Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=19.06.2003 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TT.MM.JJ
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel   Stubenlohstr. 20   D-91052 Erlangen
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    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Medizinische Psychosomatik, Psychopathologie und Psychiatrie, Bereich Antipsychiatrische, und hier speziell zum Thema:

    Die neuen Kleider der Psychiatrie
    Hans Hartungs Aufzeichnungen vom antiinstituionellen Kampf  zum Kleinkrieg gegen die Misere. Berichte aus Triest (Basaglia-Projekt).

    dokumentiert von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Titel und Umschlag * Inhaltsverzeichnis * Abschaffung der Therapie? * Querverweise

    Inhaltsverzeichnis


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    "Was tritt an die Stelle der Therapie ?               Kommentar RS
     
    Was an die Stelle von Therapie tritt, läßt sich natürlich für Triest nur aus der Analyse der gesamten Praxis beantworten. Eine Antwort versucht dieses Buch. Dennoch lassen sich Momente in der Auseinandersetzung zwischen Mitarbeitern und Benutzern herausarbeiten, in denen sich Probleme niederschlagen, für die anderswo die therapeutische Antwort bereitgestellt wird. Ich werde mich hier mit drei formelhaften Prinzipien der Praxis beschäftigen.
    Diese Formulierungen erinnern an die Abschaffung der Therapie, die Masson ausgelöst durch Freud'sche Fehlleistungen forderte, an deren Stelle nicht professionelle zwischenmenschliche Beziehungen treten sollen. Das ist im Grunde in der Selbsthilfe-, Wohn- und Lebensprojektbewegung teilweise umgesetzt worden. Als allgemeines und grundsätzliches Prinzip ist es sicher falsch und geht z.B. auch über das Villa 21 (Laing, Cooper) hinaus. 

     
    - affettività (schwer übersetzbar: Affektivität zielt im deutschen Sprachgebrauch ein bißchen auf >affektives Klima, und Gefühl ist in unserer Sprache immer vom Denken getrennt): Daß die 
    Beziehungen zwischen Benutzern und Mitarbeitern von der affettività bestinrmt sein sollen, will im Grunde nur sagen, daß diese Beziehungen nicht professionalisiert werden dürfen, daß ich, wenn ich mit einem Benutzer etwas unternehme, auch wirklich wollen muß. Anders herum: daß es auch richtig ist, Abwehr, Desinteresse zu zeigen. Der Patient darf nicht wie ein rohes Ei behandelt werden. Er ist ein Mensch mit gleichen Rechten, also hat er auch ein Anrecht, daß ihm gezeigt wird, woran er ist. Ich will das nicht weiter ausmalen, sonst könnte das als neuer Knigge 
    gegenüber Patienten mißverstanden werden. Es handelt sich auch nicht um das Prinzip der guten oder schlechten Laune, sondern um ein im Kern analytisches Prinzip, nach dem ermittelt werden soll, warum Beziehungen stecken bleiben.
    Dieses Prinzip erinnert an die sozialpsychologischen Heilmittel Echtheit oder Authentizität, die in der klientenzentrierten Psychotherapie (Gesprächspsychotherapie nach Rogers) eine besondere Rolle spielen: die TherapeutIn muß aufrichtig sein. Echtheit wird hier also zu einem - angeblich unprofessionellen - Heilmittel erklärt. 

    Die Bedeutung der Echtheit wird durch die - freilich umstrittene - Meta-Analyse  von Grawe in Frage gestellt (1994, S. 138); auch Sponsel 1995, S. 392.
     
     
     
     
     
     
     
     
     

     


     
    - soeializzazione della sofferenza (Sozialisierung des Leidens): Zunächst wird damit die Einsicht formuliert, daß nicht die seelische Krise als solche ein psychiatrisches Prinzip ist, sondern ihre soziale Isolation. Insbesondere in Barcola hat man versucht, unter dieser Maxime zu arbeiten, zumal dort unter den neuen Patienten die Figur der >depressiven Frau< zunahm. Dies geschah, indem Gruppen gebildet wurden, aus denen die Idee der Handarbeitsboutique entstand, einer Kooperative, die allerdings nicht gerade glückhaft gearbeitet hat. Zum andern - und das ist weitaus wichtiger - indem man das Patientenschicksal in dem Sinne zu wenden versuchte, daß die Patientin zur Protago-
    mistin wurde; der Versuch also, das versteckte Elend durch das offene Elend zu provozieren. So sind zu den Stadtteilfesten in Roiano und Gretta im September 1977 Lieder vorgetragen worden, in denen das Schicksal der Frau von fünfzig Jahren und insbesondere das Schicksal von Maria Staritz vorgetragen wur-[>136]den. Maria war eine >Nervensägc<. Sie kam aus Istrien, mit allen Hoffnungen, und fand sich im Subproletariat wieder. Periodisch trank sie und war dann kaum zu bändigen. Sie wurde oft gehaßt, die Achtung aber verlor man vor ihr nie, denn jeder verstand ihre 
    Geschichte.
    Die Sozialisierung des Leidens und damit die Überwindung der Isolation erscheint als ureigenes Prinzip, daß seine entsprechenden professionellen Wurzeln in der Gruppentherapie (Yalom 1974), im Psychodrama (Morneo) der humanistischen Psychologie und in der Katharsisidee des Theaters aber auch in der traditionellen Seelsorge und der ganz normalen zwischen- menschlichen Anteilnahme hat: Geteiltes Leid ist halbes Leid gewisser Weise wird dieses Prinzip durch Krankenorte, an denen mehrere Kranke zusammen kommen und sich begegnen gefördert. 
        Die Sozialisierung des Leidens dient darüberhinaus dem Verstehen eines Menschen, das, nach Hartung, die Achtung vor ihm fördert, wie immer er sich auch gelegentlich aufführen mag. Wer die Geschichte eines Menschen kennt, kann ihn verstehen und achten. 
         Aus allgemeiner und integrativer Perspektive werden hier die psychologischen Heilmittel Gemeinschaft, Öffentlichkeit, Anteilnahme, Ausdruck (Katharsis), Spiegelung, Verständnis  und Achtung hervorgehoben. 
        Die Bedeutung der sozialen Isolierung und die Forderung nach ihrer Überwindung wurd von der deutschen Psychiatrie bereits 1973 massiv erhoben (Wieser 1972-73). 
    -potere contrattuale Verhandlungsfähigkeit, öffentliche Macht): Das hauptsächliche Leiden ist das Leiden an der Machtlosigkeit. Man weiß es ja, die Paranoia der Mächtigen war Feldzeichen 
    ihrer Herrschaft, nur die ohnmächtigen blieben geisteskrank. Wenn es in Triest für die psychiatrische Intervention ein Krite-
    rium gibt, dann dieses: inwieweit die öffentliche Position des Patienten dadurch gestärkt wird. Im Kapitel über die Sozialfürsorge werde ich darüber mehr sagen."
    Macht als Heilmittel ist in der Tat eine kühne Idee, die eine gründlichen Analyse verdiente. Es gibt natürlich sehr viele offen und verdeckt, meist partiell geistesgestörte Herrscher und PolitikerInnen: Die seit 35 Jahren wütende hemmungslose Staatsverschuldung zeigt sehr klar, daß das fast alle Politiker partielle  Geschäftsunfähigkeit zeigen. Aber sie leiden nicht. Und da es fast alle tun, gilt es als normal. Ludwig II. wurde deshalb entmündigt und ermordet. Im 3. Reich schrien sie Heil, seit 35 Jahren heißt die Fehlhaltung Schulden über alles - immerhin auch ein Wachstum. 



    Yalom, Irvin D. (dtr. 1974, engl. 1970). Gruppenpsychotherapie. Grundlagen und Methoden. Ein Handbuch. München: Kindler.
        Insgesamt arbeitet Yalom 10 Heilfaktoren heraus (S. 21): 1. Miteilung von Informationen. 2. Einflößen von Hoffnung. 3. Universalität des Leidens. 4. Altruismus. 5. Die korrigierende Rekapitulation der primären Familiengruppe. 6. Entwicklung von Techniken des zwischenmenschlichen Umgangs. 7. Imitationsverhlten. 8. Interpersonales Lernen. 9. Gruppenkohäsion.  10. Katharsis.
        Speziell zur Universalität des Leidens führt Yalom uas (S. 26) aus: "Universalität des Leidens. Viele Patienten beginnen die Behandlung mit dem Gefühl, sie seien in ihrem Elend einzigartig, nur sie allein hätten bestimmte erschreckende oder ungehörige Probleme, Gedanken, Impulse und Phantasien. Darin liegt ein Körnchen Wahrheit, da viele Patienten unter einer ungewöhnlichen Konstellation von Lebensbelastungen zu leiden haben und alle Tage von meist unbewußten psychischen Elementen überschwemmt werden. Ihr Gefühl der Einzigartigkeit wird oft durch ihre soziale Isolierung verstärkt; wegen interpersonaler Schwierigkeiten haben Patienten oft keine Gelegenheit, ihre Lage in einer intimen Beziehung aufrichtig und freimütig in wechselseitigem Einverständnis zu überprufen. In der Therapiegruppe, besonders in den Anfangsstadien, bringt die Entkräftung ihrer Gefühle der Einzigartigkeit große Erleichterung. Nachdem sie gehört haben, wie andere Gruppenmitglieder Probleme enthüllen, die ihren eigenen gleichen, berichten manche Patienten, sie fühlten sich mehr im Kontakt mit der Welt, und beschreiben den Vorgang als »Aufnahme in die menschliche Gesellschaft«. Das Phänomen kommt zum Ausdruck in der Redensart »Wir sitzen alle im gleichen Boot« oder vielleicht, zynischer, »Not liebt Gesellschaft«. Diese Form der Hilfe beschränkt sich nicht auf die Gruppentherapie. Die Universalität des Leidens spielt auch in der Einzeltherapie eine Rolle, obwohl dort weniger Gelegenheit für eine Überprüfung im wechselseitigen Einverständnis besteht."

    Ausgestrahlt im Radio Bremen (Spätprogramm) im April und Mai 1972, Buchveröffentlichung 1973. Am 23.6. erfolgte der Beschluss des Bundestages, die Regierung mit der Organisation Psychiatirie Enquete zu beauftragen, die ebenfalls 1973 veröffentlicht wurde.


    Querverweise
    Antipsychiatrie, Glossar, Dokumentation und Kritik der Kritiker. Was bedeutet Antipsychiatrie und wie ist sie zu bewerten? * Querverweise da
    Überblick Gesundheitspolitik und Medizinkritik in der IP-GIPT
    Überblick und Kritik der Metaphysik, Religion, Sekten, Ideologie und Weltanschauung
    Überblick Psychopathologie und Psychiatrie in der IP-GIPT


    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Die neuen Kleider der Psychiatrie. Hans Hartungs Aufzeichnungen vom antiinstituionellen Kampf  zum Kleinkrieg gegen die Misere. Berichte aus Triest (Basaglia-Projekt). Mit einer speziellen Auseinandersetzung zur Forderung nach Abschaffung der Psychotherapie. Aus unserer Abteilung Medizinische Psychosomatik, Psychopathologie und Psychiatrie.  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/medppp/araf/araf_v.htm
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