Internet
Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPT DAS=03.12.2017
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 06.12.17
Impressum:
Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel
Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
Mail:
sekretariat@sgipt.org_
Zitierung
& .Copyright
Anfang_
Niedrige
Beweggründe in Gesellschaft, Recht und Leben_
Überblick_
Rel.
Aktuelles_ Rel.
Beständiges _ Titelblatt_
Konzeption_
Archiv_
Region_
Service_iec-verlag
_ _Wichtige
Hinweise zu Links und Empfehlungen
Willkommen in unserer Internet-Publikation
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Forensische
Psychologie, Kriminologie, Recht und Strafe, Bereich Niedrige Beweggründe,
und hier speziell zum Thema:
Niedrige Beweggründe
in Gesellschaft, Recht und Leben
mit einer Konstruktionsidee
für eine Skalierung niedriger Beweggründe
und einer Erörterung am Beispiel Günther
Beckstein im Fall Ulvi Kulac
Ein Beitrag zur Reform der Tötungsdelikte
Originalarbeit von Rudolf
Sponsel, Erlangen
_
Einfuehrung
in das Thema niedrige Beweggründe
Niedrige Beweggründe spielen für die Feststellung
eines Mordes in Abgrenzung zu einer Tötung im Strafrecht seit Jahrzehnten
eine wichtige Rolle. Im Wesentlichen sind damit verachtenswerte und verabscheuungswürdige
Motive gemeint. Aber niedrige Beweggründe finden sich natürlich
auch im ganz normalen Alltagsleben, in Wirtschaft und Gesellschaft und
in allen Schichten und leider nicht zu knapp. Ja, sie finden sich sogar
im Rechtswesen auf der sog. anderen Seite, bei Regierungsmitgliedern, RichterInnen,
StaatsanwältInnen, Polizei, Sachverständigen, Justiz- und StaatsbeamtInnen,
so dass man sich manchmal fragen mag: wo sitzen nun eigentlich die übleren
Kriminellen? Allerdings gilt Staatskriminalität weitgehend als Tabuthema,
das ich mit dieser Arbeit erneut - wie schon
hier
- durchbrechen möchte, im Wesentlichen an der Beispielerörterung
des (ehemaligen) bayerischen Innenministers Günther Beckstein im Fall
Peggy / Ulvi Kulac. Doch zunächst möchte ich mich mit dem Thema
niedrige
Beweggründe und dem Mordstraftatbestand aus forensisch-psychologisch-psychopathologischer
Sicht beschäftigen.
Mord § 211
StGB
"(1) Der Mörder wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft.
(2) Mörder ist, wer
aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs,
aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen,
heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen
Mitteln oder
um eine andere Straftat zu ermöglichen oder
zu verdecken,
einen Menschen tötet."
Zur Abgrenzung Totschlag § 212
StGB
"(1) Wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird
als Totschläger mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft.
(2) In besonders schweren Fällen ist auf lebenslange Freiheitsstrafe
zu erkennen."
Zur Geschichte des Mordparagraphen
"Ihren Ursprung nehmen viele der Schwierigkeiten, die wir mit der geltenden
Fassung der Tötungsdelikte haben, nämlich in der zweifelhaften
Historie. Die heutigen §§ 211, 212 des StGB stammen im Wesentlichen
aus dem Jahr 1941. Maßgeblicher Autor war einer der furchtbarsten
Juristen nicht nur dieser Zeit: Roland Freisler. Der berüchtigte Präsident
des so genannten Volksgerichtshofes war zuvor als Staatssekretär im
Reichsjustizministerium an der Gesetzgebung beteiligt. Die Struktur der
Norm mit der Einleitung „Mörder ist“ und der Begriff der „niedrigen
Beweggründe“ stammen aus dieser Zeit. Der Mordparagraf passte zur
Strafrechtsideologie der Nazis. Strafe – so die furchtbare Sprache jener
Zeit – habe auch das Ziel, „durch Ausmerzung ungeeigneter Elemente die
rassemäßige Zusammensetzung des Volkes zu heben“. Aus diesem
Grund operierte das Strafrecht nicht mit konkreten Tatbeständen, sondern
mit Tätertypen. Das Strafrecht wurde zum Einfallstor der Willkür.
Rechtsklarheit, die wir brauchen, war gerade nicht gewünscht"
Quelle: Bericht Expertengruppe zur
Reform der Tötungsdelikte (2015), S. 1.
Aktuelle Diskussionen um den
Mordstraftatbestand
Der Bericht der Expertengruppe
"Reform der Tötungsdelikte" vom 29.06.2015
Hierzu informiert das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
(bmjv) am 29.06.2015:
"Die Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte
wurde im Mai 2014 durch den Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz
Heiko Maas eingesetzt. Sie hatte den Auftrag, begründete Empfehlungen
für eine möglichst noch in dieser Legislaturperiode zu realisierende
Reform der Tötungsdelikte abzugeben. Dabei sollte zunächst der
bestehende Reformbedarf anhand der bisherigen rechtspolitischen Diskussion
herausgearbeitet und in einem zweiten Schritt Lösungsmöglichkeiten
hierzu aufgezeigt werden.
Die Expertengruppe hat insgesamt zehn Sitzungen
durchgeführt, nämlich am 20. Mai, 2. Juli, 20. August, 8. Oktober
und 26. November 2014 sowie am 7. Januar, 18./19. Februar, 18./19. März,
22./23. April und 29. Juni 2015.
Der nunmehr übergebene Abschlussbericht der
Expertengruppe soll eine umfassende Grundlage für die nachfolgende
rechtspolitische Diskussion und Entscheidung darstellen; die Ausarbeitung
eines einstimmig oder zumindest von einer Mehrheit getragenen Formulierungsvorschlages
gehörte deshalb nicht zum Auftrag der Experten.
„"Ich bin den Experten sehr dankbar für ihre
Arbeit und den nun vorgelegten Abschlussbericht, der viele gute und hilfreiche
Empfehlungen für unsere weitere Arbeit beinhaltet. Wir werden uns
die unterschiedlichen Vorschläge zu den einzelnen Themenfelder sehr
sorgsam ansehen und prüfen, welchen Weg wir bei der Reform einschlagen
werden."
"Die Tötungsdelikte des Strafgesetzbuchs sind
historisch schwer belastet. Der Mordparagraph ist bis heute vom Ungeist
der Nazi-Ideologie geprägt. Wir wollen ein modernes Recht, das frei
ist von der Sprache der Nazis; die Empfehlungen zum Reformbedarf bei der
jetzigen Terminologie, die auf einen Tätertypus zielt, nehmen wir
daher dankbar auf. Es geht darum, der Rechtsprechung Gesetze an die Hand
zu geben, aus denen heraus gerechte Urteile im Einzelfall möglich
sind – und nicht wie bislang gerechte Urteile den Gesetzen auf Umwegen
abgetrotzt werden müssen."
"Es geht nicht darum, künftig denjenigen, der
einen anderen Menschen tötet, milder zu bestrafen. Klar ist: Durch
das Urteil „lebenslang“ kommt der vollumfängliche Schutz, den das
Recht und auch die Gesellschaft dem menschlichen Leben beimessen, deutlich
zum Ausdruck. Daher muss auch künftig für höchststrafwürdiges
Unrecht die herausgehobene Rechtsfolge „lebenslang“ erhalten bleiben. An
diesem Prinzip werden wir nicht rütteln – und so sieht das ja auch
die große Mehrheit der Experten. Wir werden jetzt die Empfehlungen
der Kommission genau prüfen und einen Gesetzentwurf erarbeiten."“
"Die wesentlichen Ergebnisse im
Überblick
-
Die rechtspolitische Entscheidung, ob bei der anstehenden Reform der Tötungsdelikte
eine (bezogen auf die Grundkonzeption) „kleine“ oder „große“ Lösung
gewählt wird, ist nach Auffassung der Expertengruppe von der Beantwortung
der Vorfrage abhängig,
a. ob die Grundkonzeption der Tötungsdelikte mit ihrer Differenzierung
zwischen Mord und Totschlag, die der Vielgestaltigkeit der Erscheinungsformen
vorsätzlicher Tötungen geschuldet ist, dem Rechtsgut Leben die
ihm gebührende Bedeutung zumesse, oder
b. ob dies besser mit dem als Privilegierungsmodell bezeichneten Reformvorschlag
gewährleistet werde, das auf eine entsprechende Differenzierung verzichtet
und die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe bereits ermöglicht,
wenn eine vorsätzliche Tötung vorliegt und täterbegünstigende
Aspekte nicht vorhanden sind.
-
Grundsätzlich wurde die Beibehaltung der lebenslangen Freiheitsstrafe
befürwortet. Mit großer Mehrheit sah die Expertengruppe indessen
Reformbedarf im Hinblick auf die Auflösung des Exklusivitäts-Absolutheits-Mechanismus.
-
Weiteren Reformbedarf erkannte die Expertengruppe einhellig hinsichtlich
der auf einen Tätertyp zielenden Terminologie sowie mehrheitlich bei
einzelnen Mordmerkmalen, insbesondere wurde das Mordmerkmal der Heimtücke
einerseits als zu eng, andererseits als zu weit empfunden.
-
Dem von der Expertengruppe mehrheitlich erkannten Reformbedarf kann sowohl
mit einer „kleinen“ als auch mit einer „großen“ konzeptionellen Lösung
Rechnung getragen werden.
-
Zur rechtspolitischen Frage, wie weitgehend der Exklusivitäts-Absolutheits-Mechanismus
inhaltlich aufgelöst werden soll, vertraten die Experten unterschiedliche
Meinungen. Neben der Beibehaltung der Rechtsfolgenlösung des Bundesgerichtshofs
und der ihr nahekommenden, von der Mehrheit getragenen Auffassung, wonach
für den Fall erheblich herabgesetzten Unrechts oder erheblich herabgesetzter
Schuld eine zeitige Freiheitsstrafe angedroht werden solle, wurden auch
weitergehende Auffassungen vertreten (Strafzumessungsregelung für
minder schwere Fälle, fakultative Androhung zeitiger neben lebenslanger
Freiheitsstrafe, Ersetzung der Mordmerkmale durch Regelbeispiele für
besonders schwere Fälle).
-
Mehrheitlich votierten die Experten für die Beibehaltung der Schuldschwereklausel
in § 57a Absatz 1 Satz 1 Nummer 2 StGB und schlugen nur wenige – zum
Teil verfahrensmäßige – Änderungen vor.
-
Mehrheitlich hielten die Experten die grundsätzliche Beibehaltung
einer dem § 213 StGB entsprechenden Regelung für minder schwere
Fälle des Grundtatbestandes der vorsätzlichen Tötung für
erforderlich, sprachen sich aber für die Heraufsetzung der Mindeststrafe
auf zwei Jahre Freiheitsstrafe aus.
-
Die Experten befürworteten mehrheitlich Folgeänderungen für
Schwurgerichtssachen, nämlich eine Pflicht zur audio-visuellen Dokumentation
der Beschuldigtenvernehmung und eine stärkere Partizipation des Verteidigers.
Von einer – wenn auch knappen – Mehrheit der Experten wurde hingegen der
Vorschlag abgelehnt, in Schwurgerichtsverhandlungen eine Zweiteilung mittels
eines Tatinterlokuts vorzunehmen."
Motive und niedrige Beweggründe im
Expertenbericht
4-4 erörtert eine Motivgeneralklausel (S. 35) und 4-5.
Ergänzung
der Mordmerkmale durch weitere normierte niedrige Beweggründe
(S. 37).
S. 3: "Die rechtliche Einordnung einer enttäuschten Liebe ist aber
viel schwieriger. Ist ein Mann, der seine Frau tötet, weil sie ihn
verlässt, ein Mörder, weil er aus niedrigen Beweggründen
handelt? Die Rechtsprechung differenziert hier danach, ob der Mann eher
aus Verzweiflung handelt oder eher aus Wut. Nur die Wut hält sie für
besonders verachtenswert, die Verzweiflung in der Regel nicht.
Das mag eine taugliche Abgrenzung sein, aber diese
Unterscheidung können die Gerichte dem Gesetz so nicht entnehmen.
Es ist unbefriedigend, dass gerade bei den höchsten Rechtsgütern
und schwersten Strafen das geltende Recht nicht präzise ist. Problematisch
ist dabei nicht so sehr die Kasuistik an sich. Problematisch ist, dass
die Persönlichkeit des Täters oft schon für die Feststellung
des Tatbestands den Ausschlag gibt, und zwar nach außerrechtlichen
Kriterien. Eifersucht, Ehrgefühl oder Eigennutz können verständliche
oder niedrigstehende Regungen sein. Die gesetzlichen Vorgaben sind hier
viel zu schwammig. 65 Jahre Rechtsprechung zu den „niedrigen Beweggründen“
verdeutlichen, wie sehr es hier auch auf den Zeitgeist ankommt, und das
halten wir für problematisch."
Psychologische
Ueberlegungen zur Konstruktion und Rechtfertigung niedriger Beweggründe
Niedrige Beweggründe sind eine drastische moralische Wertung
und betreffen eine Gesellschaft und ein Volk im Ganzen. Daher ist es ethisch,
politisch und wissenschaftlich nicht vertretbar, solche Wertungen ausschließlich
RichterInnen ohne jede soziokulturelle empirisch-statistische
Fundierung zu überlassen. Für die Feststellung der Niedrigkeit
der Beweggründe sind also Verfahren zu überlegen, die geeignet
sind, ein methodisch solides und an den gesellschaftlichen Wandel anpassungsfähiges
Fundament zu erstellen, das beispielsweise alle 25 Jahre durch eine repräsentative
Erhebung kontrolliert, überarbeitet und neu evaluiert werden kann.
Hierzu im Folgenden ein paar Überlegungen (brainstorming) für
die Diskussion.
Konstruktion einer Skala für niedrige
Beweggruende beim Toeten
Die Klassifikation oder genauer, die Bewertung von Motiven nach ihrer
moralischen Verabscheuungswürdigkeit könnte etwa so erfolgen:
Man gibt Tötungen mit einer Reihe von Ausführungsmerkmalen mit
einer Abscheuskala z.B. von 0-10 vor und befragt eine repräsentative
Stichprobe nach ihrer Beurteilung. Sodann bestimmt man die statistischen
Kennwerte der Beurteilungen. Ob Merkmale wichtig und zu berücksichtigen
sind, kann auch über statistische Kennzahlen näher bestimmt werden.
> Beispiele mit 100 Vpn, 10 Merkmalen, Skalenbereich
0-10.
-
Ausgeliefert sein beim Sterben
-
Bewusstheit beim Sterben
-
Dauer des Sterbens
-
Leiden oder Qual beim Sterben
-
Hilf- und Wehrlosigkeit beim getötet werden
-
Methode des Tötens
-
Motivation des Tötens
-
Nutzen / Vorteile des Tötens
-
Schaden der Angehörigen des Getöteten
Konstruktion einer Skala für niedrige
Beweggruende beim Schaden zufuegen
-
Ausgeliefert sein beim Schaden erleiden
-
Bewusstheit beim Schaden erleiden
-
Dauer des Schaden erleidens
-
Leiden oder Qual beim Schaden erleiden
-
Hilf- und Wehrlosigkeit beim Schaden erleiden
-
Methode des Schaden zufügens
-
Motivation des Schaden zufügens
-
Nutzen / Vorteile durch den Schaden zufügen
-
Schaden der Angehörigen des Geschädigten
Konstruktion einer Allgemeinen
Skala für niedrige Beweggruende
Die Frage ist hier, welche Handlungsformen gelten allgemein überwiegend
als verabscheuungswürdig?
-
Haushohe Überlegenheit ausnutzen (Verstoß gegen das Fairneßgebot)
-
In eine Falle, einen Hinterhalt locken
-
Hinterlistig, aus dem Verborgenen heraus handeln
-
Lügen, um zu schaden und einen Vorteil zu erlangen
-
Hass, Rache, Aggressivität hemmungslos ausleben (Gebot der Verhältnismäßigkeit
missachten)
-
...
-
...
-
...
Mordurteil am 30.04.2004
über Ulvi Kulac Landgericht Hof 1 XLs 22 Js 12451/01 jug.
"Fall B V.5.:
Im Fall B V.5. hat sich der Angeklagte des Mordes gemäß
§ 211 StGB schuldig gemacht. Er hat Peggy Knobloch im Sinne des §
211 Abs. 2 StGB vorsätzlich getötet, um eine andere Straftat,
nämlich den am 03.05.2001 an Peggy Knob1och begangenen sexuellen Missbrauch
von Kindern in zwei tateinheitlichen Fällen, zu verdecken.
Dabei steht es der Annahme der Verdeckungsabsicht nicht entgegen, dass
sich der Angeklagte nicht der Strafverfolgung, sondern lediglich handfester
Konsequenzen seitens des Stiefvaters von Peggy Knobloch entziehen wollte.
Es ist nicht erforderlich, dass sich der Täter gerade einer Strafverfolgung
entziehen will. Ausreichend ist auch die Vermeidung außerstrafrechtlicher
Konsequenzen der zu verdeckenden Tat (vgl. Tröndle/Fischer, StGB,
52. Aufl., § 211 RdNr. 29 a m.w.N.).
Der Annahme des Mordmerkmals "um eine andere Straftat zu verdecken"
steht auch nicht entgegen, dass der Angeklagte den sexuellen Missbrauch
von Kindern in zwei tateinheitlichen Fällen am 03.05.2001 mangels
Schuldfähigkeit, § 20 StGB, ohne Schuld beging. Die zu verdeckende
Straftat muss sich im objektiven und subjektiven Tatbestand als Vergehen,
was vorliegend der Fall war, oder Verbrechen im Sinne des § 12 StGB
darstellen."
Dass die Kontrolle von Urteilen im Revisionsverfahren
nicht funktioniert, hat eindrucksvoll der BGH bewiesen: |
Das Mordurteil wurde in der Revision
durch den BGH bestätigt
1 StR 502/04 - Beschluss vom 25. Januar 2005 (LG Hof)
"Gründe
1. Die Revision ist unbegründet, da die Nachprüfung des Urteils
aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen
Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben hat (§ 349 Abs.
2 StPO). Die Beweiswürdigung, insbesondere die
Würdigung des Geständnisses des Angeklagten, ist rechtsfehlerfrei.
Auch die Einholung eines Sachverständigengutachtens
zur Beurteilung der Aussagefähigkeit des Angeklagten und der Glaubhaftigkeit
seiner Aussagen ist rechtsfehlerfrei. Zwar
gehört die Beurteilung der Zuverlässigkeit einer Auskunftsperson,
zumal des Angeklagten, zum Wesen richterlicher
Rechtsfindung. Vom Richter wird erwartet, daß er über die
zur Ausübung seines Amtes erforderliche Menschenkenntnis
und Fähigkeit verfügt, Aussagen auf ihren Wahrheitsgehalt
zu prüfen. Der Hinzuziehung eines Sachverständigen kann es,
und zwar auch hinsichtlich der Aussagen des Angeklagten, aber dann
bedürfen, wenn die Eigenart des Einzelfalles eine
außergewöhnliche Sachkunde erfordert (vgl. BGH NStZ 1987,
182). Auch soweit hiervon der Angeklagte betroffen ist,
stehen der Hinzuziehung eines Sachverständigen, jedenfalls wenn
der Angeklagte umfassende Angaben gemacht hat, keine
strafverfahrensrechtlichen Hinderungsgründe entgegen. DasGericht
ist jedenfalls nicht gehindert (§ 244 Abs. 2 StPO), sich
insoweit sachverständiger Hilfe zu bedienen.
Hier bestand bei dem Angeklagten eine Minderbegabung mit psychosozialer
und psychosexueller Retardierung. Seine
im Ermittlungsverfahren abgegebenen Geständnisse hat er in der
Hauptverhandlung widerrufen. Um die Glaubhaftigkeit
der Geständnisse bzw. des Widerrufs und der Angaben in der Hauptverhandlung
verläßlich prüfen zu können, war der
Einsatz sachverständiger Hilfe sachgerecht."
Der Freispruch im Wiederaufnahmeverfahren
Das Wiederaufnahmeverfahren wurde vielfältig dokumentiert.
Die Staatsanwaltschaft beantragt nach einer Presserklärung
vom 13.05.2014 Freispruch, der am 14.05.2014 erfolgt.
Die Rolle von Innenminister Beckstein
für das Mordurteil gegen Ulvi Kulac
Die Rolle Günther Becksteins wird in Jung & Lemmer (2013)
im 11. Kapitel, Der Minister greift ein, S. 109-112, kritisch
beleuchtet. Nach dieser Darstellung wollte der Minister unbedingt einen
Erfolg, und hierzu zog er gegen den schlecht verteidigten und damit weitgehend
hilf- und wehrlos ausgelieferten geistig behinderten Ulvi Kulac alle Register.
Er scheute nicht davor zurück, die Reid-Methode,
aus aussagepsychologischer Sicht mit §
136a StPO (Verbotene Vernehmungsmethoden; Beweisverwertungsverbote)
unvereinbar, in Bayern von 2001 bis 2003 einzuführen und einem ehrgeizig-schneidigen
neuen Kriminalisten die Leitung der Soko II zu übertragen.
Was war Becksteins Motiv? Wenn ein Repräsentant
des Rechtsstaats zweifelhafte Methoden einführt, um einen Beschuldigten
überführen zu können, dann geht es nicht mehr um das Recht,
das hier gebrochen wird, sondern um höchst eigennützige und persönliche
politische Motive (2003 Landtagswahl). Damit sind wir womöglich nahe
bei den niedrigen Beweggründen angelangt, gerade auch weil
es
sich um einen Repräsentanten des Rechtsstaates handelt. Wenn Politik,
Staatsanwälte, Polizei, Richter und Sachverständige so gegen
einen weitgehend hilf- und wehrlosen geistig Behinderten vorgehen, dann
ist etwas oberfaul im Staate Bayern. Sollten hier etwa niedrige Beweggründe
am Werk gewesen sein? Das mag jeder für sich selbst entscheiden.
Literatur (Auswahl)
> Allgemeine
Literaturliste zum Bösen.
-
Beck, Maren (2016) Die Heimtücke – ein unzeitgemäßes
und moralisierendes Mordmerkmal Unter Berücksichtigung des Abschlussberichts
der von Justizminister Heiko Maas eingesetzten Expertenkommission. ZIS
1/2016, 10-18.
-
DAV (2014) SN 01/14: Reform der Tötungsdelikte Mord und Totschlag;
§§ 211, 212, 213 StGB Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins
durch den Ausschuss Strafrecht zur Reform der Tötungsdelikte Mord
und Totschlag; §§ 211, 212, 213 StGB
-
Dessecker,Axel (2016) Die Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen
Dauer und Gründe der Beendigung im Jahr 2014. Wiesbaden: BM-Online
Elektronische Schriftenreihe der KrimZ Band 5.
-
Dölling, Dieter (2015) Zur Anwendung der Mordmerkmale
in der Strafrechtspraxis. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie
(2015)
-
Eisenberg, Ulrich (2011) III. Verbotene Vernehmungsmethoden. In:
Zweiter Teil. Beschuldigter,
Eisenberg,
StPO, 7. Auflage 2011, beck-online.
-
Eisenberg, Ulrich (2013) Ausfall revisionsgerichtlicher
Kontrolle. Editorial. Juristische Arbeitsblätter, 10. [Online]
-
Eisenberg, Ulrich (2013) Geständnis und Widerruf,
dargestellt anhand eines Einzelfalls. Juristische Arbeitsblätter 11,
860-865.
-
Eser, Albin (2014) Neue Impulse zur Reform der Tötungsdelikte
Würdigung des DAV-Entwurfs – ein-, zwei- oder dreistufige Regelungsmodelle
im Vergleich. Anwaltsblatt 2014, Heft 11, S. 877 - 882
-
Expertengruppe (29.06.2015) Reform der Tötungsdelikte. (900 Seiten
als pdf Online)
-
Grünewald, Anette (2016) Reform der Tötungsdelikte Plädoyer
für ein Privilegierungskonzept. Tübingen: Mohr Siebeck.
-
Helmers, Gunnar (2016) Zum Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe (§
211 Abs. 2 StGB) Der Maßstab der Bewertung; zugleich ein Vorschlag
zur geplanten Reform des Mordtatbestands. HRRS Februar 2016 (2/2016),
90-101.
-
Höhne, Michael (2014) Die Reform der vorsätzlichen Tötungsdelikte.Warum
ist sie bisher gescheitert und wie könnte sie aussehen? in: KJ Kritische
Justiz 47, 3, 283 - 297.
-
Ignor, Alexander (2015) Reform der Tötungsdelikte Lange gefordert,
endlich begonnen. Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2015) 9:236–244.
Kinzig, Jörg (2015) Neue empirische Befunde zur Sanktionierung
der Tötungsdelikte Unter besonderer Berücksichtigung der Anordnung
und Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe. Forens Psychiatr Psychol
Kriminol (2015) 9:198–210
-
Kröber, Hans-Ludwig (2015) Die Mordmerkmale aus forensisch-psychiatrischer
Sicht. Forensische Psychiatrie, Psychologie, Kriminologie, November 2015,
Volume 9, Issue 4, pp 251–257 [Zusammenfassung]
-
Kröber, Hans-Ludwig (2015) Lebenslang als Höchststrafe. Blitzlicht.
Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2015) 9:275–276.
-
Kröber, Hans-Ludwig (2015) Mord und Totschlag. Editorial. Forens Psychiatr
Psychol Kriminol (2015) 9:195–197
-
Jung, Ina & Lemmer, Christoph (2013) Der Fall Peggy. Die Geschichte
eines Skandals. München: Droemer.
-
Kreuzer, Arthur (2016) Zur anstehenden Neuregelung der Tötungsdelikte
Erwartungen zwischen Jahrhundertreform und bloßer Kosmetik.
-
Lijnden, Constantin Baron van (26.03.2016) 1 Leben und Sterben des Mörders.
2 Totschlag als Grundtatbestand, Mord als Qualifikation. Legal Tribune
Online (LTO)
-
Mitsch, Wolfgang (29.06.2015) Mord soll Mord bleiben. Legal Tribune
Online (LTO)
-
Saliger, Frank (2015) Grundfragen einer Reform der Tötungsdelikte.
ZIS 12/2015, 600-604.
-
Schneider, Hartmut (2015) Vorüberlegungen zu einer Reform der §§
211, 212 und 213 StGB. Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2015) 9:245–250
-
Schriftliche Anfrage des Abgeordneten Florian Streibl FREIE WÄHLER
vom 16.12.2013 Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ulvi K. im Fall
„Peggy“ – Anfrage 1
Medien ..." []
-
"Reform des Mordparagrafen Hunderte Anwälte fordern Aus der lebenslangen
Freiheitsstrafe Wie sollen Mörder bestraft werden? Der Strafverteidigertag
empfiehlt, die lebenslange Freiheitsstrafe abzuschaffen - und belebt damit
die Diskussion über die Reform des Mordparagrafen. ..." [SPON
27.03.17]
-
"Niedere Beweggründe Mord oder Totschlag? Im Strafgesetzbuch werden
Mord und Totschlag neben Tötung auf Verlangen und Schwangerschaftsabbruch
unter den "Straftaten gegen das Leben" aufgeführt. ..." [SPON
Dat?]
-
"Reform des Mordparagrafen: Bleibt lebenslang lebenslang? Justizminister
Heiko Maas will den Mordparagrafen ändern. Die Reform ist längst
überfällig. Doch sie droht an Hardlinern in der Union zu scheitern.
Ein Gastbeitrag von Arthur Kreuzer ..." [Zeit Online 14.05.16]
-
"Geplante Reform: Mord muss nicht lebenslang bedeuten Mord soll einem Bericht
zufolge künftig in Deutschland nicht mehr zwangsläufig mit einer
lebenslangen Haftstrafe geahndet werden. Das sieht nach Informationen des
Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» ein Gesetzentwurf von Justizminister
Heiko Maas (SPD) vor. ..." [faz 26.03.16]
-
"Strafrecht Bundesjustizminister will zwingende lebenslange Haft für
Mord abschaffen Mörder sollen in Deutschland nicht mehr zwingend mit
einer lebenslangen Freiheitsstrafe bestraft werden. Bundesjustizminister
Maas will nach SPIEGEL-Informationen einen entsprechenden Gesetzentwurf
vorlegen. ..." [SPON 25.03.16]
-
Mord soll nicht mehr zwingend mit lebenslanger Haft bestraft werden Eine
vom Justizministerium eingesetzte Expertenkommission hat ihren Abschlussbericht
zur Reform der Tötungsdelikte im Strafrecht vorgelegt. Die Differenzierung
zwischen "Mord" und "Totschlag" soll demnach beibehalten werden. Die Mordmerkmale
sind edoch teilweise zu überarbeiten. Der wohl wichtigste Vorschlag
der Experten: Bei Mord soll eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht mehr
zwingend sein. ..." [SZ 29.06.15]
Links (Auswahl: beachte)
Glossar,
Anmerkungen und Endnoten: > Eigener
wissenschaftlicher Standort.
1) GIPT=
General
and Integrative
Psychotherapy, internationale Bezeichnung
für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
__
Empirische
Grundlagen
Dölling (2015): "Zusammenfassung Die rechtspolitische
Diskussion über eine Reform des Mordtatbestandes des § 211 StGB
bedarf empirischer Grundlagen. Hierbei stellt sich u. a. die Frage nach
der Anwendung der einzelnen Mordmerkmale in der Strafrechtspraxis. Der
vorliegende Beitrag trägt empirische Befunde über die Anwendung
der Mordmerkmale zusammen. Es zeigt sich, dass die rechtspolitisch umstrittenen
Mordmerkmale der Heimtücke, des niedrigen Beweggrundes und der Absicht,
eine andere Straftat zu verdecken, erhebliche praktische Bedeutung haben."
__
Kroeber (2015)
"Zusammenfassung Es gibt seit Jahrzehnten eine stabile und schlüssige
Rechtsprechung zu den Mordmerkmalen. Zwischen ihr und der psychiatrischen
Wahrnehmung und Bewertung von Tötungsdelikten bestehen zwar Spannungen
infolge der unterschiedlichen Intentionen von juristischem und psychologischem
Verstehen, aber keine ernstlichen Konflikte. Der Beitrag erläutert
in Anlehnung an Janzarik (Nervenarzt 63:656–667, 1992) das forensisch-psychiatrische
Verständnis der Mordmerkmale, mit denen die Höchststrafwürdigkeit
der Tötung eines Menschen begründet wird. Es sind zum einen Merkmale,
die sich auf die Tatmotive beziehen und damit sehr direkt die Täterschuld
adressieren. Andere Mordmerkmale beziehen sich auf die Begehensweise und
sollen stärker auf das Tatunrecht verweisen. Der Beitrag setzt die
Merkmale in Beziehung zu den empirisch vorfindlichen Tatbildern und erkennt
wenig Änderungsbedarf. Unstreitig aber ist der Begriff „Mörder“
aus dem Strafgesetzbuch zu tilgen und durch die Rede von Mord und Totschlag
zu ersetzen."
__
Lebenslange Freiheitsstrafe
ist eine sprachlich und sachlich unsinnige Wortschöpfung.
Es gibt in Deutschland keine lebenlange Freiheitsstrafe, sie endet, selbst
in Bayern, in aller Regel unter 25 Jahren, dauert also höchstens eine
Generation.
__
Tatinterlokut [Quelle]
Das deutsche Strafrecht und Schuldfähigkeitsgutachten
leidet an einer schweren Geisteskrankheit: es befasst sich bereits
mit der Schuld und Schuldfähigkeit für eine Tat, obwohl diese
noch gar nicht sicher festgestellt ist. Hier lenkt und leitet nicht die
Vernunft und der gesunde Menschenverstand, sondern eine Art Toyota-Recht:
Nichts
ist unmöglich, wenn wir es nur entsprechend einrichten. Sind Verstöße
gegen die Denkgesetze nicht ein Revisionsgrund? Und müsste
dann nicht das Strafrecht "revidiert" und vom Kopf auf die Füße
gestellt werden? |
> Interlokut,
Schuldinterlokut,
Anknüpfungstatsachen.
[GB1,
GB2,]
Im deutschen Strafrecht bislang leider nicht durchgesetzt, in der fortschrittlicheren
Schweiz schon. "Tatinterlokut: Zunächst wird nur die Tatfrage behandelt.
In einem zweiten Teil allenfalls dann die Schuldfrage und die Sanktion."
Obwohl es sachlicher Unsinn ist, sich mit Fragen der Schuldunfähigkeit
zu beschäftigen, wenn noch gar nicht juristisch feststeht, ob die
Tat überhaupt dem Angeklagten zugerechnet werden kann, geschieht das
im deutschen Gerichtswesen ständig. Die Problematik ist auch typisch
für den Fall Mollath. Hier sollten bereits mehrere Gutachter zur Frage
der §§ 20, 21 und 63 Stellung nehmen, obwohl die Hauptverhandlung
noch gar nicht zu einem entsprechenden Schuldspruch fand.
__
Verdeckung
Im Bericht der Expertengruppe zur Reform der Tötungsdelikte (2015),
S. 133-136: "Referat von Herrn Dr. h.c. Deckers: Zum Merkmal der Verdeckung
in § 211 Absatz 2 StGB
Deckers sprach sich für die Streichung der Verdeckungsabsicht
in ihrer heutigen Form und für die Einführung von Regelbeispielen
beziehungsweise eines Systems aus, das eine Gesamtwürdigung von Tat
und Täter – auch im Hinblick auf die Verdeckungsabsicht – zulasse.
Der aktuellen Debatte würden Schärfe und tatbestandlicher Reformdruck
genommen, wenn die Absolutheit der Höchststrafe aufgegeben würde
und damit Verurteilung und Vollstreckung mit Augenmaß erfolgen könnten.
In Deutschland sei ein kontinuierliches Verständnis
der Verdeckungsabsicht als Mordmerkmal nicht feststellbar. Die vom Bundesverfassungsgericht
geforderte restriktive Auslegung der Mordmerkmale bezeichnete er als in
praxi nicht umgesetzt an. Hierdurch werde das angesprochene Reformbedürfnis
induziert. Dies verstärke sich zusätzlich noch dadurch, dass
die meisten Mordmerkmale in der Praxis nur dann ‚funktionierten‘, wenn
sich der Täter geständig einlasse. Ein solcher Umstand sei nicht
ohne Einfluss auf die Vernehmung, in der Mordmerkmale durch den Befragenden
gezielt eingeführt und damit suggestiv projiziert würden. Hierdurch
sehe er eine effiziente Verteidigung erheblich erschwert.
Diskussion
Die anschließende Diskussion fokussierte sich insbesondere auf
die vom Bundesverfassungsgericht geforderte restriktive Handhabung und
darauf, ob die Einführung eines Überlegungselementes in den Tatbestand
sinnvoll sei. Uneinheitlich wurde die Frage beantwortet, welche Qualität
die Tat haben müsse, die der Täter zu verdecken gedenke; hier
wurde die gesamte Bandbreite von Ordnungswidrigkeit über Straftat
bis hin zum Verbrechen vertreten.
- Für eine Modifizierung der Verdeckungsabsicht sprachen sich
aus:
Ignor, der angab, er teile grundsätzlich die erwogenen Bedenken,
sei aber der Auffassung, dass mit der vorgeschlagenen Reform kein Mehrwert
verbunden sei, sondern lediglich eine Verlagerung des Abgrenzungsproblems
von der Ebene des Tatbestandes in die der Strafzumessung erfolge. Die strafrechtliche
Frage, ob bestimmte Tatumstände als Mordmerkmale zu qualifizieren
seien, die zu einer Straferhöhung bis hin zur lebenslangen Freiheitsstrafe
führen könnten, solle grundsätzlich primär unter dem
Gesichtspunkt des zusätzlichen Erfolgs- oder Handlungsunrechts, das
heißt des Handlungs- und Gesinnungsunwerts einer Tötungshandlung,
diskutiert werden. Hierbei komme dem verfassungsrechtlichen Gebot, die
[>134] Menschenwürde zu achten (Artikel 1 GG), eine hohe Bedeutung
zu. Es verbiete, andere Menschen für eigene Zwecke zu instrumentalisieren.
Dies sei bei einer Tötung in „Verdeckungsabsicht“ der Fall, wenn diese
mit berechnender Überlegung und nicht überwiegend affektiv oder
aus einem Konflikt heraus begangen werde.
Schneider, der die Auffassung vertrat, dass
die Rechtsprechung die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts nur deshalb
ignoriere, weil diese den Kern der Problematik nicht träfen. So setze
sich das Gericht nicht in ausreichendem Maße mit dem Umstand des
Vorverschuldens, insbesondere mit der Frage der selbstverschuldeten Bedrängnis
auseinander. Hier sei eine Überbewertung erfolgt, die nicht in das
Gesamtkonzept, namentlich im Hinblick auf § 213 StGB, der eine unverschuldete
Bedrängnis regle, passe.
Im Rahmen der Verdeckungsabsicht könne man
zwar mit der Menschenwürde argumentieren, dieser Umweg sei jedoch
nicht erforderlich, da vielmehr die Rechtswahrungsfunktion des Staates
direkt zum Tragen komme. Dem Täter sei lediglich Flucht und Lüge
erlaubt. Alles andere instrumentalisiere das Opfer und stehe als sozialschädliche
Handlung im direkten Widerspruch zum staatlichen Rechtswahrungsanspruch
und rechtfertige somit die Verurteilung wegen Mordes. Dabei handle es sich
bei den Nachweisschwierigkeiten nicht um ein mordspezifisches, sondern
ein bei jedem subjektiven Merkmal des Strafgesetzbuches gegebenes Problem.
Erwägenswert wäre eine (nochmalige) Auseinandersetzung
mit den Punkten „Überlegung“ und „Selbstverschulden“. Hinsichtlich
des Überlegungselements gab er jedoch zu bedenken, dass es ein solches
bereits früher gegeben habe, das Reichsgericht jedoch daran gescheitert
sei, es in der Praxis handhabbar zu machen. Die Wahrscheinlichkeit, dass
der Bundesgerichtshof ebenso scheitere, sei hoch.
Rissing-van Saan, die das Auseinanderdriften
der Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof bestätigte.
Ihrer Meinung nach sollten Verdeckungs- und Ermöglichungsabsicht parallellaufend
ausgestaltet werden, um einen Gleichklang beider Merkmale zu gewährleisten.
Beides sehe sie als höchststrafwürdig an. Innerhalb des Tatbestandsmerkmals
der Verdeckungsabsicht müsse jedoch zusätzlich auf die Zielsetzung
des Täters geachtet werden. Zur Korrektur könne auch auf die
„Zäsurlösung“ zurückgegriffen werden, die sich in der Vergangenheit
in der Praxis jedoch nicht habe durchsetzen können.
Dölling, der die Auffassung vertrat,
bei einer Streichung des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht sei der Opferschutz
nicht ausreichend berücksichtigt. Wenn ein den Täter verfolgender
Polizist für das Interesse der Rechtsgemeinschaft tätig werde,
müsse diese ihm [>135] auch einen entsprechenden Schutz – insbesondere
für sein Leben – bieten. Griffe man hierfür auf ein Überlegungselement
zurück, wäre die Grenzziehung jedoch völlig aufgelöst.
Der Tatbestand wiese dann keinerlei Konturen mehr auf und wäre im
Zweifelsfall nicht greifbar.
Kröber, der hervorhob, dass Fälle,
in denen die Tathandlungen (zum Beispiel die Vergewaltigung und die anschließende
Tötung) auseinanderfielen, relativ leicht zu lösen seien. Wesentlich
schwieriger erwiesen sich Handlungen, die fließend ineinander übergingen
(zum Beispiel die in eine Tötung mündende Körperverletzung).
Hier wäre eine „Zäsurlösung“, die eine Reflexion und einen
neuen Handlungsentschluss voraussetzt, vorzugswürdig, wenn auch nicht
zwingend. Insbesondere sei darauf zu achten, dass der Lebenssachverhalt
durch die juristisch normative Betrachtung nicht künstlich zerstückelt
werde. Damit sei der Grundstein für die angesprochenen Probleme in
der Erstvernehmung gelegt. Dieser Punkt solle im Rahmen einer Reform unbedingt
Eingang in die Diskussion finden.
- Für eine Streichung sprach sich aus:
Grünewald, die die emotional aufgeladene Situation, in der
sich der Täter befindet, nicht zu dessen Gunsten berücksichtigt
wissen wolle. In diese Situation habe er sich selbst gebracht mit der Folge,
dass dieser Umstand nicht zur Begründung einer Privilegierung herangezogen
werden könne. Zur Begründung einer zwingenden Qualifizierung
sei er jedoch ebenfalls nicht geeignet.
Auch der Ansatz von Ignor, nach dem beim Mordmerkmal
der Verdeckungsabsicht Unrecht um weiteres Unrecht ergänzt werde,
treffe nicht zwangsläufig zu. Für die Annahme der Verdeckungsabsicht
genüge es, wenn der Täter sich vorstelle, eine Straftat zu verdecken.
Eine Straftat oder ein Unrecht, das verdeckt werden solle, müsse also
nicht zwangsläufig auch objektiv vorliegen, sondern nur in der Vorstellung
des Täters existieren. Im Übrigen instrumentalisiere jeder, der
einen anderen töte, ohne hierfür einen „guten“ Grund zu haben,
das Opfer und verletze dessen Recht auf Menschenwürde. Das Merkmal
eigne sich daher nicht, um den Sprung vom Totschlag zum Mord zu vollziehen
– das Niveau eines Mordes werde bereits durch die Tötung des Opfers
„ohne guten Grund“ und nicht erst bei einer weiteren daneben bestehenden
Wertwidrigkeit erreicht.
Allein schon die Vielzahl an Auslegungsmöglichkeiten,
die die Diskussion zu Tage gefördert habe, spreche gegen die Bestimmtheit
des Merkmals der Verdeckungsabsicht und für dessen Streichung. Restriktionsbemühungen
und deren Rücknahme seien auch für dieses Mordmerkmal symptomatisch.
Bei subjektiven Mordmerkmalen bestehe des Weiteren stets die Gefahr der
Manipulierbarkeit. Die Aufnahme subjektiver Mordmerkmalen im Gesetz ste-[>136]he
im Widerspruch zur Entwicklung in der Strafrechtsdogmatik. So werde der
Vorsatz als subjektives Kriterium wegen der Schwierigkeit eines verlässlichen
empirischen Nachweises in der Literatur zunehmend normativ verstanden."
__
Vernehmung geistig
Behinderter
Aus der Schriftlichen Anfrage des Abgeordneten Florian Streibl
FREIE WÄHLER vom 16.12.2013 Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Ulvi
K. im Fall „Peggy“ – Anfrage 1, S. 3:
"3. Wurden zwischenzeitlich die für die Polizei geltenden
Dienstvorschriften zu den Grundsätzen der Vernehmung von Zeugen und
Beschuldigten um gesonderte Anweisungen für den Umgang mit geistig
behinderten Menschen ergänzt? Falls nein, weshalb nicht?
Neben den gesetzlichen Regelungen sind Grundsätze
der Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten durch die Polizei in entsprechenden
Dienstvorschriften geregelt, die allerdings keine gesonderten Anweisungen
für den Umgang mit geistig behinderten Menschen enthalten. Aufgrund
der Vielfalt geistiger Behinderungen ist der Umgang mit einer Person mit
geistiger Behinderung immer einzelfallabhängig, je nach dem Grad der
Behinderung bzw. der gegenwärtigen Verfassung der Person. Im Ermittlungsverfahren
sind sowohl be- als auch entlastende Beweise zu erheben. Die Ermittlungen
erschöpfen sich dabei nicht in der Sachverhaltsfeststellung, sondern
zielen auch darauf ab, Anhaltspunkte für den Grad von sittlicher und
geistiger Reife sowie der Glaubwürdigkeit zu gewinnen und somit eine
Gesamtwürdigung der Persönlichkeit sowohl von Tatverdächtigen
als auch von Zeugen zu ermöglichen. Im Bedarfsfall werden die polizeilichen
Ermittlungsmaßnahmen mit der sachleitenden Staatsanwaltschaft abgestimmt."
Fazit: Die Polizei war also weder auf die Vernehmung
eines geistig Behinderten vorbereitet, noch hielt sie es auch im Jahr 2013
für erforderlich, hier vernehmungstechnisch dazuzulernen. Dabei gebraucht
sie das hanebüchene "Argument" der Einzelfallabhängigkeit, denn
was genau für ein Einzelfall mit welchen Schwierigkeiten vorliegt,
müsste ja erst von Kundigen festgestellt werden.
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Beweggründe in Gesellschaft, Recht und Leben.
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korrigiert: irsf 03.12.2017
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und ergänzt.
06-12-17 Lit-Erg.
04.12.17 Lit
Erg. ; Zusammenfassung Dölling,
Kröber.
Glossareintrag: Lebenslange Freiheitsstrafe.
03.12.17 Ins
Netz gestellt.
02.12.17 angelegt.