Eisler Gewissheit im Wörterbuch der Philosophischen Begriffe
Recherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Eisler Wörterbuch der philosophischen Begriffe
Quelle: https://www.textlog.de/4167.html
Gewißheit (certitudo) ist das »sichere«, feste Wissen, das überzeugte Fürwahrhalten, die Sicherheit, völlige Abgeschlossenheit des Urteilens, die aus der Denknotwendigkeit empirisch oder a priori entspringt und in einem Gefühle sich bekundet, die Bestimmtheit des Denkwillens, der sich als logisch determiniert erweist und nicht schwankt. Zu unterscheiden ist die subjektive Gewißheit des Glaubens (s. d.) von der objektiven des Wissens (s. d.), die absolute Gewißheit von der Wahrscheinlichkeit (s. d.), die unmittelbare Gewißheit (Evidenz, s. d.) von der mittelbaren (abgeleiteten). Alle Gewißheit wurzelt schließlich in der (äußeren oder inneren) Anschauung und in den Denkgesetzen. Absolut gewiß ist das, dessen Gegenteil oder Nichtsein als unmöglich (widerspruchsvoll) festgestellt ist. Der Rationalismus (s. d.) sieht in der Vernunft eine Quelle der Gewißheit. Der Skepticismus (s. d.) leugnet jegliche objektive Gewißheit. Die Gewißheit des Erkennens ist ein Fundamentalproblem der Philosophie.
THOMAS bestimmt die »certitudo« als »proprietas cognitivae virtutis« (Sum. th. I, II, 40, 2 ob. 3). Sie ist »determinatio intellectus ad unum« (3 sent. 23, 2, 2), »firmitas adhaesionis virtutis cognitivae in suum cognoscibile« (3 sent. 26, 2, 4e). Die Gewißheit entspringt dem »lumen naturale« (s. d.), dem natürlichen Erkenntnisvermögen (»quod aliquid per certitudinem sciatur, est ex lumine rationis divinitus interius indito, quo in nobis loquitur Deus«, Verit. 11, 1 ad 13). - NICOLAUS CUSANUS erklärt: »Nihil certi habemus nisi nostram mathematicam.« DESCARTES bestimmt als Kriterium der Gewißheit die »Klarheit und Deutlichkeit« (s. d.). SPINOZA versteht unter Gewißheit die Art, wie wir das wirkliche Sein auffassen (Em. intell.). LOCKE unterscheidet die »Gewißheit der Wahrheit«, die darin besteht, wenn in einem Satze die Übereinstimmung zwischen den von den Worten bezeichneten Vorstellungen genau so ausgedrückt wird, wie sie wirklich statthat, und »Gewißheit des Wissens«, als Erkenntnis dieser Übereinstimmung (Ess. IV, eh. 6, § 3). LEIBNIZ erkennt nur letztere, als vollständige Erkenntnis der Wahrheit; die erstere Art der Gewißheit ist die Wahrheit selbst (Nouv. Ess. IV, ch. 6, § 3). Es gibt moralische, physische, metaphysische Gewißheit (l.c. § 13). Nach CHR. WOLF ist Gewißheit unserer Erkenntnis »der Begriff von der Möglichkeit oder auch Wirklichkeit eines Urteiles« (Vern. Ged. I, § 389). Sie entstammt der Vernunft oder der Erfahrung (l.c. § 390). »Si cognoscimus, propositionem esse veram vel falsam, propositio nobis dicitur esse certa« (Log. § 564). CRUSIUS stellt als oberste Regel der Gewißheit den Satz auf: Was ich nicht anders als wahr denken kann, ist wahr (Weg zur Gewißh. 1747). J. EBERT: »Diejenige Beschaffenheit unserer Erkenntnis, vermöge welcher man die Wahrheit des Gegenteils nicht befürchten darf, nennt man Gewißheit« (Vernunftlehre S. 136). D'ALEMBERT erklärt: »L'évidence appartient proprement aux idées dont l'esprit aperçoit la liaison tout d'un coup; la certitude à celles dont la liaison ne peut être comme que par le secours d'un certain nombre d'idées intermédiaires« (Disc. prélim. p. 51). FEDER: »Wenn man etwas für wahr oder falsch hält, so ist man entweder durch völlige und deutliche Erkenntnis gezwungen, so zu urteilen, oder nicht. Nur in dem ersten Falle kann man sagen, daß man Überzeugung (convictio) habe und gewiß sei, das heißt, außer der Gefahr sich zu irren« (Log. u. Met. S. 119 ff.).
Nach KANT ist man gewiß, »insofern
man erkennt, daß es unmöglich sei, daß eine Erkenntnis
falsch sei« (WW. II, 298). »Das gewisse Fürwahrhalten
oder die Gewißheit ist mit dem Bewußtsein der Notwendigkeit
verbunden« (Log. S. 98). Es gibt empirische und rationale (mathematisch-intuitive
und philosophisch-discurcive) Gewißheit (l.c. S. 107). »Die
empirische Gewißheit ist eine ursprüngliche (originarie
empirica), sofern ich von etwas aus eigener Erfahrung, und eine
abgeleitete (derivative empirica), sofern ich durch fremde
Erfahrung wovon gewiß werde. Diese letztere pflegt auch die historische
Gewißheit genannt zu werden« (l.c. S. 108 f.). »Die rationale
Gewißheit unterscheidet sich von der empirischen durch das Bewußtsein
der Notwendigkeit, das mit ihr verbunden ist; - sie ist also eine
apodiktische, die empirische dagegen nur eine assertorische
Gewißheit. - Rational gewiß ist man von dem, was man auch ohne
Erfahrung a priori würde eingesehen haben« (l.c. S. 108). »Alle
Gewißheit ist entweder eine unvermittelte oder eine vermittelte,
d.h. sie bedarf entweder eines Beweises, oder ist keines Beweises fähig
und bedürftig« (ib.). Die Grundsätze unseres Denkens und
Erkennens sind a priori (s. d.), allgemein-
subjektiv gewiß und daher objektiv gültig. Nach KRUG ist Gewißheit
»ein Fürwahrhalten, welches in der Erkenntnis des Objekts hinlänglich
gegründet ist oder auf objektiv-zureichenden Gründen beruht«
(Fundam. S. 237). Nach MAAS ist ein Urteil gewiß, sofern man sich
der Wahrheit desselben bewußt ist (Log. § 328). Mit REINHOLD
und J. G. FICHTE beginnt für einige Zeit die Tendenz, einen absolut
gewissen Satz an die Spitze des philosophischen Systems zu setzen. Das
Gefühl der Gewißheit ist nach Fichte »eine unmittelbare
Übereinstimmung unseres Bewußtseins mit unserem ursprünglichen
Ich«. »Nur inwiefern ich ein moralisches Wesen bin, ist Gewißheit
für mich möglich; denn das Kriterium aller theoretischen Wahrheit
ist nicht selbst wieder ein theoretisches« (Syst. d. Sittenlehre
S. 220 f.). Nach FRIES hat ein Urteil Gewißheit, wenn es zureichende
Gründe hat (Syst. d. Log. S. 409). Nach ULRICI ist die Gewißheit
»die subjektive Denknotwendigkeit« (Log. S. 32). Gewißheit
und Evidenz sind nur »das mittel- oder unmittelbare Bewußtsein
(Gefühl) von der Denknotwendigkeit einer Vorstellung und ihres Inhalts
(Objekts) - ein Bewußtsein, das wir Gewißheit nennen,
wo die Denknotwendigkeit nur das Dasein eines der Vorstellung zugrunde
liegenden Objekts betrifft, Evidenz, wo sie die Bestimmtheit und
Beschaffenheit des Objekts umfaßt« (Gott u. d. Nat. S. 11).
HARMS bestimmt »Gewißheit« als »Glauben, der sich
der Gründe seines Fürwahrhaltens des Gedachten bewußt ist«
(Log. S. 111 f.). WITTE unterscheidet tatsächliche (individuell-subjektive
und objektive) und erkenntnistheoretische Gewißheit (Wesen der Seele
S. 59). Nach PESCH ist Gewißheit »jener Zustand des Verstandes,
in welchem letzterer der erkannten Wahrheit fest zustimmt, unter Ausschuß
aller vernünftigen Besorgnis vor Irrtum« (Die groß. Welträts.
S. 596). Nach HAGEMANN ist Gewißheit »die feste, jeden Zweifel
sowie jede Furcht des Irrtums ausschließende Zustimmung des Denkgeistes
zu einer wirklichen oder scheinbaren Wahrheit« (Log. u. Noet.5, S.
176). Es gibt unwillkürliche und reflexive, wissenschaftliche (l.c.
S. 177), subjektive und objektive Gewißheit, je nach dem Gewißheitsgrund
(l.c. S. 178). Der Grund der Gewißheit ist »die einleuchtende
Wahrheit der erkannten Sache oder die objektive Evidenz« (l.c. S.
180). »Metaphysische Gewißheit ist bei allen analytischen
Urteilen vorhanden, deren Wahrheit aus der bloßen Betrachtung des
Subjektes und Prädikates entweder unmittelbar oder mittelbar einleuchtet,
und zwar so einleuchtet, daß das Gegenteil in sich unmöglich
erscheint.« »Physische Gewißheit eignet den synthetischen
(Erfahrungs-) Urteilen welche über Tatsachen der inneren und äußeren
Erfahrung gefällt werden.« »Moralische Gewißheit
kommt denjenigen Wahrheiten zu, welche auf Grund eines fremden Zeugnisses,
also wegen der äußern Evidenz, für gewiß gehalten
worden« (l.c. S. 182 f.). Nach WUNDT ist gewiß, »was
in eine der durchgängigen Übereinstimmung der reinen Anschauung
gleichende widerspruchslose Verbindung gebracht ist« (Log. I, 387).
Die objektive Gewißheit ist »ein Resultat der Bearbeitung unmittelbar
gegebener Tatsachen des Bewußtseins durch das Denken« (l.c.
S. 379). Als gewiß gilt uns ein Satz, wenn seine Verneinung als unmöglich
angesehen wird (l.c. S. 384). Objektiv gewiß sind die Tatsachen,
die auf dem Wege fortschreitender Berichtigung der Wahrnehmungen nicht
mehr beseitigt werden können (l.c. S. 385; vgl. S. 389). B. ERDMANN
bestimmt: »Gewiß ist die Wirklichkeit eines Gegenstandes, wenn
sie sich in wiederholter Erkenntnis oder Apperzeption als die gleiche,
gewiß ist der Inhalt eines Gegenstandes, wenn er sich in wiederholter
Erkenntnis als der gleiche herausstellt« (Log. I, 272). »Die
wiederholte, übereinstimmende Erkenntnis ist... das logische Kriterium
für die Gewißheit der Gegenstände« (l.c. S. 273).
R. AVENARIUS rechnet die Gewißheit zu den »Charakteren«
(s. d.) der Erkenntnis (Krit. d. r. Erf. II, 135). Vgl. Evidenz, Wissen,
Wahrheit, metaphysisch.
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