Abstinenz und Abstinenzregeln
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Quellenmeinungen
Literatur*
Querverweise: Kunstfehler in der
Psychotherapie [2]
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Abstinenzregel 1: Die Abstinenzregel besagt, daß die TherapeutIn keinen geschäftlichen, freundschaftlichen, familiären, erotisch- sexuellen oder andersartigen direkten Nutzen oder direkte Befriedigung aus der Beziehung zur PatientIn ziehen darf, auch wenn die PatientIn es anbietet, verlangt oder dazu verführen möchte. Das hat mehrere auch sachlich- allgemeine Gründe: 1) Eine Therapiebeziehung ist eine Beziehung auf Zeit und die TherapeutIn kann die vielen Wünsche und Bedürfnisse, die nur ein entsprechendes Leben erfüllen kann, nicht ersatz-, stück- oder zeitweise leisten. 2) Die Ressourcen, die eine TherapeutIn zur Verfügung hat, sind sehr begrenzt. Wie sollte eine Selektion begründet werden? 3) Die TherapeutIn soll die Heilung, Besserung, Linderung - oder, wo erforderlich und nicht anders möglich die Begleitung - so unkompliziert und wirkungsvoll gestalten wie nur möglich. 4) Die TherapeutIn darf nicht erpreßbar sein. 5) Die TherapeutIn braucht - auch - Distanz und wohlwollende Neutralität für ihre Arbeit. 6) Die TherapeutIn muß sich abgrenzen und schützen können, um nicht von den vielen Wünschen und Bedürfnissen ihrer PatientInnen "aufgefressen" zu werden.
Abstinenzregel 2: Einen Widerspruch in sich (contradictio in adjecto) bildet die Abstinenzregel da, wo sie von PatientInnen ganz Konkretes verlangt, bestimmtes, die Psychoanalyse oder die Therapie betreffendes zu tun oder unterzulassen.
Abstinenzregel 3: Die Abstinenzregel geht da zu weit und wird fälschlich aufrecht erhalten, wo PatientInnen ganz konkrete Hilfen, Anregungen, Informationen, Therapieprogramme, Übungen und Trainings brauchen, um in den von ihnen selbst gewählten und akzeptierten Therapiezielen weiter zu kommen.
Abstinenzregel 4: Die Abstinenzregel geht auch da zu weit, wo PatientInnen ganz konkrete positive, aufbauende, unterstützende und wertschätzende Rückmeldungen brauchen, um ein entsprechendes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen zu entwickeln, zu festigen oder zu vertiefen.
Abstinenzregel 5: Speziell für die Psychoanalyse und analytische Psychotherapie gilt, daß das Hauptmittel psychoanalytischer Arbeit, die Handhabung und Durcharbeitung der Übertragung, der Projektion und der Übertragungsneurose, mit Verletzung der Abstinenzregel unmöglich gemacht wird und damit dem Sinn der ganzen Unternehmung fundamental widerspricht.
Hinweis: In Bruner et al. (1985, Hg.). Wörterbuch der Individualpsychologie, München: Reinhardt und in Schleger, Leonhard (1993). Handwörterbuch der Transaktionsanalyse. Freiburg: Herder sowie in Samuels, Andrew et al. (dt. 1991, orig. 1986). Wörterbuch Jung'scher Psychologie. München dtv. habe ich keine Stichworteinträge zu Abstinenz oder zur Abstinenzregel gefunden. Sie konnten hier daher auch nicht berücksichtigt werden.
Nach Laplanche
& Pontalis:
"Abstinenz (Abstinenzregel). engl: abstinence - frz.: abstinence (règle
d'-, principe d'-) - ital: astinenza - port.: abstinencia - span.: abstinencia.
Grundsatz, wonach die psychoanalytische Behandlung so geführt werden
soll, daß der Patient die geringstmögliche Ersatzbefriedigung
für seine Symptome findet. Für den Analytiker schließt
er die Regel ein, dem Patienten die Befriedigung seiner Wünsche zu
versagen und tatsächlich die Rolle zu übernehmen, die dieser
bestrebt ist, ihm aufzudrängen. In bestimmten Fällen und an bestimmten
Punkten der Behandlung gehört es zur Abstinenzregel, das Subjekt auf
den Wiederholungscharakter seines Verhaltens hinzuweisen, der die Arbeit
des Erinnerns und Durcharbeitens hemmt. Die Rechtfertigung dieses Prinzips
ist im wesentlichen ökonomischer Natur. Der Analytiker soll vermeiden,
daß die durch die Behandlung freigewordenen Libidomengen sofort wieder
äußere Objekte besetzen."
Aspekte nach Wolfgang Mertens
(Auswahl)
"Während das Konzept der Abstinenz heutzutage zumeist mit dem
Verhalten des Analytikers in Verbindung gebracht wird, enthielt es ursprünglich
die Forderung an den Analysanden, während der Dauer der Analyse auf
Ersatzbefriedigungen für seine Symptome zu verzichten (dazu gehören
nach Freud, 1919a, zum einen Unternehmungen, denen nur auf den ersten Blick
der Leidenscharakter abgeht - wie z.B. eine überstürzte Eheschließung
mit einem ungeeigneten Partner, um ein neurotisches Strafbedürfnis
zu befriedigen -, zum anderen Ersatzbefriedigungen, die aus bestimmten
Konstellationen des Übertragungsverhältnisses erwachsen). Im
Lauf der Zeit hat sich jedoch immer stärker die zweite Bedeutung der
Abstinenz - als Grundsatz und Regel für den Analytiker, die sich aus
seiner Neutralität ergibt - in den Vordergrund geschoben. Versagungen
von Ersatzbefriedigungen des Patienten werden in der Gegenwart eher als
ein die Entfaltung der Übertragung störender Eingriff wahrgenommen,
der nur im Falle schwerwiegenden destruktiven -> Agierens, wie z.B. bei
manchen -> Borderline-Patienten, angezeigt sein kann (vgl. Kernberg, 1978).
...
Obwohl sich auch im Verhalten des Analytikers bestimmte
Interaktionseigentümlichkeiten, z.B. hinsichtlich seines Sprachverhaltens,
zeigen, geht das ursprüngliche wie auch das zeitgenössische Konzept
der Abstinenz davon aus, daß es sich hierbei überwiegend um
eine Einstellung handelt, den Patienten nicht für eigene narzißtische
Zwecke zu mißbrauchen. Aus diesem Grund muß das Be- [> 2] dürfnis
eines Analytikers nach moralischen Wertungen, pädagogischen Ermunterungen
oder Bündnisbildungen immer wieder reflektiert werden. Abstinenz als
Einstellung verstanden, schließt aber spontanes Verhalten in Forrn
von gelegentlichen Ermunterungen keineswegs aus. Die puristische (in den
40er Jahren entstandene nordamerikanische) Auffassung, daß dadurch
die Entstehung einer Übertragungsneurose beeinträchtigt werden
könnte, beruht auf der mittlerweile nicht mehr haltbaren Prämisse,
daß es dem Analytiker gelingen könne, seine Subjektivität
im analytischen Prozeß gänzlich auszuschalten. Heutzutage kann
es hingegen nur noch sinnvoll sein, von einer kontrollierten Subjektivität
oder einer "subjektiven Abstinenzhaltung" (Körner & Rosin, 1985)
auszugehen."
Mertens weist im folgenden noch auf die differenzierte Analyse Franklins
(1990) zu fünf grundlegenden Bedeutungen vom Neutralität.
Thomä
und Kächele schreiben in ihrem bedeutenden Lehrbuch (Auswahl):
"Die Abstinenz hat im Bereich der Psychoanalyse 2 Seiten: Als Abstinenzregel
fordert sie spezifische Beschränkungen des Patienten, als Empfehlung
zur analytischen Neutralität zielt sie auf Beschränkungen seitens
des Therapeuten. So definieren Laplanche u. Pontalis (1972, S. 22) die
Abstinenzregel als den Grundsatz, wonach jetzt "die psychoanalytische Behandlung
so geführt werden soll, daß der Patient die geringstmögliche
Ersatzbefriedigung für sein Symptom findet". Die Neutralität
bezieht sich auf "eine der Qualitäten, die die Haltung des Analytikers
bei der Behandlung definiert" (1972, S. 331). Beide Seiten gehören
inhaltlich zusammen, sie sind einerseits durch die Charakteristika aller
professionellen Beziehungen, andererseits durch die Eigenarten der analytischen
Situation begründet. Cremerius (1984) hat das Schicksal des Abstinenzbegriffes
und der Abstinenzregel eindrucksvoll dargestellt. Er zeigt auf, daß
der erste Rückgriff auf diese Regel bei Freud speziell durch die Behandlungsprobleme
bei hysterischen Patientinnen notwendig wurde. Ihre Wünsche nach konkreten
Liebesbeziehungen drohten die professionelle Beziehung zu gefährden.
Zunächst also hat das Abstinenzgebot durchaus die Funktion einer "Spiel-Regel",
die die Fortführung der Analyse sichern soll: "Das Liebesverhältnis
macht eben der Beeinflußbarkeit durch die analytische Behandlung
ein Ende; eine Vereinigung von beiden ist ein Unding" (Freud 1915 a, S.
314). Freud zitiert in diesem Zusammenhang die allgemeingültige Moral,
die er durch methodische Überlegungen ersetzen möchte. Strenggenommen
geht es allerdings nicht so sehr um die allgemeine Moral, als um eine ganz
spezifische Norm, die den Rahmen der Beziehung zwischen Analytiker und
Patient durchaus im Sinne einer Spielregel festlegt ...
Die Kur muß in der Abstinenz durchgeführt
werden; ich meine dabei nicht allein die körperliche Entbehrung, auch
nicht die Entbehrung von allem, was man begehrt, denn dies würde vielleicht
kein Kranker vertragen. Sondern ich will den Grundsatz aufstellen, daß
man Bedürfnis und Sehnsucht als zur Arbeit und Veränderung treibende
Kräfte bei der Kranken bestehenlassen und sich hüten muß,
dieselben durch Surrogate zu beschwichtigen (Freud 1915 a, S. 313). ...
Es blieb jedoch nicht bei diesen technischen Begründungen;
diese verbanden sich mit den triebtheoretischen Annahmen, durch die Abstinenz
und die entsprechende strikte Neutralität des Analytikers untermauert
wurden. Freud selbst hat an dieser Entwicklung erheblichen Anteil. Vier
Jahre nach seiner ersten Begründung der Abstinenzregel schreibt er:
Die analytische Kur soll, soweit es möglich ist, in der Entbehrung
- Abstinenz - durchgeführt werden ...
Sie erinnern sich daran, daß es eine Versagung war, die den Patienten
krank gemacht hat, daß seine Symptome ihm den Dienst von Ersatzbefriedigung
leisten. Sie können während der Kur beobachten, daß jede
Besserung seines Leidenszustandes das Tempo der Herstellung verzögert
und die Triebkraft verringert, die zur Heilung drängt. Auf diese Triebkraft
können wir aber nicht verzichten; eine Verringerung derselben ist
für unsere Heilungsabsicht gefährlich ... Wir müssen, so
grausam es klingt, dafür sorgen, daß das Leiden des Kranken
in irgendeinem wirksamen Maße kein vorzeitiges Ende finde (Freud
1919 a, S. 187 f.).
Freud empfiehlt in diesem Zusammenhang, durch Setzen von "empfindlichen
Entbehrungen" Leiden aufzurichten, Ersatzbefriedigungen aufzuspüren
und vom Patienten Verzicht zu verlangen, damit die für die Analyse
notwendige Energie nicht versickere. Dies gilt besonders für heimliche
Übertragungsbefriedigungen. Im Gegensatz zur Formulierung von 1915
wird hier nicht nur für ein günstiges, sondern für das größtmögliche
Spannungspotential votiert, der Abstinenzgrundsatz wird also erheblich
verschärft. Begründet wird diese Regel mit der Theorie der Symptomentstehung
sowie mit triebökonomischen Überlegungen."
Nach Josef
Rattner
"Abstinenzregel. Nach Freud muß die Psychotherapie "in der Versagung"
stattfinden. Das bedeutet: Der Patient hat keine reife Psychosexualität
und würde daher am liebsten innerhalb der seelenärztlichen Behandlung
nicht so sehr intellektuelle Arbeit leisten (z.B. Selbsterkenntnis) als
vielmehr seine primitiven Bedürfnisse befriedigt sehen. Diese libidinösen
Wünsche, die in die Therapie eingebracht werden, können oral,
anal, phallisch und sexuell sein.
Oral-sexuelle Patienten möchten gerne von ihrem Therapeuten verwöhnt
und verhätschelt werden. Sie bieten die Rolle des Kleinkindes an;
der Analytiker aber soll der allmächtige Vater oder die allgütige
Mutter sein. - Anale Patienten möchten ihren Eigensinn durchsetzen,
Trotz abreagieren, sich in einen Machtkampf einlassen, bei dem sie unbedingt
die Oberhand haben wollen. Phallische Patienten verwandeln die Therapiesitzung
in theatralische Darbietungen, frönen ihrer Eitelkeit, die sich allerdings
auch als Demut und Kleinheitsgebaren maskieren kann. - Sind Analytiker
und Analysand verschieden geschlechtlich, dann kann sich auch eine sexuelle
Spannung ins Geschehen einmischen. Der Analysand oder die Analysandin wollen
mit dem therapeutischen Mentor eine Liebesbeziehung eingehen. Man sehnt
sich nach Zärtlichkeit und arrangiert es mitunter so, daß die
analytische Situation zu einer sexuellen wird.
Freud riet dringend davon ab, solchen Wünschen der Patienten zu
entsprechen. Der Analytiker solle am Realitätsprinzip festhalten.
Geht er auf libidinöse Wünsche seines Gegenübers ein, dann
ist die Behandlung am Ende. Man kann nicht ernstlich therapieren, wenn
nicht die ärztliche Distanz eingehalten wird.
Manche Freudschüler kämpften gegen dieses Abstinenzprinzip
an. Z.B. Sandor Ferenczi war der Meinung, daß Neurotiker in ihrer
Kindheit so schlecht geliebt wurden, daß man in der Therapie ihnen
auch Liebe und Zärtlichkeit geben müsse. Ein solches Verfahren
ist aber gefährlich; denn wenn man mit Zärtlichsein beginnt,
dann weiß man kaum, wo derlei endet."