Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
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    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und integrative Psychotherapie, Abteilung Forschung, Bereich Begriffsanalysen und hier speziell zum Thema :

    vorlage

    Recherche von Rudolf Sponsel, Erlangen



    Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie (2.A. 2008)
    "Gewißheit (lat. certitudo, eng!. certainty), alltagssprachlicher, in erkenntnistheoretischen Zusammenhängen auch terminologisch verwendeter Ausdruck zur Bekundung und Beurteilung von Wissen. In Form objektiver G. tritt G. als Korrelat zu begründetem >Wissen auf, in Form von subjektiver G. je nach dem Grad beanspruchter Klarheit als Korrelat entweder zu überzeugung oder (bloßer) >Meinung. Dem entspricht in der philosophischen Tradition die Unterscheidung zwischen >certitudo rei cognitae< und >certitudo assensus nostri ad rem< (R. Goclenius, Lexicon philosophicum, Frankfurt 1613, 361). Die Bedeutung des Terminus >G.< ist damit ähnlich wie im Falle der Bedeutung von >Evidenz  festgelegt, nämlich einerseits als objektive Form der Wahrheitsfindung (G. als )Verfügbarkeit< eines >Sachverhalts), andererseits als subjektive Form der Wahrheitsanerkennung (G. als >Verfügen< über einen Sachverhalt). Gegensatz der G. sowohl im objektiven als auch im subjektiven Sinne von Ungewißheit ist der >Zweifel.
    Die philosophische Tradition unterscheidet im wesentlichen zwischen (1) metaphysischer G. (im Gegensatz zur skeptischen These von der prinzipiellen Ungewißheit des Wissens) und moralischer G. (als >Lebensform), (2) empirischer (assertorischer oder präsumptiver) G. und apodiktischer G., eine Unterscheidung, die in der Regel derjenigen zwischen aposteriorischem Wissen und apriorischem Wissen (>a priori) entspricht bzw. deren  >epistemischer< Beurteilung dient. Moderne Erörterungen des Begriffs der G. erfolgen dabei auf dem Hintergrund des neuzeitlichen >Subjektivismus in der >Erkenntnistheorie, vornehmlich der Position R. Descartes'. Bei Descartes wird nämlich Unbezweifelbarkeit explizit zum Kriterium objektiver G., die im icogito ergo sum über einen methodischen Zweifel gewonnene Selbstgewißheit des Denkenden zum Inbegriff und Paradigma [>136] objektiver G.. Damit verbindet sich mit dem Begriff der G. in cartesischer Tradition zugleich die Forderung nach absoluter Sicherheit und Eindeutigkeit des Wissens. In der auch in der Neuzeit, zumal im Rahmen der Positionen des iEmpirismus, weiterlaufenden Tradition des iSkeptizismus wird diesem erkenntnistheoretischen Methodenideal widersprochen, G. im Sinne objektiver G. allenfalls auf Konstruktionen des Verstandes (Beispiele: Logik und Mathematik) eingeschränkt. Neuere sprachanalytische Rekonstruktionen im Begriffsfeld >G.< und die Unterscheidungen der epistemischen Logik (iLogik, epistemische) verschaffen derartigen Kontroversen eine methodische Basis, wobei sich auch hier die Verbindung des Begriffs der G. mit dem Begriff der Sicherheit im wesentlichen als irrelevant erweist (L. Wittgensteins Empfehlung: >,vergiß diese transzendente Sicherheit, die mit deinem Begriff des Geistes zusammenhängt«, On Certainty. Über G., 8 [Nr. 47], vgl. 52ff. [Nr. 404ff.]).
        Auf den Begriff der G. im Sinne beanspruchter Irrtumsfreiheit (Sicherheit) bezieht sich auch die Kritik des kritischen Rationalismus (>Rationalismus, kritischer) und der analytischen Wissenschaftstheorie (>Wissenschaftstheorie, analytische) an den klassischen Begründungsansprüchen der Philosophie. Dabei wird insbes. der konstruktiven Wissenschaftstheorie (>Wissenschaftstheorie, konstruktive) unterstellt, sie suche, im Rückgriff auf die erkenntnistheoretische Position H. Dinglers, einen dogmatischen Begriff der >Letztbegründung zu restituieren und gäbe sich dabei als >Certismus (im Gegensatz zu der im >Fallibilismus vertretenen Konzeption wissenschaftlicher Rationalität) zu erkennen. Diese Unterstellung ist jedoch unbegründet, insofern der in der konstruktiven Wissenschaftstheorie vertretene Begriff der >Begründung (1) dem so genannten iMünchhausen-Trilemma nicht unterliegt und (2) den Anspruch auf Irrtumsfreiheit nicht impliziert.

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    Links(Auswahl: beachte)
     



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:  Wissenschaftlicher und  weltanschaulicher  Standort.
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    assertorische-Evidenz
    assertorisch:=etwas behaupten. Evidenz:=Offenkundigkeit, Offensichtlichkeit, Augenscheinlichkeit (im Angloamerikanischen eine ganz andere Bedeutung, nämlich: belegt, begründet, beweisorientiert).
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    Epimeleia  Ausfmerksamkeit und Sorge für ein gutes Leben.
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    performative-utterances (Austin)
    Sprechhandlungen, die nicht nur sachlich etwas mitteilen, sondern auf eine Wirkung und Veränderung abzielen. [W.engl]
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    Querverweise
    Standort: vorlage.
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    Überblick Arbeiten zur Theorie, Definitionslehre, Methodologie, Meßproblematik, Statistik und Wissenschaftstheorie besonders in Psychologie, Psychotherapie und Psychotherapieforschung.
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