn aber der Grund nicht nur scheinbar,
sondern unerschütterlich und wahr
ist, was durch längere und genauere Aufmerksamkeit, durch eine festere
Überzeugung und durch die Art der Klarheit, die in diesem Fall lebhafter
und durchdringender ist, festgestellt werden kann, dann heißt das
Für-wahr-Halten, das durch den Grund herbeigeführt wird, Wissen.
Über das Wissen werden verschiedene
Betrachtungen angestellt.
Zunächst, ob es das Wissen
gibt, das heißt, ob wir eine auf klare und gewisse Gründe aufgebaute
Erkenntnis haben; oder allgemeiner: ob wir klare und gewisse
Erkenntnis haben. Diese Frage geht sowohl die Einsicht als
auch das Wissen an.
Es gibt Philosophen, die dies beharrlich leugnen
und die sogar ihre ganze Philosophie auf dieser Grundlage aufgebaut haben.
Und zwar haben sich die einen, die neuen Akademiker, damit begnügt,
die PR283.1Gewißheit zu
leugnen, indem sie nur die Wahrscheinlichkeit zulassen, die anderen, die
Pyrrhonisten, haben selbst diese Wahrscheinlichkeit verneint und behauptet,
daß alle Dinge gleichermaßen dunkel und PR283.2ungewiß
seien. In Wirklichkeit haben alle diese Lehrmeinungen, die soviel Staub
auf gewirbelt haben, niemals irgendwo anders als in den Reden, den Disputen
oder den Schriften existiert und niemand war von ihnen jemals ernstlich
überzeugt. Sie waren Spielereien und Zerstreuungen müßiger
und erfinderischer Menschen. Sie sind jedoch niemals Meinungen gewesen,
denen jene Menschen wirklich huldigten und die sie zu praktizieren bereit
waren. Aus diesem Grund bestand das beste Mittel, jene Philosophen zu überzeugen,
darin, sie sich ihre Bewußtseinsakte vergegenwärtigen zu lassen,
an ihre Aufrichtigkeit zu appellieren und an sie die Frage zu stellen nach
allen jenen Reden, durch welche sie zu zeigen suchten, daß man weder
zwischen Schlafen und Wachen noch zwischen Irrsinn und gesunder Menschenvernunft
unterscheiden kann, ob sie nicht trotz ihrer langen Begründungen davon
überzeugt wären, daß sie nicht schlafen und daß sie
einen gesunden Geist besitzen. Und wenn sie eine Spur von Ehrlichkeit gehabt
hätten, hätten sie alle ihre eitlen Spitzfindigkeiten widerrufen
und offen zugegeben, daß sie es nicht vermochten, jene Unterscheidungen
für unwahr zu halten, als sie sich anschickten, sie zu leugnen.
Es kann sich zwar jemand finden, der zu zweifeln
anfängt, ob er schläft, ob er verrückt ist, und der sogar
glaubt, daß die Realität der [>284] Außenwelt PR284.1ungewiß
ist,
daß es zweifelhaft ist, ob Sonne,
Mond, Materie wirklich sind. Niemand könnte jedoch daran zweifeln,
wie der heilige Augustinus sagt, ob er ist, ob er denkt, ob er lebt. Denn
mag er schlafen oder wachen, einen gesunden oder kranken Geist haben, sich
irren oder sich nicht irren, es ist jedenfalls sicher, daß er denkt,
daß er ist und daß er lebt, da es unmöglich ist, das Dasein
und das Leben von dem Denken abzutrennen und zu glauben, daß das
Denkende nicht ist und nicht lebt. Von dieser klaren, gewissen und unbezweifelbaren
Erkenntnis ausgehend, kann er sich eine Regel bilden, um alle Gedanken,
bei denen er eine ähnliche Klarheit antreffen wird, als wahre Gedanken
anzusprechen.
Desgleichen ist es unmöglich, an seinen Sinneswahrnehmungen
zu zweifeln, wenn man sie von ihrem Gegenstand trennt. Mag es Sonne und
Erde geben oder nicht, ich bin sicher, daß ich mir vorstellen kann,
sie zu sehen. Ich bin sicher, wenn ich zweifle,
daß ich zweifle, und, wenn ich
zu sehen glaube, daß ich glaube zu sehen, daß ich, wenn ich
zu hören glaube, glaube zu hören usw. Man wird auf diese Weise,
indem man in den eigenen Geist eindringt und zusieht, was sich dort abspielt,
unendlich viele klare Erkenntnisse finden, die nicht angezweifelt
werden können.
Diese Überlegung kann zur Entscheidung einer
anderen Frage dienen, ob nämlich die Dinge, die man nur durch den
Geist kennt, PR284.2gewisser
oder weniger gewiß sind als die,
die man durch die Sinne kennt. Denn auf Grund des Gesagten ist es klar,
daß wir uns unserer Sinneswahrnehmungen und unserer Ideen, die nur
als Gegenstände einer Reflexion des Geistes präsent sind, sicherer
sind als aller Gegenstände, die sich auf die Sinneswahrnehmungen beziehen.
Man kann selbst sagen, daß, obgleich die Sinne uns nicht immer mit
dem Bericht, den sie uns geben, täuschen,
dennoch die PR284.3Gewißheit,
daß sie uns nicht täuschen, nicht von den Sinnen kommt, sondern
von einer Reflexion des Geistes, durch welche wir unterscheiden, wann wir
den Sinnen glauben und wann wir ihnen nicht glauben dürfen.
Und deshalb muß zugestanden werden, daß
der heilige Augustinus, sich Platon anschließend, mit Recht behauptete,
daß die Beurteilung der Wahrheit
und die Regel, gemäß welcher sie festgestellt wird, nicht den
Sinnen, sondern dem Geist angehören: Non
est judicium veritatis in sensibus; und daß selbst die von den
Sinnen gewährte PR284.4Gewißheit
sich
nicht sehr weit erstreckt. Es gibt nämlich etliche Dinge, die man
vermittels der Sinne zu wissen glaubt,
von denen man aber nicht behaupten kann, daß man über sie PR284.5völlige
Gewißheit hat."
284f: "Man kann, zum Beispiel, vermittels der
Sinne wissen, daß dieser [>285] Körper größer als
jener ist; man wird aber PR285.1keine Gewißheit
darüber haben können, welches die wirkliche und unverfälschte
Größe jedes dieser Körper ist. Um das eben Gesagte einzusehen,
muß man nur in Betracht ziehen, daß, wenn alle Menschen die
Dinge unserer Umwelt seit jeher durch Vergrößerungsgläser
betrachtet hätten, sie sicherlich die Körper und die Maße
der Körper sich nach der Größe vorstellen würden,
in der sie uns, durch jene Gläser gesehen, erschienen wären.
Nun sind auch unsere Augen derartige Brillen: Wir wissen demnach nicht
genau, ob sie nicht die Gegenstände, die wir sehen, verkleinern oder
vergrößern, und ob nicht vielmehr die eigens gefertigten Brillen,
die sie, nach unserer Meinung, verkleinern oder vergrößern,
sie in ihrer wiederhergestellten wirklichen Größe erscheinen
lassen. Demzufolge erkennt man PR285.2nie
mit Gewißheit die absolute und natürliche Größe jedes
einzelnen Körpers. ...
Wie dem auch sei: mag auch das Urteil über
die Größe der Dinge irgendwie PR285.3ungewiß
sein, so ist es kaum notwendig und in keiner Hinsicht erforderlich, daraus
zu schließen, daß ihm nicht eine PR285.4größere
Gewißheit als allen anderen durch die Sinne übermittelten
Informationen zukommt.
Denn weiß ich auch nicht, wie ich bereits
gesagt habe, welche die absolute und natürliche Größe eines
Elefanten ist, so weiß ich dennoch, daß er größer
ist als ein Pferd und kleiner als ein Walfisch, was für die Praxis
des Lebens ausreicht.
Es gibt also sowohl PR285.5Gewißheit
als auch PR285.6Ungewißheit,
sowohl im [>286] Geist als auch in den Sinnen. Es wäre ein gleich
großer Fehler, wollte man alle Dinge für PR286.1gewiß
oder für PR286.2ungewiß
ausgeben.
Die Vernunft zwingt uns vielmehr, drei Arten von
Dingen anzuerkennen.
Denn es gibt Dinge, die klar und PR286.3gewiß
erkannt werden können; es gibt welche, die man im Grunde nicht klar
erkennt, bei denen man aber hoffen kann, daß man sie wird erkennen
können; schließlich gibt es welche, deren PR286.4gewisse
Erkenntnis nahezu unmöglich ist, entweder weil wir keine Prinzipien
haben, die uns zu ihnen hinführen, oder weil diese Dinge der Größenordnung
unseres Geistes nicht entsprechen. Die erste Art enthält alles, was
man durch Beweis und Einsicht erkennt."
S.287: "Es ist jedoch anzumerken, daß es Dinge gibt, die in ihrem
Sosein unverständlich, aber im Hinblick auf ihr Dasein PR287.1gewiß
sind. Man kann nicht das Wie ihrer Wirklichkeit begreifen, obgleich es
PR287.2gewiß
ist, daß sie wirklich sind.
Was gibt es Unverständlicheres als die Ewigkeit?
Und was gibt es zu gleicher Zeit Sichereres? Ihre PR287.3Gewißheit
ist
so einleuchtend, daß die Menschen, die durch eine furchtbare Verblendung
in ihrem Geist die Gotteserkenntnis zerstört haben, gezwungen sind,
sie dem häßlichsten und verächtlichsten aller Seinsbereiche,
das heißt der Materie, zuzusprechen."
S.310: "Es sind also nicht die seit unserer
Kindheit gemachten Beobachtungen, von denen die PR310.1Gewißheit
dieses Axioms abhängt, denn es gibt im Gegenteil nichts
Geeigneteres, uns in dem Irrtum zu bestärken, als bei diesen Vorurteilen
unserer Kindheit stehenzubleiben. Die PR310.2Gewißheit
hängt
vielmehr einzig davon ab, daß die klaren und deutlichen Ideen, die
wir von einem Ganzen und einem Teil haben, eindeutig ein Doppeltes implizieren:
daß das Ganze größer als der Teil ist und daß der
Teil kleiner als das Ganze ist.
Und der ganze Beitrag der verschiedenen gemachten
Beobachtungen über einen Menschen, der größer als sein
Kopf, über ein Haus, das größer als ein Zimmer ist, besteht
in der Gelegenheit, die sie uns geliefert haben, unsere Aufmerksamkeit
auf die Ideen von dem Ganzen und dem Teil (bzw. auf die Idee „das Teile
enthaltende Ganze“) zu richten. Es ist jedoch völlig falsch, wenn
man annimmt, sie seien die Ursachen der PR310.3absoluten
und PR310.4unerschütterlichen
Gewißheit, die wir von der Wahrheit dieses Axioms
haben, wie ich bewiesen zu haben glaube.
Das, was wir über dieses Axiom gesagt haben,
läßt sich über alle anderen sagen. Daher glaube ich, daß
die PR310.5Gewißheit
und Evidenz der menschlichen Erkenntnis im Bereich der natürlichen
Dinge von folgendem Prinzip abhängt: „Alles, was in der klaren und
deutlichen Idee eines Dinges enthalten ist, kann diesem Ding zugesprochen
werden und (als Prädikat) einen Satz bilden, der wahr ist.“ Vom Menschen
kann ich infolgedessen sagen, daß er ein Lebewesen ist, weil „Lebewesen“
in der Idee „Mensch“ enthalten ist; von jedem Kreis kann ich sagen, daß
seine Diameter untereinander gleich sind, weil das Besitzen von untereinander
gleichen Diametern in dem Begriff des Kreises enthalten ist; nur weil die
Gleichheit der Winkelsumme mit zwei rechten Winkeln in der Idee der aus
drei Winkeln bestehenden geschlossenen Figur enthalten ist, kann ich diesen
Sachverhalt von jedem Dreieck prädizieren."
S.319: "Erster Fehler
Mehr Sorgfalt auf die PR319.1Gewißheit
als auf die Evidenz und mehr auf die Überzeugung des Geistes als auf
seine Erhellung verwenden"
S.330: "... Dies hat zur Folge, daß die Menschen in zwei einander
entgegengesetzte Abweichungen und Verirrungen geraten. Die einen finden
wir bei den Leuten, die zu leichtgläubig das geringste Gerücht
für wahr halten, und die anderen bei denen, welche lächerlicherweise
ihre Geisteskraft auf den Versuch verschwenden, die bestbezeugten Tatsachen
nicht zu glauben, wenn durch das Fürwahrhalten dieser Tatsachen die
Vorurteile ihres Geistes erschüttert werden würden. Trotzdem
kann man aber bestimmte untere Grenzen angeben, die man überschritten
haben muß, um jene PR330.1menschliche
Gewißheit zu haben und bestimmte obere Grenzen, jenseits
von welchen man ganz gewiß im Besitz jener PR330.2Gewißheit
ist;
der von diesen Grenzen umrahmte mittlere Bereich läßt ein Mehr
und Weniger hinsichtlich der PR330.3Gewißheit
bzw. PR330.4Ungewißheit
zu, und zwar je nachdem man sich mehr den einen oder den anderen nähert.
..."
"Es steht, zweitens, fest, daß der göttliche
Glaube eine größere Macht Über unseren Geist haben muß
als unsere eigene Vernunft. Und zwar leiht die Vernunft selbst diese Übermacht
dem göttlichen Glauben indem sie uns zeigt, daß man immer den
höheren
Grad der PR330.5Gewißheit
dem geringeren vorziehen muß und
daß es gewisser ist, daß Gottes [>331] Aussagen wahr sind als
daß das von unserer Vernunft überzeugenderweise Behauptete zutrifft,
denn Gottes Unfähigkeit, uns zu täuschen, ist um vieles größer
als die Unfähigkeit unserer Vernunft, getäuscht zu werden."
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