Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=04.04.2002 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 20.05.15
    Impressum: Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
    Stubenlohstr. 20     D-91052 Erlangen    E-Mail: sekretariat@sgipt.org_ _Zitierung  &  Copyright

    Ende_Foucault_Überblick_ Rel. Aktuelles  _Rel. Beständiges _Titelblatt_Archiv_Konzeption_Regionales_
    _ Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen


    Herzlich willkommen in unserer Abteilung Biographien (Kurzbiographien, Berufsbiographien, Biographieforschung), hier zu:

    Michel Foucault
    15.10.1926 Poitiers - 25.6.1984 Paris

    Foucaults Leben *  Psychologie und Geisteskrankheit * Wahnsinn und Gesellschaft * Antipsychiatrische Bedeutung und vorläufige Bewertung * Bibliographie * Foucault bei Suhrkamp und im Internet  * Querverweise

    von Rudolf Sponsel, Erlangen


    Foucaults Leben im Zeitraffer (Quelle romono):

        Vater Chirurg, auch die Mutter stammt aus einer Arztfamilie. Eine ältere Schwester Francine (geb. 1925), ein jüngerer Bruder Denys (geb. 1933) aufgewachsen in Poiters, unglückliche Kindheit als kleinbürgerliches Milieu erlebt.
        1948 Diplom in Philosophie (erster SMV wird vermutet). 1949 Diplom in Psychologoe. 1950 2. SMV. Kurzes Gastspiel in der Kommunistischen Partei ("Was ich mir wünsche ... ist Marxens Befreiung von der Parteidogmatik"). 1951 Staatsexamen in Philosophie. 1952 Diplom in Psychopathologie; Assistent Philosophische Fakultät in Lille.
        Mehr von Merlau-Ponty als von Sartre beeindruckt, sehr auch von Nietzsche, den Surrealisten und Samuel Beckets "Warten auf Godot" ("ein atemberaubendes Stück").
        Alkoholismus, unklar inwieweit seine sexuellen Probleme (schwul) damit zu tun haben; Kurze Therapie, Interesse für Jaques Lacan, mokiert sich über die PsychoanalytikerInnen, die ihr Brot damit verdienten, 'indem sie ihr Ohr verleihen'. Freundschaftliche Beziehungen und Bekanntschaften: Louis Althusser, Pierre Boulez, Jean Barraqué.
        1954 Psychologie und Geisteskrankheit (siehe oben Abb.)
    1955 Lektor an der Universität Uppsala (Schweden). 1958 Direktor des Centre français in Warschau. 1959 Direktor der Institut Français in Hamburg. 1960-1966 Privatdozent für Philosophie und Psychologie an der Universität Clermont-Ferrand.
        1960-1984 Beziehung mit Daniel Delfort.
    1961 Promotion: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (siehe obben Abb.). Der Biograph berichtet, daß Foucault angesichts der überlangen Doktorarbeiten in Frankreich sie in Schweden einreichen wollte, aber Stirn Lindroth habe mit den Argumenten abgelehnt, die Arbeit enthalte zu viele Spekulation und entspreche nicht der schwedischen Tradition des Empirismus. Als zudem sein Stundenkontingent von 6 auf 12 verdoppelt wurde, kehrte er Schweden den Rücken. Aber auch die französische Promotionskommission hat Kritik am Werk Fs.: "Foucault sei, so hält das Protokoll von Gouhier fest, 'mehr Philosoph als Exeget oder Historiker.' Er neige dazu , sich über die Tatsachen hinwegzusetzen; hätte man Historiker der Kunst, der Literatur und auch der Institutionen herangezogen, so wäre die Kritik wegen seines lässigen Umgangs mit den Fakten noch umfangreicher geworden." (romono S. 46).
        1965-1968 Gastprofessor in Tunis.
        1968-1970 Beteiligung am Centre universitaire expérimental de Vincennes, wovon man allerdings in seinem Werk nicht, aber auch gar nichts erkennen kann; F. ist ein typischer gelehrter Bücher- und Kathederwissenschaftler ohne jegliche empirische, experimentelle oder gar evaluative Interessen und Erfahrungen.
        1970-1884 Professor für Geschichte der Denksysteme am Collège de France.
    1971 Gründung der Gruppe zur Information über Gefängnisse (GIP).
        1975 Berkeley (Kalifornien).
        1978 Japan. Beschäftigung mit Zen-Buddhismus.
    Korrespondent für den Corierra della Serra über die iranische Revolution.
        1982 Unterstützung der Solidarnosc und Reise nach Polen.
    1983 Vorträge in Berkeley.
        1984 Tod an den Folgen einer HIV-Infektion.


    Psychologisch-Psychopathologisches Werk

    Psychologie und Geisteskrankheit (1954)


     

    Einleitungskapitel

        Ich setze mich hier mit dem Einleitungskapitel auseinander und teile Foucaults Schlußfolgerungen mit. Eine vorläufige Gesamtbewertung unter hauptsächlich antipsychiatrischen Gesichtspunkten.erfolgt danach.

        Zunächst fällt in Psychologie und Geisteskrankheit (S. 11-14) auf, daß Neurosen und Psychosen, seelische Störungen und Geisteskrankheiten in einen Topf geworfen werden (Hysterie, Psychasthenie, Zwangsvorstellungen, Phobie, Manie und Depression, Paranoia, chronische Halluzinationspsychose, Hebephrenie, Katatonie), warum bleibt unklar, weil es später (S. 19) wieder aufgehoben und differenziert wird.

        Sodann meint Foucault zwei Postulate zu erkennen, die die Natur der Krankheit betreffen. Das eine betrifft das Konzept Krankheit als spezifische Entität, die Symptome hervorruft, aus deren Gruppierung, Entwicklung und Verlauf man die Krankheit diagnostiziert. Dieses Postulat ist für Foucault ein "Vorurteil" (S. 15), womit er die klinische Erfahrung und Lehre von 150 Jahren Psychiatrie und Psychopathologie mit einem Federstrich von 9 Zeichen erledigt. So einfach ist das. Als zweites Postulat kritisiert er:
     

      "Neben diesem Vorurteil über die Essenz gibt es, gleichsam um das Abstrakte daran zu kompensieren, [>16] ein naturalistisches Postulat, das die Krankheit zur botanischen Spezies erhebt; die in jeder nosographischen Gruppe hinter der Vielgestalt der Symptome angenommene Einheit wäre so etwas wie die Einheit einer durch ihre permanenten Kennzeichen definierten und in Untergruppen aufgeteilten Gattung: so ist die Dementia praecox gleichsam eine durch die äußersten Formen ihrer natürlichen Entwicklung gekennzeichnete Gattung, die in hebephrenischen, katatonischen oder paranoiden Varianten auftreten kann.
          Wenn man Geisteskrankheit mit denselben begrifflichen Methoden wie organische Krankheit definiert, wenn man psychologische Symptome isoliert und zusammensetzt wie physiologische Symptome, so beruht das vor allem darauf, daß sowohl die Geisteskrankheit als auch die organische Krankheit als eine durch spezifische Symptome sich äußernde natürliche Essenz betrachtet wird. Es besteht also zwischen diesen beiden Formen der Pathologie keine wirkliche Einheit, sondern nur, mittels dieser beiden Postulate, ein abstrakter Parallelismus. Das Problem der Einheit des Menschen und der psychosomatischen Totalität bleibt dabei gänzlich ungelöst."


        Gänzlich unbelegt bleiben Foucaults Begriffskreationen "Totalität" und "Ganzheit", die gerade durch die Gestaltpsychologie eine ganz besondere Bedeutung in der Psychologie haben. Nachdem es Foucault peinlichst vermeidet, auf klinisch- phänomenologischer Basis zu diskutieren, holt er S. 21 plötzlich das klinisch- phänomenologische Argument hervor und erkennt auf einmal, was alle kundigen Kliniker in ihren Werken längst vor ihm mit konkreten Falldarstellungen getan haben - nur er in seinem Buch bis dahin nicht:
     

      "An allen jüngeren Formen der medizinischen Analyse läßt sich also diese eine Bedeutung ablesen: je mehr die Einheit des Menschen' als ein Ganzes aufgefaßt wird, desto mehr verflüchtigt sich die Wirklichkeit der Krankheit als einer spezifischen Entität; und um so vordringlicher wird anstelle der Analyse der natürlichen Formen der Krankheit die Beschreibung des Individuums in seinen pathologischen Reaktionen auf seine Situation."


        Charakteristisch für das Einführungskapitel in Psychologie und Geisteskrankheit ist,daß Foucault die gesamte klinisch- phänomenologische Tradition der Psychopathologie und Psychiatrie ignoriert, um sodann genau das zu fordern, was er ignoriert. Es kommt aber noch schlimmer. Fordert Foucault noch auf S. 27, den Menschen selbst in seiner Situation zu untersuchen - etwas anderes macht ein Psychiater und Psychotherapeut ja nicht -  und lehnt er die Abstraktion einer Krankheitsbeschreibung ab, so macht er genau das auf der nächsten Seite selbst, indem er nun wie eben noch verlangt nicht von einem konkreten Menschen und Fall ausgeht, sondern abstrahierende Symptome herausnimmt:
     

      "In Gegenwart eines Schwerkranken ist der erste Eindruck der eines durch nichts kompensierten globalen und massiven Defizits: die Unfähigkeit eines Verwirrten, sich in der Zeit und im Raum zurechtzufinden, das unaufhörliche Abbrechen der Kontinuität in seinem Verhalten, die Unmöglichkeit, über den Augenblick, in den er eingemauert ist, hinauszukommen, um Zugang in das Universum eines Andern zu finden oder sich der Vergangenheit und der Zukunft zuzuwenden - alle diese Phänomene fordern dazu auf, seine Krankheit mit den Begriffen für außer Kraft gesetzte Funktionen zu beschreiben: das Bewußtsein des Kranken ist desorientiert, verfinstert, verengt, zersplittert. Gleichzeitig ist diese funktionelle Leere jedoch von einem Wirbel elementarer Reaktionen ausgefüllt, die übertrieben wirken und so, als wären sie durch das Verschwinden der anderen Verhaltensweisen desto heftiger geworden: alle Wiederholungszwänge sind verstärkt (der Kranke antwortet wie ein Echo auf die Fragen, die man an ihn richtet, die einmal ausgelöste Geste wird festgestellt und endlos wiederholt), die innere Sprache überflutet den gesamten Ausdrucksbereich, der Kranke führt halblaut einen endlosen, unzusammenhängenden Monolog, ohne jemals jemanden anzusprechen; zeitweilig kommt es zu starken emotionalen Reaktionen." (S. 31; 28-30 Leerseiten)


    Der seltsame und sophistisch anmutende Argumentationsstil, etwas zu widerlegen, was nie jemand behauptet hat (Pappkameraden bzw. Strohmann Sophistik), setzt sich fort:
     

      "Die Psychopathologie darf also nicht im Text der außer Kraft gesetzten Funktionen gelesen werden: dieser Text wäre zu einfach; die Krankheit ist nicht bloß Verlust des Bewußtseins, Erliegen dieser oder jener Funktion, Verlöschen dieser oder jener Fähigkeit." (S. 32)


    Natürlich nicht: doch wer hat denn dies jemals behauptet? Die Plus- in Minus-Symptomatik bei den psychischen Störungen gehört doch zum Grundwissen jeder PsychopathologIn.

    Der seltsame Argumentationsstil wird ergänzt durch Herausstreichungen völliger Trivialitäten, wie etwa daß zwei verschiedene Sachverhalte verschieden sind:
     

      "Von vornherein ist festzustellen, daß verschwundene Funktionen und gesteigerte Funktionen nicht von gleichem Niveau sind." (S. 31)


    Nachdem er schon bis Bleuler (um 1910) vorgedrungen war, vollzieht er S. 36 einen plötzlichen Rücksprung in das Jahr 1849, um sich mit dem Somatiker Jackson auseinanderzusetzen. In der Auseinandersetzung mit Freud und der Psychoanalyse - die mit Psychologie ja bekanntlich wenig zu tun hat - findet er nun erstmal eine eigene Position:
     

      "Eine Strukturbeschreibung der Krankheit müßte also bei jedem Syndrom die positiven und die negativen Zeichen analysieren, d. h. die getilgten wie auch die freigelegten Strukturen im einzelnen nachweisen. [>47] Das hieße die pathologischen Formen nicht erklären, sondern nur, sie in eine Perspektive stellen, in der die Fakten individueller oder sozialer Regression, wie Janet und Freud sie bestimmt haben, kohärent und verständlich werden. Eine Beschreibung dieser Art läßt sich in großen Umrissen folgendermaßen darstellen:
      1. Gestörtes Gleichgewicht und Neurosen sind nur der erste Grad der Auflösung der psychischen Funktionen; lediglich das allgemeine Gleichgewicht der psychischen Persönlichkeit ist angegriffen, und dieser oft nur momentane Bruch setzt nur die affektiven Komplexe, die im Verlauf der individuellen Entwicklung entstandenen unbewußten emotionalen Schemata frei.
      2. In der Paranoia setzt die allgemeine Störung der Stimmung eine passionelle Struktur frei, die nur eine Übersteigerung der gewöhnlichen Verhaltensweisen der Persönlichkeit ist; die Luzidität, die Ordnung und die Kohäsion des geistigen Fundus sind noch nicht angegriffen.
      3. Mit den traumartigen Zuständen jedoch ist eine Ebene erreicht, wo die Bewußtseinsstrukturen schon auseinandergefallen sind; die Wahrnehmungskontrolle und die Kohärenz der Gedankengänge sind verschwunden; und in die zerbröckelnde Sphäre der Bewußtheit sickern Traumstrukturen ein, die für gewöhnlich nur im Schlaf freigesetzt werden. Illusionen, Halluzinationen, falsches Wiedererkennen zeigen, daß die Enthemmungen des Traumbewußtseins nun selbst im Wachzustand gelten.
      4. In den manischen und melancholischen Zuständen greift der Zerfall auf die Sphäre der Triebe und Affekte über; die emotionale Infantilität des Manischen, der Verlust des Körperbewußtseins und der zur Selbsterhaltung notwendigen Verhaltensweisen beim Melancholiker stellen die negative Seite dar. Die positiven Formen der Krankheit treten in Erscheinung in den Paroxysmen motorischer Agitation oder emotionaler Ausbrüche, in denen der Melancholiker seine Verzweiflung, der Manische seine euphorische Erregung äußert.
      5. In schizophrenen und Verwirrtheitszuständen endlich nimmt der Verfall den Verlauf eines Kapazitätsdefizits; an einem Horizont, an dem die räumlichen und zeitlichen Anhaltspunkte zu undeutlich geworden sind, als daß sie noch eine Orientierung zuließen, bewegt sich das zerfaserte Denken in isolierten Bruchstücken, skandiert eine leere schwarze Welt mit »psychischen Synkopen« oder schließt sich in das Schweigen des Körpers ein, dessen eigene Motorik durch Katatonie gehemmt ist. An positiven Zeichen treten allein noch hervor: Stereotypien, Halluzinationen, zu zusammenhängenden Silben kristallisierte Wortschemata und plötzliche, die dementielle Trägheit wie Meteore durchzuckende affektive Ausbrüche.
      6. Und mit der Demenz schließt sich der Zyklus des pathologischen Zerfalls, mit der Demenz, in der die negativen Zeichen der Defizite überhandnehmen und der Zerfall so tief reicht, daß keine Instanz mehr übrig bleibt, deren Verbote aufgehoben werden müß-[>49]ten; keine Persönlichkeit, nur mehr ein lebewesen ist vorhanden."  (S. 47-49).


    Diese Charakterisierungen Foucaults - vergleicht man sie etwa mit Jaspers' psychopathologischem Niveau 1913 - sind fachlich wenig überzeugend und repräsentieren im übrigen genau solche krankheitsimmanenten Abstraktionen, wie er sie einleitend gerade kritisiert hat. Im übrigen werden hier psychopathologische und psychiatrische Sachverhalte in einer Weise anerkannt, wie sie von antipsychiatrisch radikal autonomen Fundamentalisten (ARAF), die Foucault gern für ihre Zwecke zitieren, heftigst geschmäht und geleugnet werden.

    ***

    Schlußfolgerungen Foucaults

        Aus dem Ende Kapitel 5 (S. 129): "Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die psychologischen Bereiche der Krankheit ohne Trugschlüsse nicht als autonom betrachtet werden können. Gewiß läßt sich die Geisteskrankheit in bezug auf ihre Genese, in bezug auf die individuelle psychologische Geschichte, in bezug auf die Existenzformen situieren, Aber man darf aus diesen verschiedenen Aspekten der Krankheit nicht ontologische Formen machen, wenn man nicht auf mythische Erklärungen, wie die Entwicklung der psychologischen Strukturen oder die Triebtheorie oder eine existentielle Anthropologie, rekurrieren will. In Wirklichkeit läßt sich allein in der Geschichte das einzige konkrete Apriori entdecken, aus welchem die Geisteskrankheit mit der leeren Öffnung ihrer Möglichkeit ihre notwendigen Figuren hernimmt."

        Aus dem Schluß (S. 131): "Die psychologischen Dimensionen des Wahnsinns können also nicht von einem ihnen äußerlichen Erklärungs- oder Reduktionsprinzip zurückgedrängt werden. Sondern sie sind anzusetzen in dem allgemeinen Verhältnis, das vor fast zweihundert Jahren der Mensch des Okzidents zu sich selbst hergestellt hat. Dieses Verhältnis ist, vom spitzesten Winkel aus gesehen, eben die Psychologie, in die er ein wenig von seinem Staunen, viel von seinem Stolz und das Wesentliche seiner Fähigkeit zu vergessen gelegt hat; unter weiter geöffnetem Winkel ist es das Hervortreten - in den Formen des Wissens - eines homo psychologicus, dem es aufgegeben ist, die innere, fleischlose, ironische und positive Wahrheit alles Selbstbewußtseins und aller möglichen Erkenntnis in sich zu versammeln; in der weitesten Uffnung schließlich ist es dasjenige Verhältnis, durch welches der Mensch sein Verhältnis zur Wahrheit ersetzt hat, indem er diese in das grundlegende Postulat entfremdete: er selbst sei die Wahrheit der Wahrheit.

        Dieses Verhältnis, das jede mögliche Psychologie philosophisch begründet, konnte nur zu einer bestimmten Zeit in der Geschichte unserer Kultur definiert werden: zu der Zeit nämlich, wo die große Konfrontierung der Vernunft mit der Unvernunft sich nicht länger in der Dimension der Freiheit abgespielt hat, wo die Vernunft für den Menschen aufgehört hat, eine Ethik zu sein, um statt dessen eine Natur zu werden. Damals ist der Wahnsinn die Natur der Natur geworden, d. h. die Natur entfremdender und in ihrem Determinismus verkettender Prozeß, wäh-[>132]rend gleichzeitig die Freiheit ebenfalls die Natur der Natur wurde, aber im Sinn einer heimlichen Seele, eines unentfremdbaren Wesens der Natur. Und anstatt vor die große Wende des Irrsinns gestellt zu sein und in die Dimension, die sie eröffnet, ist der Mensch auf der Ebene seines natürlichen Seins das eine und das andere geworden, Wahnsinn und Freiheit, und hat kraft seines privilegierten Wesens das Recht auf sich versammelt, die Natur der Natur und die Wahrheit der Wahrheit zu sein.

        Daß die Psychologie niemals den Wahnsinn meistern kann, hat seinen guten Grund: die Psychologie ist in unserer Welt erst möglich geworden, als der Wahnsinn bereits gemeistert, als er vom Drama schon ausgeschlossen war. Und wenn er, ein Blitz, ein Schrei, bei Nerval oder bei Artaud, bei Nietzsche oder Roussel wieder auftaucht, so verstummt die Psychologie ihrerseits und steht wortlos vor dieser Sprache, die den Sinn ihrer Worte jenem tragischen Aufriß und jener Freiheit entlehnt, denen gegenüber die bloße Existenz von »Psychologen« dem heutigen Menschen ein bedrückendes Vergessen gewährleistet."
     


    Wahnsinn und Gesellschaft (1961)
     
    Das Buch und die französische Psychiatrie

    "Die Kritik der Psychiater sollte vernichtend sein. Foucault wurde mit der Antipsychiatrie in Verbindung gebracht. Auf einer Konferenz am 6. und 7. Dezember 1969 in Toulouse wurde das Buch schließlich als «Psychiatrizid» bezeichnet. Man bemängelte, Foucault bediene sich des vulgären Ausdrucks «Wahnsinn» («folie») statt der wissenschaftlichen Bezeichnung «mentale Verirrung». Außerdem beziehe sich Foucault nicht auf die vorhandenen Geschichten der Psychiatrie. Obwohl nach Toulouse eingeladen, blich Foucault der Tagung fern. Zur Antipsychiatrie ist Foucault indessen nicht zu rechnen, obwohl er den englischen Antipsychiater David Cooper 1976 zu Vorträgen an das College de France einlud und schon 1973 den italienischen Antipsychiater Franco Basaglia mit einem Beitrag zu einem Sammelband unterstützte. an dem u. a. auch Sartre und Chomsky mitarbeiteten." (romono S. 46)
     
     
     
     
     

    Wird bei Gelegenheit weit kommentiert


    Antipsychiatrische Bedeutung und vorläufige Bewertung

        Foucaults Werk ist für mich schwer zu beurteilen, weil mir seine wissenschaftliche Denk- und Arbeitsweise - wie etwa die Hegels, Heideggers oder der Frankfurter Soziologen Schule - ziemlich fremd ist. Es ist für mich ein Rätsel wie man Psychologe oder Psychopathologe sein kann, ohne mit wirklichen Menschen, ohne konkrete Explorationen, ohne Experimente, ohne Hypothesen, ohne Evaluation und Empirie arbeiten kann. So bleibt sein historisches und literarisch wohl sehr gelehrtes Werk für mich an der feuilletonistischen, historisierend philosphisch geistreich dialektischen Katheder- und intellektuellen Salon- Oberfläche.

        Foucault ist für die Psychologie, Psychopathologie, Psychiatrie und Psychotherapie von seinen Leistungen her wenig bedeutsam. Seine Wirkung ist mehr feuilletonistischer, literarischer, gesellschafts- und kulturkritischer Natur. Für manche Zeitgenossinnen ist er auch mehr eine symbolische Kultfigur, die jeweils mit den eigenen Wünschen und Idealen projektiv aufgefüllt wird. So wohl auch überwiegend für die antipsychiatrische Bewegung. Im allgemeinen wird er summarisch zitiert und im einzelnen eher selten  gewußt und verstanden - was zugegebenermaßen auch schwer ist. Seine tiefenschwangere Dialektik ist im Grunde so substanzlos wie seine argumentativen Überraschungssophismen eher lästig sind, wenn er Pappkameraden aufbaut, um sie anschließend souverän niederzuschlagen. So ist z.B. auch seine These daß Vernunft und Unvernunft sich wechselseitig bedingen eine terminologische Trivialität, die weder erhellt noch aufklärt. Natürlich versteht man den Begriff Tisch erst richtig, wenn man ihn den Nicht-Tischgegenständen gegenüberstellt. Natürlich kann nicht ermessen, was sonniges Wetter bedeutet, wer nur den Regen kennt. Das sind doch Plattheiten. Bedeutung und Wert der Dinge erkennen und ermessen wir, indem wir die Erfahrung der Abwesenheit, des Gegensatzes oder des Verlustes erleben.

        Viel positiver und wichtiger als seine eigenwillige und eigenbestimmte Denkweise erscheint mir sein Interesse und implizit auch sein Engagement für die  - teilweise und vorübergehend - Eigenwilligen, Sonderlinge, Schwachen, Anderen, die Gescheiterten, Gestrauchelten, Kriminelle, für die Ausgegrenzten, die Irren/ den und Gestörten. In gewisser Weise ist Foucault begabt, der Gesellschaft einen Spiegel für all jene Bereiche, Fugen und Nischen vorzuhalten, die gern ausgegrenzt, weggeschoben und verdrängt werden. Und so gesehen ist sein Werk ein gutes weil mahnendes Werk, das zur Wahrnehmung, Beachtung und Integration aufruft.

        Foucault wird vielfach von antipsychiatrisch Engagierten zitiert, ohne daß klar wird, was er denn nun definitiv gesagt hat, weil er vieles und zugleich wenig bis nichts, Dunkles [siehe oben Schlußfolgerungen], Widerspruchsvolles und manch  Falsches sagt, anreißt oder in den Raum stellt. Er scheint auch in der unseligen philosophischen Tradition gefangen, daß die Worte schon von selber etwas bedeuten und daß sie daher jeder einfach so verstehen kann (naiver Platonismus wie er z.B. für Freud und die Psychoanalyse typisch ist) wie sie sich vorfinden. Zwar verfaßt er ganze Bücher über Wahn und Wahnsinn, zugleich sucht  man vergeblich nach einer Definition, einer praktischen Operationalisierung, wovon er denn nun eigentlich und letztlich wirklich spricht.

        Dennoch unterscheidet er sich von den antipsychiatrisch radikal autonomen Fundamentalisten (ARAF) klar im Bekenntnis, daß es so etwas wie Wahn und Wahnsinn tatsächlich gibt. An der Existenz der klinischen Bilder läßt er so wenig einen Zweifel wie Thomas Szasz, wohl aber, und darum geht eigentliche Streit der wissenschaftlichen Antipsychiatrie ja, was die klinischen Bilder bedeuten und wie mit ihnen umzugehen ist (siehe Psychiatriekritik Klassifikation).

        So gesehen hat die wissenschaftliche Antipsychiatrie auch nichts mit der antipsychiatrischen radikal autonomen Fundamentalisten (ARAF) von Scientology und einigen den ARAF- Aktivisten im Internet zu tun, die  sogar die klinischen Bilder und ihre pathologische Bedeutung leugnen und mit allen agitatorischen und propagandistischen Mitteln bekämpfen. So scheidet sich der Wahn an der Anerkenntnis des Wahns.


    Bibliographie
    Überblick auch bei Suhrkamp
     

    • Foucault, Michel (1974). Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1977, franz. ). Überwachen und Strafen. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1992, franz. 1954). Einleitung zu L. Binswangcr: Traum und Existenz. Berlin, Bern:
    • Foucault, Michel (dt. 1968, franz. 1954).Psvchologie und Geisteskrankheit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1973, franz. 1961). Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1973, franz. 1962). Schriften zur Literatur. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1987, franz. ).Von der Subversion des Wissens. 1963-1973. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1973, franz. 1963). Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks. München:
    • Foucault, Michel (dt. 1988, franz. 1963). Ravmond Roussel. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1969, franz. 1966). Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 19(19 (frz. 1966)
    • Foucault, Michel (dt. 1973, franz. 1969). Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1973 (frz. 1969)
    • Foucault, Michel (dt. 1991, franz. 1971).Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. 1991 (frz. 1971)
    • Foucault, Michel (dt. 1975, franz. 1973). Der Fall Riviere. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz.
    • Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1976, franz. 1975). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (dt. 1976, franz. ). Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz. Psychiatrie und Medizin. Berlin
    • Foucault, Michel (1986).Vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte. Berlin:
    • Foucault, Michel (dt. 1977, franz. 1976).Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
    • Foucault, Michel (o.J.). Von der Freundschaft. Berlin: .
    • Foucault, Michel (1977).Der Gehrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2. Frankfurt a. M.1986 (frz. 1984)
    • Foucault, Michel (dt. 1986, franz. 1984). Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3. Frankfurt a. M. 1986 (frz. 1984)
    • Foucault, Michel (1922). Was ist Kritik? Berlin: (nicht in DE)
    • Foucault, Michel (dt. 1996, franz.). Diskurs und Wahrheit. Berkeley-Vorlesungen. Berlin:
    • Gilles Deleuze & Michel Foucault (1977). Der Faden ist gerissen. Berlin:


    Bemerkung: Die Dits et Ecrits sind inzwischen bei Suhrkamp erschienen.

    Biographien

    • Auzias, J.-M.: ,Michel Foucault. Qui suis-Je'? Lyon 1986
    • Defert, D.: Chronologie. In: Michel Foucault: Dits et écrits. Bd. I. Paris 1994, S. 13-65
    • Eribon. D.: Michel Foucault. Paris 1989 (dt. 1993)
    • Eribon. D.:  Michel Foucault et ses contemporains. Paris 1994
    • Maccv, D.: Hic Lilas ol Michel Foucault. London 19231
    • Miller. J.: Hic Passinn ol Michel I nucaull. Ness- York 1993
    • Taureck, Bernhard H.F. (1997). Michel Foucault. Reinbek: Rowohlt.



    Foucault bei Suhrkamp und im Internet

    Biographie bei Suhrkamp: [entlinkt, da URL ohne Weiterleitung verändert]
    Bibliographie bei Suhrkamp: [entlinkt, da URL ohne Weiterleitung verändert]
    Links zu Foucault bei Suhrkamp [entlinkt, da URL ohne Weiterleitung verändert]
    Viele weitere Seiten findet man natürlich über die Suchmaschinen.



    Pappkameraden Sophistik: In der Sophistik Strohmann oder Pappkameraden Technik bekannt. Man baut eine unsinnige oder falsche Argumentations- Figur auf, um sie sodann niederzumachen. Das Problem: der Pappkamerad oder Strohmann wurde von niemandem behauptet. Siehe auch Bördlein: Einführung in das Skeptische Denken, Kapitel 6 (Strohmann). Quervwerweis: Allgemeine Pappkameraden-Technik.
    ____
    Auflösung. Ein sehr fragwürdiger Begriff. In der Neurose lösen sich keine Funktionen auf; sie verändern sich, manche werden überwertig, andere treten zurück. Und selbst für die Psychosen Plus-Symptomatik paßt der Auflösungsbegriff überhaupt nicht.
    ____
    Paranoia. Sie ist keinesweg nur eine Übersteigerung der gewöhnlichen Verhaltensweisen der Persönlichkeit, sondern eine fundamentale und meist auch sehr schwerwiegende Störung der Informationsverarbeitung.
    ____
    traumartige Zustände. Sie haben mit Zerfall nichts zu tun, sondern kennzeichnen einen veränderten, tranceartigen Bewußtseinszustand.
    ____
    euphorische Erregung. In den mnaiformen Bildern sind auch die greizt, aggressiv, mißmutig übereregten, die sog. dysphorischen zu beachten. Euphorische und dysphorische Phasen können auch sehr schnell und oft (z.B. 20,30,40x /Tag) wechseln und ineinander übergehen. Sie könne auch mit anderen schizophrenen Symptomen einhergehen (sog. schizoafektive Psychosen).

    Querverweise
    • Antipsychiatrie Glossar
    • Kritik und Alternative zur Traditionellen Diagnostik in der Psychopathologie
    • Probleme der Differentialdiagnose und Komorbidität
    • Das Geheimnis der "Achsen" und ihrer Wandlung  im DSM, im Diagnostischen und Statistischen Manual für Psychische Störungen.
    • Der geheimnisvolle Wandel der Borderline Persönlichkeits-Diagnostik vom DSM-III zum DSM-IV.
    • "Normal", "Anders", "Fehler", "Gestört", "Krank", "Verrückt"
    • Bio-Psycho-Soziales Krankheitsmodell in der GIPT
    • Ingo-Wolf Kittel: Systematische Überlegungen zum Begriff "krank" in der Medizin im allgemeinen und in der Seelenheilkunde im besonderen
    • Krankheitsbegriff in der Psychotherapierichtlinien
     

    Zitierung
    Sponsel, R. (DAS). Michel Foucault. Wissenschafts-Kurz-Biographie und Kritik seiner psychopathologischen Hauptwerke. Internet Publikation  für Allgemeine und Integrative Psychotherapie  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/biogr/sonst/foucault.htm
    Copyright & Nutzungsrechte
    Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht  inhaltlich verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle benutzt werden. Das direkte, zugriffsaneignende Einbinden in fremde Seiten oder Rahmen ist nicht gestattet, Links sind natürlich willkommen. Zitiert kann mit Quellenangabe beliebig werden. Sofern die Rechte anderer berührt sind, sind diese dort zu erkunden. Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus  ...  geht, sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.

    Ende_Foucault_Überblick_Rel. Aktuelles  _Rel. Beständiges   _Titelblatt_ Archiv_ Konzeption_Regionales_ Mail:_sekretariat@sgipt.org___Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen_
     


    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik sind willkommen
    20.05.15    Querverweis zur Pappkameradensophistik.
    28.04.08    Layout.