Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=18.07.2022 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: tt.mm.jj
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
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    Willkommen in unsere Internet-Publikation für Allgemeine und integrative Psychotherapie, Abteilung Geschichte der Psychopathologie, und hier speziell zum Thema:

    Analyse des Gewissheitsbegriff in Brendel (2013) Wissen
    Materialien zur Studie Begriffsanalyse Gewissheit und Gewissheitserleben.

    Brendel, Elke (2013) Wissen. Berlin: De Gruyter
    Zusammenfassung - Fundstellenbelege.

    Zusammenfassung-Brendel-2013-Wissen: 37 Fundstellen "gewiss", davon aber 26 unbestimmte "gewisse", Gewissheit 9 Fundstellen und 2 Fundstellen "gewiss" im Sinne von Gewissheit: S.51 "objektiv gewiss", S.85 "ungewiss ist", Sachregister, also insgesamt 9+4=13 Fundstellen:
    Die ersten 7 Fundstellen in Brendels Wissensbuch referieren die Position von Descartes. Die Fundstellen im einzelnen:

      B1: In der Überschrift.
      B2: Descartes Begriff der Intuition: subjektiv evidentes Begreifen, das unmittelbar, unfehlbar und B2objektiv gewiss ist:
      B3: Descartes: Durch Schlussfolgerung Gewinnen weiterer B3notwendiger Gewissheiten.
      B4: Descartes: "empirisch gewonnene Überzeugungen über die Außenwelt niemals den Status B4subjektiver Gewissheiten besitzen"
      B5: Descartes: "Nur wenn das Subjekt selbst die B5Gewissheit der Überzeugung durch Intuition erkannt hat, liegt Wissen vor."
      B6: Descartes: B6Gewissheit liegt also nur vor, wenn das Erkenntnissubjekt etwas weiß und außerdem weiß, dass es dieses Wissen hat.
      B7: Descartes: B7Gewissheit impliziert neben Wissen erster Ordnung auch Wissen, dass man weiß.26"
      B8: Descartes: "... Überzeugung besteht, die B8objektiv gewiss ist  ..."
      B9:  Descartes: "Dieses Beispiel dient ihm als Ausgangspunkt auf der Suche nach B9absoluten Gewissheiten, die selbst einem radikalen Zweifel an der Glaubwürdigkeit aller unserer Wahrnehmungen standhalten."
      B10: Skeptiker: "Da somit die Wahrheit unserer Überzeugungen über die Außenwelt B10ungewiss ist, ist es für den Skeptiker nur folgerichtig, unser Wissen über die Außenwelt zu bestreiten."
      B11: Descartes: "Insbesondere für eine cartesianische Wissenskonzeption, wonach nur objektiv infallible und durch Intuition gewonnene, B11absolut gewisse Überzeugungen als Wissen gelten können, ist die Annahme (3) natürlich sehr plausibel, und die sich daraus ergebenden skeptischen Implikationen sind unausweichlich. "
      B12: Meinung und Überzeugung: "Auch wenn der Begriff der Überzeugung meines Erachtens einen höheren Grad an B12subjektiver Gewissheit konnotiert, sollen die Begriffe der Meinung und der Überzeugung hier synonym verwendet werden - siehe hierzu auch Kap. 3.2.1.""
      B13: Sachregistereinträge: B13Gewissheit 41-42, 83, 191


    Fazit: Descartes' Überlegungen enthalten mehrere grundlegende Fehler: (1) Der Ansatz der Suche nach absoluter Gewissheit ist falsch, weil es eine solche bei Menschen nicht geben kann. (2) Der Mensch kann sich grundsätzlich irren und täuschen, nicht nur bei der äußeren Wahrnehmung, sondern auch (3) bei der inneren Wahrnehmung (denken, erinnern, vorstellen, erleben). (4) Der abstrakt allgemeine Ansatz ist wenig sinnvoll, richtig und wichtig wären konkrete, operationale Beispielen mit klaren Referenzangaben. Das leistet nicht nur Descatres in der Brendel-Präsentation nicht, sondern auch Brendel selbst nicht. Die Kernfrage, wodurch es zur Gewissheit oder zum Gewissheitserleben kommt, wird nicht beantwortet.
        Brendel klärt den Begriff Gewissheit nicht, wie es Aristoteles vor 2300 Jahren schon (Quelle) forderte:
     
    "... Nun müssen diejenigen, 
    welche ihre Gedanken untereinander  austauschen wollen, 
    etwas voneinander verstehen; 
    denn wie könnte denn,
    wenn dies nicht stattfindet,
    ein gegenseitiger Gedankenaustausch (...)
    möglich sein? 
    Es muß also jedes Wort (...) bekannt sein
    und etwas, und zwar eins
    und nicht mehreres, bezeichnen;
    hat es mehrere Bedeutungen, 
    so muß man erklären, 
    in welcher von diesen man das Wort gebraucht. ..."

     Aus: Aristoteles (384-322) Metaphysik. 11. Buch, 5 Kap., S. 244 (Rowohlts Klassiker 1966)

    Leider verstehen die meisten Philosophen auch nach 2300 Jahren Aristoteles immer noch nicht, wie Wissenschaft elementar funktioniert. Wer über Gewissheit etwas sagen und herausfinden will, der muss zunächst erklären, was er unter "Gewissheit" verstehen will. Das ist zwar nicht einfach, aber wenn die Philosophie eine Wissenschaft wäre und und die Philosophen Aristoteles ernst nehmen würden, dann hätte sie das in ihrer 2300jährigen Geschichte längst zustande bringen müssen. 



    Fundstellen "gewiss" im Sinne von Gewissheit

    Brendel2013-S.41f: "3.4.1 B1Gewissheit und Infallibilität der epistemischen Rechtfertigung
    Die Fallibilität der epistemischen Rechtfertigung ist eine zentrale Voraussetzung für die Entstehung des Gettier-Problems. Würde die epistemische Rechtfertigung die Wahrheit der Überzeugung stets erzwingen, wären in den obigen Beispielen die Überzeugungen (a) und (c) bereits nicht gerechtfertigt - und das Gettier-Problem würde folglich nicht auftreten. Eine mögliche Lösungsstrategie zur Gettier-Problematik könnte daher darin bestehen, dem Wissensbegriff einen wahrheitsgarantierenden Begriff der epistemischen Rechtfertigung zugrunde zu legen.
        Bereits in der Antike, vor allem aber in der cartesianischen Erkenntnistheorie der Philosophie der Neuzeit, wurde Wissen als eine bestimmte infallibel gerechtfertigte wahre Überzeugung konzipiert. Für Descartes kann ein Erkenntnissubjekt weder durch die Sinne noch die Vorstellungskraft zu Wissen gelangen, sondern alleine durch evidentes und unbezweifelbares Erfassen des Erkenntnisgegenstandes. Nach Descartes sind Intuition und Deduktion die einzig möglichen Wege zur Wissensgewinnung - und damit zur Wissenschaft. Unter „Intuition" versteht Descartes jedoch keine durch die Sinne oder Erfahrung geleitete und prinzipiell fehlbare Erkenntnisform, sondern vielmehr ein bestimmtes subjektiv evidentes Begreifen, das unmittelbar, unfehlbar und B2objektiv gewiss ist:
     

      Unter Intuition verstehe ich nicht das schwankende Zeugnis der sinnlichen Wahrnehmung oder das trügerische Urteil der verkehrt verbindenden Einbildungskraft, sondern ein so müheloses und deutlich bestimmtes Begreifen des reinen und aufmerksamen Geistes, daß über das, was wir erkennen, gar kein Zweifel zurückbleibt [...j.22


    Durch Deduktion, d. h. durch notwendige Schlussfolgerungen aus dem intuitiv Erkannten, gewinnt man nun weitere B3notwendige Gewissheiten. Eine Überzeugung ist für Descartes somit nur dann Wissen, wenn ihre Wahrheit objektiv begründet und durch subjektiv gewisses intuitives Erfassen bzw. durch deduktives Schließen aus intuitiv Erfasstem garantiert ist. Da vor allem empirisch gewonnene Überzeugungen über die Außenwelt niemals den Status B4subjektiver Gewissheiten besitzen, denn Sinneswahrnehmungen können sich stets als trügerisch erweisen, sind die potentiellen Kandidaten für Wissensobjekte in Descartes' Wissenskonzeption sehr eingeschränkt:
     

      So kann jeder intuitiv mit dem Verstande sehen, daß er existiert, daß er denkt, daß ein Dreieck von nur drei Linien, daß die Kugel von einer einzigen Oberfläche begrenzt ist und Ähnliches [...].23
    Dieser sehr strenge Wissensbegriff bei Descartes ist allerdings problematisch und intuitiv unplausibel, da er insbesondere einen radikalen Skeptizismus bezüglich [>42] empirischen Wissens über die Außenwelt nach sich zieht. Aufgrund der prinzipiellen Fehlbarkeit empirisch gewonnener Überzeugungen erscheint empirisches Wissen unmöglich. Nur die selbst evidenten und infallibel gerechtfertigten Überzeugungen, wie „Ich denke, daher bin ich" oder „Ein Quadrat hat vier Seiten", können nach Descartes als Wissen gelten. Seine Wissenskonzeption steht daher im starken Gegensatz zum „alltäglichen" Verständnis von Wissen, wonach wir uns und anderen in vielen Bereichen, auch ohne infallible Rechtfertigungsbasis, Wissen zuschreiben. Der Wissensbegriff Descartes' hat zudem einen sehr eingeschränkten Anwendungsbereich. Dies bedeutet, dass die cartesianische Wissenskonzeption
    einige der Adäquatheitsbedingungen für eine erkenntnisphilosophische Begriffsexplikation von Wissen aus Kapitel 2 nicht erfüllt.24 Des Weiteren ist
    Wissen in der cartesianischen Tradition Resultat einer introspektiven und reflektiven Tätigkeit des Erkenntnissubjekts. Nur wenn das Subjekt selbst die B5Gewissheit der Überzeugung durch Intuition erkannt hat, liegt Wissen vor. Diese Wissenskonzeption ist mit einer externalistischen Vorstellung epistemischer Rechtfertigung25 von vornherein unvereinbar und verlangt vom Erkenntnissubjekt zudem, wie Grundmann ausführt, ein bestimmtes Wissen zweiter Ordnung:
     
      B6Gewissheit liegt also nur vor, wenn das Erkenntnissubjekt etwas weiß und außerdem weiß, dass es dieses Wissen hat. B7Gewissheit impliziert neben Wissen erster Ordnung auch Wissen, dass man weiß.26"


    S.54: "... Die erste diskutierte Lösungsmöglichkeit bestand darin, auf die Wissenskonzeption Descartes' zurückzugreifen, wonach Wissen in einer bestimmten Überzeugung besteht, die B8objektiv gewiss ist und durch ein bestimmtes infallibles intuitives Erfassen des Erkenntnisgegenstandes gewonnen wurde.  ..."

    S.83: "Descartes ist nicht der Meinung, dass es einen solchen betrügerischen Dämon tatsächlich gibt. Vielmehr verwendet er dieses Gedankenexperiment als Methode eines systematischen und generellen Zweifelns. Dieses Beispiel dient ihm als Ausgangspunkt auf der Suche nach B9absoluten Gewissheiten, die selbst einem radikalen Zweifel an der Glaubwürdigkeit aller unserer Wahrnehmungen standhalten."

    S.85: "Das wissensskeptische Argument ist prima facie recht einleuchtend. Seine Annahmen erscheinen unstrittig. Der Skeptiker behauptet ja nicht, dass wir de facto in einer simulierten Scheinrealität leben oder dass dies auch nur wahrscheinlich wäre. Er behauptet lediglich, dass die Möglichkeit einer Täuschung bestehe (Annahme (1)). Auch ist Annahme (2), wonach wir diese Möglichkeit nicht ausschließen können, plausibel. Da somit die Wahrheit unserer Überzeugungen über die Außenwelt B10ungewiss ist, ist es für den Skeptiker nur folgerichtig, unser Wissen über die Außenwelt zu bestreiten. Allerdings ist diese Konklusion des skeptischen Arguments natürlich nur schwer annehmbar — würde dies doch bedeuten, dass wir uns permanent irrten, wenn wir uns und anderen Wissen zusprächen. Schon Immanuel Kant bezeichnete es als „Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein außer uns [...] bloß auf Glauben annehmen zu müssen und, wenn es jemandem einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegenstellen zu können"11"

    S.101: "5.2.5 Epistemische Sicherheit und Wissensskeptizismus
    Bisher konnte keine der diskutierten antiskeptischen Strategien vollständig überzeugen. Direkte Widerlegungsversuche, in denen versucht wurde, die Prämisse (1) bzw. (2) des wissensskeptischen Arguments zu falsifizieren, erwiesen sich als unhaltbar. Auch die Strategie Dretskes und Nozicks, das Abgeschlossenheitsprinzip (und damit die Prämisse (5) im wissensskeptischen Argument) zurückzuweisen, wurde als höchst problematisch erachtet. Eine andere antiskeptische Strategie könnte jedoch auch darin bestehen, die Annahme (3) des wissensskeptischen Arguments in Frage zu stellen. Muss aus den Annahmen, dass die Möglichkeit einer globalen Täuschung prinzipiell gegeben ist und wir diese Möglichkeit nicht ausschließen können, tatsächlich zwangsläufig folgen, dass wir dann auch nicht wissen können, dass wir nicht getäuscht werden? Insbesondere für eine cartesianische
    Wissenskonzeption, wonach nur objektiv infallible und durch Intuition gewonnene, B11absolut gewisse Überzeugungen als Wissen gelten können, ist die Annahme (3) natürlich sehr plausibel, und die sich daraus ergebenden skeptischen Implikationen sind unausweichlich. In Kapitel 3.4.1 wurde jedoch bereits eine cartesianische Wissenskonzeption u. a. aufgrund ihrer radikal skeptischen Konsequenzen zurückgewiesen. "

    S.191 Anmerkung zu Kap. 7: "7 Da in der Diskussion um das Menon-Problem (und in den Übersetzungen des Ausdrucks „döxa") meist der Begriff der Meinung anstelle des Begriffs der Überzeugung verwendet wird, werde ich hier diesen Begriff ebenfalls verwenden und später wieder zum Begriff der Überzeugung übergehen. Auch wenn der Begriff der Überzeugung meines Erachtens einen höheren Grad an B12subjektiver Gewissheit konnotiert, sollen die Begriffe der Meinung und der Überzeugung hier synonym verwendet werden - siehe hierzu auch Kap. 3.2.1."

    S. 203 Sachregistereinträge: B13Gewissheit 41-42, 83, 191

    Ende Belege Brendel 2013 Wissen.
     
     



    Links(Auswahl: beachte)  > Querverweise.



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:  Wissenschaftlicher  und  weltanschaulicher  Standort.
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
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    assertorische-Evidenz
    assertorisch:=etwas behaupten. Evidenz:=Offenkundigkeit, Offensichtlichkeit, Augenscheinlichkeit (im Angloamerikanischen eine ganz andere Bedeutung, nämlich: belegt, begründet, beweisorientiert).
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    Epimeleia  Ausfmerksamkeit und Sorge für ein gutes Leben.
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    Fallibilität Fehlbarkeit, falsch liegen, Irrtum aufsitzen.
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    Infallibel  unfehlbar.
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    performative-utterances (Austin)
    Sprechhandlungen, die nicht nur sachlich etwas mitteilen, sondern auf eine Wirkung und Veränderung abzielen. [W.engl]
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    Querverweise
    Standort: Brendel 2013 Gewissheit in Wissen.
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    Überblick Arbeiten zur Theorie, Definitionslehre, Methodologie, Meßproblematik, Statistik und Wissenschaftstheorie besonders in Psychologie, Psychotherapie und Psychotherapieforschung.
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