Die neuen Kleider der Psychiatrie
Hans Hartungs Aufzeichnungen vom antiinstituionellen
Kampf zum Kleinkrieg gegen die Misere. Berichte aus Triest (Basaglia-Projekt).
dokumentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen
Titel und Umschlag * Inhaltsverzeichnis * Abschaffung der Therapie? * Querverweise
_
"Was
tritt an die Stelle der Therapie ?
Kommentar RS
Was an die Stelle von Therapie tritt,
läßt sich natürlich für Triest nur aus der Analyse
der gesamten Praxis beantworten. Eine Antwort versucht dieses Buch. Dennoch
lassen sich Momente in der Auseinandersetzung zwischen Mitarbeitern und
Benutzern herausarbeiten, in denen sich Probleme niederschlagen, für
die anderswo die therapeutische Antwort bereitgestellt wird. Ich werde
mich hier mit drei formelhaften Prinzipien der Praxis beschäftigen.
|
Diese Formulierungen erinnern an die Abschaffung der Therapie, die Masson ausgelöst durch Freud'sche Fehlleistungen forderte, an deren Stelle nicht professionelle zwischenmenschliche Beziehungen treten sollen. Das ist im Grunde in der Selbsthilfe-, Wohn- und Lebensprojektbewegung teilweise umgesetzt worden. Als allgemeines und grundsätzliches Prinzip ist es sicher falsch und geht z.B. auch über das Villa 21 (Laing, Cooper) hinaus. |
- affettività
(schwer übersetzbar: Affektivität zielt im deutschen Sprachgebrauch
ein bißchen auf >affektives Klima, und Gefühl ist in unserer
Sprache immer vom Denken getrennt): Daß die
Beziehungen zwischen Benutzern und Mitarbeitern von der affettività bestinrmt sein sollen, will im Grunde nur sagen, daß diese Beziehungen nicht professionalisiert werden dürfen, daß ich, wenn ich mit einem Benutzer etwas unternehme, auch wirklich wollen muß. Anders herum: daß es auch richtig ist, Abwehr, Desinteresse zu zeigen. Der Patient darf nicht wie ein rohes Ei behandelt werden. Er ist ein Mensch mit gleichen Rechten, also hat er auch ein Anrecht, daß ihm gezeigt wird, woran er ist. Ich will das nicht weiter ausmalen, sonst könnte das als neuer Knigge gegenüber Patienten mißverstanden werden. Es handelt sich auch nicht um das Prinzip der guten oder schlechten Laune, sondern um ein im Kern analytisches Prinzip, nach dem ermittelt werden soll, warum Beziehungen stecken bleiben. |
Dieses Prinzip erinnert
an die sozialpsychologischen Heilmittel
Echtheit oder Authentizität, die in der klientenzentrierten Psychotherapie
(Gesprächspsychotherapie nach Rogers) eine besondere Rolle spielen:
die TherapeutIn muß aufrichtig sein. Echtheit wird hier also zu einem
- angeblich unprofessionellen - Heilmittel
erklärt.
Die Bedeutung der Echtheit wird durch die - freilich
umstrittene - Meta-Analyse von Grawe in Frage gestellt (1994,
S. 138); auch Sponsel
1995, S. 392.
|
- soeializzazione
della sofferenza (Sozialisierung des Leidens): Zunächst wird
damit die Einsicht formuliert, daß nicht die seelische Krise als
solche ein psychiatrisches Prinzip ist, sondern ihre soziale Isolation.
Insbesondere in Barcola hat man versucht, unter dieser Maxime zu arbeiten,
zumal dort unter den neuen Patienten die Figur der >depressiven Frau<
zunahm. Dies geschah, indem Gruppen gebildet wurden, aus denen die Idee
der Handarbeitsboutique entstand, einer Kooperative, die allerdings nicht
gerade glückhaft gearbeitet hat. Zum andern - und das ist weitaus
wichtiger - indem man das Patientenschicksal in dem Sinne zu wenden versuchte,
daß die Patientin zur Protago-
mistin wurde; der Versuch also, das versteckte Elend durch das offene Elend zu provozieren. So sind zu den Stadtteilfesten in Roiano und Gretta im September 1977 Lieder vorgetragen worden, in denen das Schicksal der Frau von fünfzig Jahren und insbesondere das Schicksal von Maria Staritz vorgetragen wur-[>136]den. Maria war eine >Nervensägc<. Sie kam aus Istrien, mit allen Hoffnungen, und fand sich im Subproletariat wieder. Periodisch trank sie und war dann kaum zu bändigen. Sie wurde oft gehaßt, die Achtung aber verlor man vor ihr nie, denn jeder verstand ihre Geschichte. |
Die Sozialisierung des
Leidens und damit die Überwindung der Isolation erscheint als ureigenes
Prinzip, daß seine entsprechenden professionellen Wurzeln in der
Gruppentherapie (Yalom 1974),
im Psychodrama (Morneo) der humanistischen
Psychologie und in der Katharsisidee des Theaters aber auch in der
traditionellen Seelsorge und der ganz normalen zwischen- menschlichen Anteilnahme
hat: Geteiltes Leid ist halbes Leid gewisser Weise wird dieses Prinzip
durch Krankenorte, an denen mehrere Kranke zusammen kommen und sich begegnen
gefördert.
Die Sozialisierung des Leidens dient darüberhinaus dem Verstehen eines Menschen, das, nach Hartung, die Achtung vor ihm fördert, wie immer er sich auch gelegentlich aufführen mag. Wer die Geschichte eines Menschen kennt, kann ihn verstehen und achten. Aus allgemeiner und integrativer Perspektive werden hier die psychologischen Heilmittel Gemeinschaft, Öffentlichkeit, Anteilnahme, Ausdruck (Katharsis), Spiegelung, Verständnis und Achtung hervorgehoben. Die Bedeutung der sozialen Isolierung und die Forderung nach ihrer Überwindung wurd von der deutschen Psychiatrie bereits 1973 massiv erhoben (Wieser 1972-73). |
-potere
contrattuale Verhandlungsfähigkeit, öffentliche
Macht): Das hauptsächliche Leiden ist das Leiden an der Machtlosigkeit.
Man weiß es ja, die Paranoia der Mächtigen war Feldzeichen
ihrer Herrschaft, nur die ohnmächtigen blieben geisteskrank. Wenn es in Triest für die psychiatrische Intervention ein Krite- rium gibt, dann dieses: inwieweit die öffentliche Position des Patienten dadurch gestärkt wird. Im Kapitel über die Sozialfürsorge werde ich darüber mehr sagen." |
Macht als Heilmittel ist in der Tat eine kühne Idee, die eine gründlichen Analyse verdiente. Es gibt natürlich sehr viele offen und verdeckt, meist partiell geistesgestörte Herrscher und PolitikerInnen: Die seit 35 Jahren wütende hemmungslose Staatsverschuldung zeigt sehr klar, daß das fast alle Politiker partielle Geschäftsunfähigkeit zeigen. Aber sie leiden nicht. Und da es fast alle tun, gilt es als normal. Ludwig II. wurde deshalb entmündigt und ermordet. Im 3. Reich schrien sie Heil, seit 35 Jahren heißt die Fehlhaltung Schulden über alles - immerhin auch ein Wachstum. |
Ausgestrahlt
im Radio Bremen (Spätprogramm) im April und Mai 1972, Buchveröffentlichung
1973. Am 23.6. erfolgte der Beschluss des Bundestages,
die Regierung mit der Organisation Psychiatirie Enquete zu beauftragen,
die ebenfalls 1973 veröffentlicht wurde.