Internetausgabe Teil 2 §. 9-13, S. 53-137
zum 200 Jahres Jubiläum am 1.1.2003
Reil, J. C. (1.1.1803).
Rhapsodieen über die Anwendung
der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen.
Halle: Curt’sche Buchhandlung.
Übertragen von Irmgard Rathsmann-Sponsel (SGIPT), Funktorenkennzeichnungen von Rudolf Sponsel (SGIPT), Erläuterungen zur Darstellung, Erstausgabe Teil 2 Internet 31.5.2, Letztes Update 04.06.02
* Überblick Reil in der IP-GIPT * Biographie+Porträt * Historischer Rahmen *
Ich fange mit dem Selbstbewußtseyn, diesem in der Anschauung einfachen, aber in der Zergliederung höchst verwickelten Produkt unserer Seelenkräfte an, das gleichsam die Grundveste unserer ganzen moralischen Existenz ausmacht. Denn was wären wir ohne dasselbe? Ein leeres Gleichniß des Spiegels einer See, die [54] auch die fliehenden Gegenstände abkontrefeit, aber die aufgenommenen Bilder nicht festhalten, nicht als Eigenthum sich aneignen kann.
Das Wesen des Selbstbewußtseyns scheint vorzüglich darin zu bestehn, daß es das Mannichfaltige zur Einheit verknüpft, und sich das Vorgestellte als Eigenthum anmaßt. So klar wir uns unserer bewußt sind, so wenig sind wir es uns bewußt, wie es zugehe. Ich will es daher versuchen, diesem Vermögen der Seele durch eine Analogie aus dem Gebiete der Organisation näher zu treten. Der Mensch hat Individualität, wenn er gleich höchst theilbar; Einheit, wenn er gleich ein Aggregat der fremdartigsten Organe ist. Knochen, Knorpel, Muskeln, Drüsen, Eingeweide, wie verschiedner Natur sind nicht diese Dinge? Dazu kömmt noch, daß wir jede derselben als einen isolirten Körper betrachten können, der durch sich eine bloß mechanische, keine, dynamische Verknüpfung mit dem andern hat. Erst durch das Nervensystem, an dessen Schnüre sie aufgereiht sind, kommt Einheit in diese große Mannichfaltigkeit. Aeste desselben sammlen einzelne Parthieen zu Sinnorganen, Eingeweiden, Gliedern u. s. w. auf, und dann erst werden diese verschiednen Getriebe, durch das Gehirn, als den Hauptbrennpunkt des Nervensystems, zu einem Ganzen zusammengehängt. Dieser Einrichtung, die das mannichfaltige Körperliche zu einem Individuum erhebt, scheint die Ursache [55] des Selbstbewußtseyns verwandt zu seyn, das den geistigen Menschen, mit seinen verschiednen Qualitäten, zur Einheit einer Person zusammenfaßt. Die durch den gesammten Organismus ausgestreckten Aeste des Nervensystems bewirken die Individualität des Körpers, das Gehirn desselben, von dem sie ausgehn, und wo sie wieder zusammenstoßen, die Persönlichkeit. Daher rührt es, daß der Geist jeden Stoff, der ihm gegeben wird, seiner Organisation gemäß verarbeitet, und überall Einheit in das Mannichfaltige zu bringen sucht. Er wickelt im Selbstbewußtseyn den unermesslichen Faden der Zeit in einem Knaul zusammen, reproducirt abgestorbne Jahrhunderte und faßt die ins Unendliche ausgestreckten Glieder des Baums, Bergketten, Flüsse, Wälder und die am Firmament hingestreuten Sterne in das Miniaturgemälde einer Vorstellung auf. Er fühlt sich gleichsam selbst in jeder Vorstellung, bezieht, was vorgestellt wird, auf sich, als den Schöpfer desselben, und behauptet dadurch ein Eigenthumsrecht über die Welt außer ihm, so weit sie vorstellbar ist. In dem Vorgestellten unterscheidet er blitzschnell Subject und Object, und faßt beides eben so schnell, als Veränderungen in sich, wieder in einem Punkt zusammen. Er schaut endlich die Welt im Raume, und die Phänomene seiner Seele in der Zeit an, verknüpft diese Formen der Anschauung mit sich in richtigen Verhältnissen, und faßt dadurch die Zeit [56] und den Raum auf, in welchem er sich wirklich befindet. Von dieser Gruppe mannichfaltiger Erscheinungen, die durch das Selbstbewußtseyn wirklich werden, sind bald diese bald jene Parthieen mehr erleuchtet.
1) Bald sind wir uns der Vorstellung, als einer Veränderung in uns, in welcher das Mannichfaltige zu einem Bilde synthetisch verknüpft ist, mit vorzüglicher Klarheit bewußt. Ueberschreitet dies einseitige Bewußtseyn die Norm: so entsteht ein Zustand, in welchem der Mensch weder das Subject noch das Object mit nöthiger Klarheit beachtet.
2) Oder das Object sticht hervor und das Subject tritt im umgekehrten Verhältniß ins Helldunkel zurück. In diesem Zustande ist der Kenner, der ein schönes Kunstwerk anstaunt.
3) Dann kann das Subject auf dem Tableau am stärksten erleuchtet seyn. Je klärer dies geschieht, das Ich gleichsam in sich selbst zurückkehrt, desto mehr ist die Anschauung der Welt im Schatten gestellt. Neben der Vorstellung des Objects bewirkt die Seele noch eine andere ihrer selbst, sie denkt sich als Schöpferin der Vorstellung, und unterscheidet in derselben ihr Eigenthum von dem Antheil der äußeren Einflüsse. Sie denkt sich mehr oder weniger klar, faßt alle oder solche Bestimmungen und Verhältnisse ihres Selbsts auf, die mit dem Object in der zweckmäßigsten Verbindung stehn. Wird z. B. [57] ihr Körper durchs Gemeingefühl krank angekündiget: so ruft sie augenblicklich ihr Verhältniß zu demselben im Selbstbewußtseyn vor. Zwar sind wir uns in dem gewöhnlichen Geschäfftsgang nicht aller Bestimmungen unserer Person klar bewußt, um die Kraft nicht auf zu viele Punkte zu zerstreuen. Allein wir haben es doch in unserer Gewalt, durch Hülfe der Besonnenheit augenblicklich alle, oder doch solche persönliche Verhältnisse zur Klarheit zu erheben, die mit unserem gegenwärtigen Interesse in der nächsten Beziehung stehn. Wir denken uns unsere Eigenschaften, Grundsätze, Maximen, die Metamorphosen unseres Körpers und der Seele, die wir während unsers Lebens bis auf den gegenwärtigen Augenblick durchlaufen sind, und denken wahr, wenn uns in der That alles dies zukömmt, was wir für das Unsrige halten und in der Synthesis des Bewußtseyns mit unserer Person verbinden. Das Kind schaut auch an, es schaut sich und die Welt an, aber ohne Verknüpfung. Seine Ideen treiben losgebunden vorüber, wie die Bilder in einem Bach. Es spielt mit seinen eignen Gliedern, wie mit einem fremden Tand. Es fühlt etwas, nemlich sich, es fühlt sich mit Lust oder Unlust, die es zum Lachen oder Weinen reitzen. Aber es weiß es nicht, daß es die Person ist, die die Welt vorstellt und durch sein eignes Selbst angenehm oder unangenehm afficirt wird. Erst spät erwacht es aus diesem Zustand der Ungebundenheit und lernt das [58] große Geheimmniß, sein eigenes Ich, verstehn. {RS S58}
4) Der Mensch schaut die Objekte des äußeren Sinnes unter der Form des Raumes und die Objekte des inneren Sinnes unter der Form der Zeit an. Es fasst das räumliche Verhältniß seines Körpers zu den Gegenständen in dem unbegrenzten Totalraum im Bewußtseyn auf, und bestimmt sich dadurch in Rücksicht des Orts, den er wirklich einnimmt. Den wahren Zeitpunkt, in welchem er ist, hält er dadurch fest, daß er den gegenwärtigen Moment mit der Vergangenheit und Zukunft in seinem natürlichen Fortschreiten vorstellt. Auf diese Art ist er im Stande sein eignes Selbst als eine in Zeit und Raum bestimmte Person vorzustellen. Dies Bewußtseyn ist wahr, wenn er sich wirklich in dem Theil des Raums und in dem Moment der Zeit befindet, in welchem er sich als existirend denkt.
5) Wir haben endlich ein Bewußtseyn der Vergangenheit und knüpfen alles, was von der Welt zu unserer Erkenntniß gelangt ist, alle Catastrophen unseres körperlichen und Seelenzustandes, die unser Gedächtniß und die Phantasie reproduciren, an das nemliche beharrliche Ich, an welches wir unsern gegenwärtigen Zustand knüpfen. Wir schaun als die nemliche Person von dem gegenwärtigen Moment, bis zum ersten dunklen Punkt unserer Existenz rückwärts und immer ferner zurück, je länger wir gewesen [59] sind. Die Kreise von Begebenheiten, die uns umlagern, mehren und erweitern sich mit der Fortdauer unseres Lebens, wie die Kreise auf einer See, die von einem Steine erschüttert ist. Und diesen individuellen Abschnitt, dessen wir uns, als mit uns verknüpft, bewußt sind, scheiden wir von der unendlichen Totalfolge der Dinge, als uns angehörig, ab. Ohne dies Bewußtseyn des Zusammenhangs unserer Existenz würden wir unbedeutende Ephemeren des gegenwärtigen Augenblicks und gleichsam in so viele Personen zersplittert seyn, als wir Grade an dem großen Rade der Zeit durchlaufen sind. Dennoch ist dies Ich, das in unserem Bewußtseyn mit so vieler Beharrlichkeit fortdauert, in der Wirklichkeit ein höchst veränderliches Ding. Der Greis glaubt, er sey es noch, der vor achtzig Jahren auch war. Doch ist er nicht mehr derselbe. Kein Atom ist von dem allen mehr da, was vor achtzig Jahren war. {RS S59} Die Zeit hat, mit jedem Schritte vorwärts, an seiner Seele und an seinem Körper genagt, ihn mehr als einmal ganz umgeschaffen, moralische und physische Vollkommenheiten in ihm entwickelt und sie wieder zerstört. Er sieht auf die durchlaufene Bahn wie auf eine zusammenhängende Linie zurück, obgleich der Schlaf und längere Epochen von kranker Bewußtlosigkeit überall große Lücken in seinen Lebensfaden eingeschnitten haben. In der That eine seltsame Erscheinung, dieser feste Glaube, daß wir [60] immer dieselbe Person bleiben, da uns doch von der Erfahrung die handgreiflichsten Beweise des Gegentheils aufgedrungen werden. In dem Räumlichen der Organisation ist die nemliche Aufgabe gegeben. Wir glauben von unserer Geburt an bis zu unserem natürlichen Lebensziel immer in dem nemlichen Körper zu bleiben. So wie unsere Person uns selbst nicht unbekannt wird, so wird auch unser Körper keinem in der Familie unbekannt. Und doch hat das Kind in den Windeln mit dem Jüngling, und dieser mit dem Greise keine Aehnlichkeit mehr. Der Anflug geschah aber immer an den nemlichen Stock und die Vegetation schritt in so unmerklichen Graden zur Entwickelung und Zerstörung fort, daß wir den ganzen Prozeß nicht gewahr geworden sind. Wahrscheinlich würde daher auch das Bewußtseyn der Succession unserer Existenz einen Stoß erleiden, wenn die Catastrophen stark seyn, Knaben mit einem Schritt ins Greisenalter hinüberhüpfen könnten. Der Organismus wechselt den Stoff, transitorisch und fortschreitend, er zerstört ununterbrochen und schafft wieder, was er zerstört hat. Er nähert seine neuen Schöpfungen dem ursprünglichen Typus soweit wieder an, daß das Individuum fortdauert und immerhin zu den nemlichen Veränderungen fähig bleibt. Allein er nähert sie nur dem an, was er zerstört hat; erreicht dasselbe aber nicht vollkommen wieder. Daher der [61] transitorische Wechsel und in demselben der Grund unserer fortschreitenden Metamorphosen. So wälzt sich die Erde um ihre eigene Axe und giebt uns Morgen und Abend verjüngt zurück, die sie uns raubte, schreitet aber bey diesen periodischen Umwälzungen immer vorwärts auf ihrer Reise um die Sonne. So auch ihre Söhne; nur mit dem Unterschied, daß sie ihre Reise nie wiederholen, wenn sie einmal am Ziele sind.
Die Bedingungen, welche dies normale Bewußtseyn in der Organisation voraussetzt, werde ich unten weitläuftiger anzeigen. Jetzt bemerke ich bloß, daß das Nervengebäude das einzige animalische Band ist, durch welches alle übrigen Organe dynamisch verknüpft und auf Vollendung eines Zwecks angewiesen sind. In demselben müssen wir daher auch die Grundvesten des Selbstbewußtseyns aufsuchen. Jeder Theil dieses ausgebreiteten Systems muß seine Kraft, diese in richtigen Verhältnissen besitzen und mit dem Hauptbrennpunkt des Gehirns zusammenstoßen, damit sie alle, der Norm gemäß, sich auf einander beziehn und eine freie Wechselwirkung unter sich handhaben können. Dann kann jedes Getriebe für sich und hervorstechend wirken, aber auch schnell, nach freier Willkühr, wieder zur Ruhe gebracht und ein anderes, nach einer bestimmten Regel, erregt werden. Dann kann die nöthige Mannichfaltigkeit der Vorstellungen, Associationen, Willensfunktionen und [62] Bewegungen zu Stande kommen, ohne daß die Conspiration verletzt wird, in welcher dies bunte Gewühl mit der Einheit des Zwecks stehen muß. Eine Seele, der ein solches Nervensystem zu Gebote steht, kann sich auf alle Punkte zerstreun, aber augenblicklich alle Kraft wieder in sich zusammenziehn. Sie kann alles in ihrem vasten Gebiete überschaun, jeden Vorgang in demselben wahrnehmen, überall hinwirken, durch alle Sinne die Einflüsse der Welt aufnehmen, so die ganze Organisation, und durch dieselbe das Weltall beherrschen.
Soviel von dem normalen Bewußtseyn. Durch welche Symptome kündigt es sich aber im anomalischen Zustande an? Wo finden wir die Krankheit zu diesen Symptomen, und welcher Natur ist dieselbe? Wahrscheinlich müssen wir, um auch nur mit einigem Glücke etwas auf diese Aufgabe sagen zu können, die Einfachheit der Seele bey Seite setzen und fest an die Zusammengesetztheit des Nervensystems halten. Die Frage: ob auch ohne Vermittelung der Nerven Beziehungen zwischen den Theilen des Körpers, z. B. zwischen den Generationstheilen und den hornartigen Organen möglich sind, lasse ich bey Seite liegen. Allein wenn dies auch nicht wäre; so giebt es zuverlässig im Nervensystem eigne Heerde (Knoten, Geflechte) durch welche besondere Beziehungen und Zirkel zu Stande kommen, ohne daß sie auf das Gehirn stoßen und sich dem Bewußtseyn [63] mittheilen. Diese Heerde stehn zwar in der Regel, mit dem Gehirn in Gemeinschaft, aber durch Krankheiten können sie von demselben abspringen und als Rebellen- Oberhäupter ihre eigenen Züge, unabhängig von dem Gehirne, leiten. Es giebt Thiere, in deren Nervensystem bloß solche abgesonderte Heerde sind, von welchen keiner vor dem andern einen Vorzug hat, und welche nirgends in einem gemeinschaftlichen Brennpunkt gesammlet werden. Diese Thiere kann man gleichsam als Multiplikate mehrerer, aneinandergereihter, und zwar so vieler Thiere betrachten, als Nervenheerde, von gleicher Dignität, in ihnen vorhanden sind. An einigen, z. B. den Bandwürmern, ist diese Vervielfältigung der Individualität sogar auf ihrer Oberfläche sichtbar.
Solange der Mensch gesund ist, sammlet das Nervensystem seine durch die ganze Organisation ausgestreckten Glieder in einem Mittelpunkt. Dadurch wird das Mannichfaltige zur Einheit verknüpft. Allein die Angel der Verknüpfung kann abgezogen werden. Das Ganze wird dann in seine Theile aufgelöst, jedes Getriebe wirkt für sich, oder tritt mit einem anderen, außerhalb des gemeinschaftlichen Brennpunkts, in eine falsche Verbindung. {RS S63}Der Körper gleicht einer Orgel; bald spielen diese bald jene Theile zusammen, wie die Register gezogen sind. Es werden gleichsam Provinzen abtrünnig, man verzeihe mir diese bildliche Sprache, die man in der Psy- [64] chologie nicht entbehren kann. In diesem Zustande muß die Synthesis im Bewußtseyn verloren gehn. Die Seele ist gleichsam von ihrem Standpunkt weggerückt; unbekannt in ihrer eigenen Wohnung, in welcher sie alles umgestürzt findet, hat Mast und Ruder verlohren und schwimmt gezwungen auf den Wogen der schaffenden Phantasie in fremde Welten, Zeiten und Räume, glaubt bald ein Wurm bald ein Gott zu seyn, lebt in Höhlen oder Palästen und versetzt sich in Zeiten die nicht mehr sind, oder noch kommen sollen.
Das kranke Bewußtseyn hat mancherley Gestalten, je nachdem diese oder jene Beziehungen desselben, allein oder hervorstechend, afficirt sind. Zuerst will ich seiner Anomalieen erwähnen, sofern sie sich vorzüglich durch ein fehlerhaftes Bewußtseyn der Objektivität äußern. Diese Anomalieen entstehn von einem Fehler der Seele oder der Sinne; diese wirken entweder gar nicht oder falsch, jene nimmt die Eindrücke derselben nicht wahr. Der kranke Zustand ist übrigens dem Grade nach verschieden, bald einfach, bald zusammengesetzt. In der Vertiefung geht die ganze Kraft der Seele vorwärts in der Meditation, daher sie die Außendinge nicht beachtet und an äußerer Besonnenheit Mangel leidet. Eben so verhält es sich im fixen Wahnsinn, in dem cataleptischen Hinstarren der Seele auf ein Object, in der Entzückung [65] und im fieberhaften Irrereden. Der Kranke nimmt entweder gar nichts von allen dem wahr, was um ihn herum vorgeht, oder er nimmt die äußeren Gegenstände falsch wahr, und unterscheidet sie nicht genau von den Phantomen, die seine Phantasie ausheckt. Endlich gehört noch der Traum hierher, in welchem die Sinnesorgane schlafen, und daher den Träumer nicht an die Welt heranziehen können. Er wird bald über sein Verhältniß zu derselben mit sich uneins, verliert seinen wahren Standpunkt in der Zeit und im Raume, schwimmt fort in das Reich der Möglichkeiten, und hält die Bilderwelt seiner Phantasie für eine reale Welt außer derselben. Je mehr er sich dem wachenden Zustande nähert, desto mehr kehrt das Bewußtseyn zurück. Der Nachtwandler ist nicht ganz ohne Bewußtseyn seiner Objektivität. Sonst würde es ihm seyn, als wenn er in einem absolut leeren Raume schwebte, wo nirgends fester Fuß gefaßt werden könnte. Er würde nicht gehen, stehen oder eine Sache ergreifen können. Die Eindrücke der Außendinge, wie sie auch auf ihn einfließen mögen, wahrscheinlich durch bloße Reflexion in der Nervenorganisation, ertheilen seiner Phantasie in jedem Moment eine andere Richtung. Doch ist es sonderbar, daß er nur solche Dinge durch die Sinnesorgane wahrnimmt, die mit seinem Traumbilde in Beziehung stehn. Er fühlt feiner als ein Wachender, denn sein Gefühl dient ihm statt des [66] Gesichts. Dennoch bringen starke Reize auf dasselbe ihn nicht zum Erwachen, sondern er entflieht oder schlägt um sich. Der Bediente des berühmten Nachtwandlers A. Forari rieth den Zuschauern der nächtlichen Actionen seines Herrn leise zu gehn und nicht zu reden, weil er wüthend würde, wenn ein um ihn her entstandenes Geräusch sich in seine Träume mischte [FN-S66*)]. Die Ursache davon ist die, daß diese Reize dem Nachtwandler fremd sind, weil sie nicht in das Luftgebilde seiner Phantasie passen. Er hält sie für Ungeheuer, die er zu bekämpfen, oder denen er zu entfliehen sucht. Eben diese Kranken, die in gewissen Beziehungen ein so äußerst zartes Gefühl haben, sind gegen andere Reize so gefühllos, daß man ihnen, wie Monboddo [FN-S66**)] beobachtet hat, eine Nadel in den Arm stechen kann, ohne daß sie Schmerz äußern. Er folgert hieraus, daß die Seelen der Nachtwandler zur Zeit des Anfalls auswanderten. Allein schwerlich möchten die Emigranten dann zurückkehren. Vielmehr scheint es, daß die aufgehobne Synthesis ihres Bewußtseyns in der genausten Parallele stehe mit der aufgehobnen Verknüpfung, die die Getriebe der Organisation im Gehirn haben. [67]
Auch im Schlafreden, das dem Nachtwandlen sehr nahe liegt, ist der Mikrokosmus aus seinen Angeln gehoben. Einige Getriebe ruhn, andere wirken, aber ohne Verbindung im Hauptbrennpunkt, sondern durch partielle Associationen unter sich. Das Vorstellungsvermögen producirt, der Wille wirkt, aber nur auf denjenigen Theil des Muskelsystems, der die Sprachorgane regiert. Alle übrigen Getriebe sind ausgehoben aus der Angel, durch welche die Gemeinschaft des Ganzen bewirkt wird. Im Arzte [FN-S67*)] wird die Geschichte zweier Schwestern erzählt, die beide Nachtschwätzerinnen waren, und im Schlaf Gespräche miteinander wechselten. Hier war den gangbaren Getrieben noch ein drittes, das Gehörorgan associirt, durch welches einige Außenverhältnisse aufgefaßt und mit den Spielen der Phantasie in Beziehung gesetzt wurden. Eben weil diese Schlafredner von der Welt schwach oder gar nicht afficirt werden, und selbst die meisten Getriebe ihres Körpers stillstehn: so kann sich die Kraft desto stärker in den gangbaren Getrieben vereinigen. Denn diese Träumer produciren oft sublime Gedanken, eigenthümliche Reflexionen, Vorhersagungen scheinbar zufälliger Dinge, die ein prophetisches Ansehn gewinnen, den Pöbel im Reiche des Denkens in Verwunderung setzen, und eine übernatürliche Kraft ahn- [68] den lassen. Ein Jesuit predigte im Schlaf mit großer Lebhaftigkeit, trug die geistreichsten Sachen vor, und klärte dunkele Gegenstände mit so vielem Scharfsinn auf, daß des Nachts sich viele Personen um sein Bette versammleten, um von seiner Gelehrsamkeit Nutzen zu schöpfen [FN-S68*)].
Das Selbstbewußtseyn kann in Ansehung der Subjektivität und der eignen Persönlichkeit erkranken. Schlafen wir in einem Zimmer, in welchem eine Wanduhr hängt, ohne daran gewöhnt zu seyn, so hören wir beim Erwachen ihre Schläge, zählen sie wohl gar, ohne zu wissen, daß wir es sind, die zählen, und daß es eine Wanduhr ist, die diesen abgemessenen Ton verursacht. Wir haben zwey klare Ideen, die eines tönenden Körpers, die andere eines Wesens, das zählt, ohne im Stande zu seyn, die äußeren Eindrücke in ein richtiges Verhältniß mit unserer Person zu stellen. In Anwandelungen der Schwäche weiß der Mensch, daß gehandelt wird, aber es dringt sich ihm nicht ungesucht auf, daß er es sey, der handle, sehe, höre, rede. Er muss durch Versuche und Schlüsse gleichsam erst seine Existenz und die Art derselben ausmitteln. Wenn jemanden im Vortrage der Schlaf überfällt, so hört er sich gleichsam als einer dritten Person zu, und beurtheilt [69] seine Rede nicht in dem Moment, wo sie gedacht, sondern erst wo sie gesprochen wird. Seine Persönlichkeit ist gleichsam verdoppelt, mit der einen redet er, mit der andern horcht er der Rede zu. Auch in Nervenkrankheiten, z. B. nahe vor einer Ohnmacht, unterscheiden wir die Subjektivität und Objektivität nicht scharf und schnell mehr, sondern werden von ihnen so schwach afficirt, daß wir an beiden zweifeln und uns immer fragen müssen, ob wir träumen oder Realitäten wahrnehmen, ob wir es sind, die empfinden und handeln, oder bloße Zuschauer des Empfindens und Handelns eines andern sind. Wir hören den Laut unserer Sprache, sind aber ungewiß, ob dies wirklich unsere oder eines anderen Sprache sey. Wir fassen bloß die Bilder, die uns durch das Auge mitgetheilt werden; den Sinn der Schrift und der Rede fassen wir nicht mehr. Die Seele schwebt gleichsam in einem Nebel, in welchen sie theils sich selbst nicht finden kann, theils die Gegenstände wie aus weiter Ferne wahrnimmt. Als der selige Oberbergrath Goldhagen aus einem Anfall seiner letzten Krankheit, in welchem er abwechselnd an Schlafsucht und Irrereden gelitten hatte, am Morgen erwachte, und mehrere Personen seiner Familie um sein Bette saßen, trat auch sein einziges Kind, das er sehr liebte, herein, ihm einen guten Morgen zu wünschen und sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Ey, sagte er, liebes Kind! in- [70] dem er es an der Hand faßte, ich bin zwar nicht das, was man gesund nennt, doch hoffe ich es bald zu werden, da meine Besserung von Stunde zu Stunde zunimmt. Den großen Arzt seine eigne Gefahr verkennen, und den zärtlichen Vater vielleicht so bald von seinem Liebling getrennt zu sehen, rührte die Anwesenden so sehr, daß sie in Thränen ausbrachen, und einer nach dem andern die Stube verließ. Diese Scene machte auf den Patienten einen so starken Eindruck, daß er dadurch augenblicklich zum vollen Bewußtseyn seines Zustandes kam. Der Contrast, sagte er mir, den die traurigen Gesichter mit meiner geäußerten Hoffnung einer baldigen Genesung machten, wirkte so lebhaft auf mich, daß ich auf einmal aus meiner Verirrung in Ansehung meiner selbst zu mir kam. Ich habe mir diese Nacht viel mit einem gefährlichen Kranken zu schaffen gemacht, an dessen Genesung mir und meiner Familie sehr gelegen war. Ich wußte es, daß er in meinem Hause lag, suchte ihn von einem Zimmer zum andern, nahm eine Person nach der andern von meinen Hausgenossen vor, fand ihn aber nirgends. Jetzt sehe ich, daß ich selbst der Kranke gewesen bin. Dann nahm er verschiedne Geschäffte vor, die theils viele Seelenkraft, theils eine genaue Besonnenheit auf alle Umstände der Personen voraussetzten, mit welchen er sie verhandelte, und fiel nachher wieder in seinen vorigen Zustand von Bewußtlosigkeit [71] zurück [FN-S71*)]. Goldhagen hörte, sah und urtheilte über sich. Doch kam er erst zum vollen Bewußtseyn seines Zustandes durch die bemerkte Disharmonie zwischen seinen Aeußerungen und dem Ausdruck auf den Gesichtern der Anwesenden. {J-HM-S71} [F02] Welche feine Scheidewand trennte jenen Menschen von diesem? Was wurde in jenem abgeändert, um diesen daraus zu machen? — Einer melancholischen Frauensperson wurde eine Reise zur Zerstreuung vorgeschlagen. Sie packte ein, nahm Abschied, fuhr zwey Tage lang, und äußerte oft ihren Unwillen über die Beschwerden langer Reisen. Nun warf der Wagen um, und in diesem Augenblick kam sie erst zum vollen Bewußtseyn. Wo bin ich, rief sie aus, wo sind Mann und Kinder? Erst jetzt sehe ich klar, was ich vorher nur träumte, daß ich von meiner Vaterstadt getrennt und in unbekannte Gegenden verschlagen bin. [F03] {J-HM -S71b}Pinel [FN-S71**)] forderte einen Wahnsinnigen von gebildetem Geiste mitten in einem Anfall chimärischer Ausschweifungen auf, auf der Stelle einen Brief zu schreiben. Es geschah; und der Brief war voll Sinn und Verstand. [F04]
Eine andere Anomalie des Selbstbewußtseyns der Subjektivität besteht darin, daß wir [72] entweder unsere Persönlichkeit bezweifeln oder unser Ich mit einer fremden Person verwechseln, fremde Qualitäten uns anmaßen und unsere eigenthümlichen Zustände auf andere verpflanzen. In einer Gesellschaft schwärmender Studenten befand sich einer, dessen Vater gestorben war. Als der Wein zu berauschen anfing, brach plötzlich ein anderer in ein lautes Weinen aus, weil er fest des Glaubens war, er sey derjenige, dem der Vater gestorben sey. [F05] — Eben diese Wirkung hatte der Wein auf einen Wirtembergischen Beamten. Sein Schreiber wollte ihn die Treppe herunter führen, allein er schämte sich dessen, riß sich loß und fiel der Länge nach herunter. Der Schreiber sprang zu, half seinem Herrn wieder auf, und als er wieder auf den Beinen stand, bedauerte er den Fall des Schreibers, und erkundigte sich angelegentlich, ob er auch Schaden genommen habe [F06] [FN-S72*)]. — [F07] Ein Candidat, der erst aus dem Irrenhause entlassen war, saß an einem schönen Frühlingsabend am Abhange des Ufers, wo ein vorüberfließender Strom eine Krümmung bildete. Eine lange hagere Figur. Sein Haar floß in schlichten Locken um sein Haupt und ein Zug des Tiefsinnes schien der herrschende in seiner hohlen, aber [73] scharf gezeichneten Physiognomie zu seyn. Starr sah er vor sich hin in den Fluß, seinen Kopf auf den rechten Arm gestützt. Es schien als beobachtete er seinen Schatten, den der glatte Spiegel des Stroms im Wiederschein der Sonne zurückwarf. Sie scheinen in tiefes Nachdenken versenkt! so redete ein Vorübergehender ihn an. Ich weiß nicht, sagte er, mit langsam abgemessenem Tone, den Zeigefinger an die Nase haltend, bin ich das in dem Strome dort, oder das, indem er auf sich deutete, was hier in den Strom sieht? Was Sie dort sehn, antwortete ihm der Vorübergehende, scheinen Sie zu seyn: was hier sitzt, sind Sie. Nicht so? Scheinen Sie zu seyn, fiel er ein: Ja wohl, scheinen: Scheinen, das ists! Ich scheine mir zu seyn! Wer doch wüßte, ob und was er wäre! Sind Sie nicht fuhr der Vorübergehende fort, wenn ich fragen darf, Herr **? Sie nennen mich so: Ja es gab eine Zeit, wo ich war, wo ich ganz innig, so wahr, so lebendig mich fühlte. Ich war — jetzt fuhr er auf — der Geist der Welt, einmal der Verderbende. Ich ballte den Donner in meiner Faust, Kraft des Sturms ging vor mir her, mein Athem war Flamme und die Elemente rüttelte ich zusammen in wilder Zerstörung. Hier zogen sich seine Muskeln krampfhaft zusammen, seine Augen rollten fürchterlich. Dann, fuhr er mit anderer Stimme und andern Geberden fort, dann war ich der gute, der freundliche Geist, mein Leben Eine [74] Melodie, mein ganzes Wesen aufgelöst in unaussprechliches Gefühl süßer, stiller, überschwenglicher Ruhe und Seligkeit. Alle Segnungen des Himmels und der Erde flutheten sanft in mir, aus mir, in mich zurück. Aber nun, so endete er, nun ists vorbey; nun bin ich der Schatten eines Traumes, verlohren in der Unendlichkeit, suche mich, und finde mich nirgends. O! über den Wahn des Daseyns. Thränen schlichen jetzt von seinen Augen und schlossen diese rührende Scene [FN-S74*)].
[F08] Die Phänomene der umgetauschten Persönlichkeit sind so merkwürdig und alle Versuche, sie psychologisch zu erklären, so unfruchtbar, daß ich mich nicht entbrechen kann, noch ein interessantes Factum dieses Zustandes zu erzählen. Ein junges und gefühlvolles Mädchen in Stuttgard, sagt Gmelin [FN-S74**)], war von ihrem Geliebten durch Land und Meere getrennt. Sie litt also, und war für analoge Eindrücke des Trübsinns höchst empfänglich. Um die nemliche Zeit brach die französische Revolution aus. Sie las nichts als grausende Scenen, die durch Feuer und Schwerdt, Zwietracht und Bürgerkrieg im Innern Frankreichs entstanden, hörte von zahl- [75] losen Schlachtopfern, die unter dem Beile des Henkers fielen, und sah täglich Flüchtlinge, die in dem Gasthof zum Römischen Kaiser in Stuttgard einkehrten. In dieser Stimmung ihrer Seele bekam sie ein Fieber, das nach einigen Tagen ohne Crise verschwand; und von dem Augenblick an fiel die Krankheit auf ihr Seelenorgan. Sie bekam einen periodischen Wahnsinn, in welchem sie ihre wahre Persönlichkeit verlohr, und dieselbe mit einer fremden umtauschte. Sie hielt sich für eine auf der Flucht begriffene Französin, die bey ihrem Durchgang durch Stuttgard krank geworden sey, und daselbst im Römischen Kaiser logiere. Die Anfälle traten plötzlich ein. Mit ihrem Eintritt brachte sie ihre sämmtlichen Verhältnisse mit ihrer fixen Idee in das vollkommenste Ebenmaaß. Ihre äußere Besonnenheit, Urtheilskraft, ihr Scharfsinn, Witz und Gedächtniß, kurz ihre sämmtlichen Seelenvermögen, waren eher gespannt als abgestumpft, aber nicht mehr Eigenthum des Stuttgardter Mädchens, sondern zum ausschließlichen Gebrauch der flüchtigen Französin da. Das ganze um sie versammelte Personal wurde, wie durch den Zauberstab einer Fee, in ein anderes verwandelt. Sie hielt die Anwesenden für Bekannte, die von Frankreich kamen oder dahin gingen, für andere Reisende, oder auch für Stuttgardter Einwohner, die sie als eine kranke Fremde, in ihrem Gasthof aus Höflichkeit besuchten. Sie sprach augenblicklich [76] französisch, wenn der Paroxismus begann, mit einer unglaublichen Fertigkeit, nahm den Ton, die Eleganz und alle Manieren einer Französin so natürlich an, daß es Erstaunen erregte. Mit Personen, die die französische Sprache schlecht oder gar nicht redeten, sprach sie teutsch, aber teutsch- französisch, mit einer unnachahmlichen Fertigkeit. In den ersten Anfällen fiel ihr gar die teutsche Sprache, als wenn sie dieselbe erst erlernet hätte, schwer, hingegen redete sie ihre eingebildete Muttersprache in dem nemlichen Athem mit großer Fertigkeit. Sie konnte in den Anfällen an kein Verhältniß, z. B. an ihre Geburt, erinnert werden, das von der Stuttgardter Persönlichkeit unzertrennlich war; hingegen lagen alle anderen Reminiscenzen, die mit derselben in keiner solchen Verbindung standen, zu ihrem Gebrauch im Gedächtniß da. Sie beklagte sich über ihr unglückliches Schicksal mit Worten, in einem Ton und mit einer Miene des tiefsten Leidens, die allen Anwesenden das Herz brach. Zu andern Zeiten scherzte sie mit vieler Naivität. Ihr kurzsichtiger Arzt sah ihr einmal zu nahe ins Auge, um dessen Zustand zu erforschen. Warum das? fragte sie. Ich bewundere, antwortete er, ihren schönen großen Augenstern. Was bedeutet dieser? fragte sie. Eine große Seele, antwortete der Arzt. Dann hat ein Kalb, erwiederte sie, auch eine große Seele. Uebrigens hatten die Anfälle ihrer Krankheit noch das Merkwür- [77] dige, daß sie sich wie die Crisen magnetischer Somnambülen verhielten. Sie sagte die Zeit derselben, ihre Dauer und Zahl richtig vorher; unterschied das magnetisirte Trinkwasser von dem gemeinen; und empfand von einer magnetisirten Bouteille, die ihr gegen die Herzgrube gehalten wurde, ein großes Wohlbehagen. In den Intervallen erinnerte sie sich keines Zuges der interessanten Akte, die die Französin während der Anfälle in ihrem Kopfe gespielt hatte; in den Paroxismen nichts, was von der teutschen Persönlichkeit nicht zu trennen war. Hingegen wußte die Französin während des Anfalles alles, was sie in der ganzen Reihe derselben gedacht, gesprochen und gehandelt hatte. Die teutsche und französische Persönlichkeit waren zwey verschiedne Wesen, die keine Bekanntschaft mit einander hatten. Noch eine merkwürdige Erscheinung in ihrer Geschichte. Gmelin war im Stande mit einem magnetischen Zug seiner Hand über ihr Gesicht sie in einem Moment in ihre natürlichen Verhältnisse zu versetzen. Die Französin floh und das ursprüngliche teutsche Mädchen stand wieder da und sah sich mit einer großen Herzlichkeit erstaunt in dem Kreise ihrer Eltern, Geschwister und Bekannten um. Nun ein entgegengesetzter Zug übers Gesicht; weg war die Teutsche, und die Französin stand wieder an ihrem Platz. Denn ihr Arzt durfte sie in diesem an sich normalen, aber für den conkreten Fall abnormen Zustand [78] nicht beharren lassen, da die Zeit noch nicht verflossen war, die die Natur als Bedürfniß für sich, durch ihre Voraussagung, angekündiget hatte. Wer soll diese Geschichte erklären; der Materialist oder der Spiritualist nach den reinen Grundsätzen der Psychologie? Ich fürchte seine Kunst scheitert an diesem Phänomen. Waren hier nicht etwan die elektrischen Lebensströme mit der Beharrlichen Materie in Mißverhältniß gerathen und dadurch die Polaritäten der Organisation umgetauscht? Schon die Annäherungen der Fingerspitzen des Magnetiseurs in ihre Atmosphäre veränderten den Standpunkt ihrer Seele. Die innere positive und die äußere negative tauschten sich um.
Dann kann noch das Bewußtseyn, sofern es sich durch ein Zusammenfassen aller unserer Verhältnisse zur Einheit einer Person äußert, von der Norm abweichen. Die Angel der Verknüpfung ist gleichsam abgezogen, die Maschine in ihre Theilganze aufgelöst, jedes Getriebe wirkt abgesondert für sich, nirgends ist ein gemeinschaftlicher Vereinigungspunkt und die Produkte schwimmen losgebunden, gleichsam Niemandem angehörig, in dem Ocean des Universums herum. Die Persönlichkeit der Seele geht wie die Individualität des Körpers im Bewußtseyn verlohren. In dem Träumer wirkt die Phantasie allein; in dem Schlafredner Phantasie und Muskelsystem. In [79] der Regel wirken die Sinne zugleich und in richtigen Verhältnissen mit dem inneren Sinn. Allein in dem Nachtwandler wirken sie einzeln; sein Ohr ist taub, sein Auge blind, aber sein Gehirn ist so scharf, daß er durch dasselbe genauer als ein Wachender unterscheidet. Es entstehn die seltsamsten Irrthümer, täuschende Vorstellungen, als wenn die Seele in mehrere Personen getheilt, von ihrem Körper getrennt, als wenn alle Organe desselben ihres Zusammenhangs entbunden und als ein regelloses Chaos durch einander geschüttelt wären.
[F09:] Jene cataleptische Frauensperson hatte in ihrem Anfall das widersprechende Gefühl, als wenn sie zu einerley Zeit in ihrem Körper zugegen und nicht zugegen gewesen wäre [FN-S79*)]. [F10:] Mein ganzes Ich, sagt Herz [FN-S79**)], war mir in dem ersten Momente meiner Rekonvalescenz nicht fühlbar. Beinahe kam es mir vor, als wenn der Genesene, ein ganz anderes Subject, neben mir im Bette wäre. [F11:] Ein anderer Fieberkranker wurde, da er von seiner Fühllosigkeit erwachte, von der Einbildung geplagt, er habe sich verdoppelt. Der Eine seiner Persönlichkeit, glaubte er, läge im Bette; der Andere ginge oben in der Studierstube auf und ab. Er zwang sich, [80] bey seinem noch schwachen Appetit, zum Essen, weil er glaubte, für zwey Personen essen zu müssen, nemlich für den, der im Bette läge und für den, der oben herumginge. Dieser Wahn verlohr sich allmälig als sein Körper mehr Stärke bekam [FN-S80*)]. [F12:] Ich sah einen Ruhrkranken, dem das Gemeingefühl seinen Körper, in seine Bestandtheile aufgelöst, wie er in den Cabinettern der Anatomen aufbewahrt wird, vorlegte. Er sah sein Gehirn, seine Nerven, Sinne, Eingeweide, als in bunter Verwirrung um sich zerstreut liegen. In der Mitte war er, reflektirte über jeden Theil, vorzüglich über den Darmkanal als die Quelle seiner Schmerzen. Ein ähnliches Beispiel wird bei Mauchart [FN-S80**)] erzählt. [F13:] Ein Arzt litt an Engbrüstigkeit, hatte sich am Kreutz durchgelegen, einen brandigen Schaden am Fuß und phantasierte dabey. Seine keichende Brust nannte er das alte Weib, das heilige Bein den Unterofficier und den in Bandagen gewickelten Fuß das kleine Kind. Nie verwechselte er die Personen in dieser Dreieinigkeit. Als ihm einst sein Kreutz schmerzte, befahl er, man solle dem Unterofficier nach dem Gesäße sehn. [F14:] Endlich bildete sich noch ein Febricitant ein, daß er nicht für sich, sondern für einen andern zu [81] Stuhle gehe. Wenn er deswegen des Tages oft Oeffnung gehabt hatte, so behauptete er doch am Abend hartnäckig, Er sey noch nicht zu Stuhl gewesen.
Wir schaun die Veränderungen in uns als neben uns in, knüpfen die Reihe derselben an unser Ich, als an ein beharrliches Etwas an, das denselben zugesehen, sie aber nicht erlitten hat, und bewirken dadurch eine Continuität in der Rückerinnerung unserer Existenz. Allein auch diese Funktion des Selbstbewußtseyns kann von der Norm abweichen. Das nemliche Ich kann besondere Epochen seines moralischen Daseyns, als verschiedenen Personen angehörig, von sich trennen und dadurch die Einheit in dem Bewußtseyn seiner Existenz vervielfältigen. Darwin [FN-S81*)] [F15:] behandelte einst ein junges, geistreiches Mädchen, das um den andern Tag in eine Träumerey verfiel, in deren Anfällen jedesmal die nemlichen Ideen erwachten, von denen sie sich in den Intervallen nichts erinnerte. Eine Ideenreihe ging durch die Paroxismen, eine andere durch die Intervalle fort, als wenn beide sich durch keine Alternative unterbrachen, und die Freundinnen dieses Mädchens glaubten daher von ihr, daß sie zwey Seelen haben müsse. {RS S81} Die Nachtwandler sind sich mei- [82] stens außer dem Anfall dessen nicht bewußt, was in demselben mit ihnen vorging; erinnern sich aber der Begebenheiten der vorigen Anfälle in dem folgenden. Sie wissen es im Anfall nicht, daß sie auch noch zu einer andern Zeit, im Intervall existiren. Die Veränderungen der Anfälle reihen sich an eine; und die Erscheinungen der Intervalle an eine andere Person auf. Jede Epoche in der Succession des nemlichen Individuums wird in ein besonderes Bewußtseyn aufgefaßt. Der Zuschauer sieht nur eine, das Individuum unterscheidet in sich zwey Personen. Besonders auffallend ist diese Duplicität der Persönlichkeit in der magnetischen Somnambüle. In der Crise hat sie die klarste Vorstellung ihres körperlichen Zustandes, ein bestimmteres Gefühl ihrer Krankheit und ist dadurch im Stande, ein richtigeres Urtheil über den Eindruck der Außendinge auf dieselbe zu fällen. Sie weiß außer der Crise von allen dem nichts, was sie in derselben gethan und gesprochen hat. Allein in dem folgenden Paroxismus tritt die Rückerinnerung aller vorigen Anfälle während des ganzen Laufs der Krankheit wieder ein. Somnambülen, die in einen Doppelschlaf fallen, haben gar in der zweiten Periode des Anfalls keine Rückerinnerung dessen, was in der ersten geschah [FN-S82*)]. Die [83] Somnambüle ist in der Crise ein anderes, und ein anderes Wesen außer derselben. Außer der Crise tritt die ursprüngliche Person wieder ein, die von allen dem nichts weiß, was die Person in der Crise wußte. Der Mensch des Anfalls und der Mensch des Intervalls sind durch eine Modifikation des Bewußtseyns in zwey sich ganz unbekannte Wesen getheilt. Jedes besteht für sich und spielt seine eigene Rolle, verschieden von den andern, nur auf einerley Theater. Das Ich muß das nemliche Ich sich als nicht Ich entgegensetzen und darüber mit sich selbst in Widerstreit gerathen.
Nahe verwandt mit diesem Zustande ist ein anderer, in welchem wir uns gewisser Perioden unseres Lebens nicht erinnern, ohne daß sie bewußtlos waren, uns in Rücksicht einzelner Epochen unserer Existenz oder in der Geschichte einzelner Glieder unseres Körpers irren und uns heute für ein anderes Individuum halten, als wir gestern, gewesen sind. In Nervenkrankheiten kommen Abschnitte vor, von denen wir keine Rückerinnerung haben, und die daher wie weggeschnitten aus dem Faden des Lebens erscheinen. {RS S83} [F16:] Der Doctor Osann wurde in einem tiefen Schlaf, von einem Boten geweckt, der seines Raths für einen Kranken begehrte. Er ließ sich Licht ans Bette bringen, las die Krankheitsgeschichte, schrieb die Antwort und ein Recept, [84] und bestellte Pferde für den andern Morgen, um den Kranken selbst besuchen zu können. Dann versank er wieder in seinen vorigen Schlaf. Allein früh und niemals hat er sich von allen diesem etwas erinnern können und würde die Wahrheit des ganzen Vorgangs in Zweifel gezogen haben, wenn ihn nicht seine Handschrift davon überzeugt hätte [FN-S84*)]. Nach hitzigen Fiebern besinnen wir uns oft sehr genau des Irreredens und aller Ausschweifungen unserer Phantasie während desselben, aber schlechterdings der Periode vor demselben nicht, wo wir noch vollkommen besonnen waren. Ich habe diese Beobachtung oft gemacht und Herz bestätiget sie. [F17:] "Von der ersten Epoche meiner Krankheit, sagt er [FN-S84**)], in welcher ich Besuche annahm, und mich Stundenlang mit meinen Freunden über meinen wahrscheinlichen Tod unterhielt, erinnerte ich mir nicht das allergeringste. Diese sieben Tage sind gleichsam aus dem Register meiner Lebensstunden ausgelöscht. Hingegen ist die zweite, die acht Tage dauerte, von dem ersten Augenblick meiner Raserey bis zur Stunde meiner Genesung so lebhaft in meinem Gedächtniß aufbewahrt, daß ich Bild nach Bild und Thorheit nach Thorheit an den Fingern herzählen wollte, wenn es der Mühe lohnte." Dann kommen Fälle vor, wo wir die [85] Geschichte der Person überhaupt festhalten, aber die Wahrheit in der Rückerinnerung einzelner uns angehöriger Theile verlieren. [F18:] Einer der berühmtesten Uhrmacher in Paris, sagt Pinel [FN-S85*)], kam auf die Idee ein Perpetuum mobile zu erfinden und wurde durch diese Anstrengung verrückt. Die Hauptidee, um welche sich seine Verkehrtheit drehte, bestand darin, daß er sich einbildete, sein Kopf sey auf dem Blutgerüste gefallen, und unter die Köpfe der übrigen Schlachtopfer gerathen. Nachher habe der Richter sein Urtheil bereut, jedem seinen Kopf wiedergegeben, ihm sey aber aus Versehen der Kopf eines seiner Unglücksgefährten auf den Rumpf gesetzt. Dies beschäftigte ihn Tag und Nacht. Seht, sagte er, meine Zähne! die meinigen waren sehr schön, und diese sind faul; mein Mund war gesund, und dieser ist unrein. Welcher Unterschied zwischen diesen Haaren und jenen, die ich vor der Verwechselung meines Kopfs trug. Er wurde endlich durch eine Beschäftigung mit Uhrmachen und durch den Witz seines Gesellschafters geheilt, der das Gespräch auf das Wunderwerck des heiligen Dionysius leitete, der seinen Kopf in den Händen getragen und ihn doch geküßt haben soll. {J-HM-S85} Der Uhrmacher vertheidigte die Möglichkeit. Sein Gesellschafter lachte laut auf und antwortete ihm, in einem spottenden Ton, [86] du Narr! womit konnte der heilige Dionysius seinen eignen Kopf küssen, etwan mit der Ferse? So knüpfen auch andere Kranke, die auf Verwandelungen ihrer Person oder ihres Körpers fixirt sind, ihren gegenwärtigen Zustand fehlerhaft mit dem vergangnen im Bewußtseyn zusammen.
Endlich erwähne ich noch einer Aeußerung des kranken Bewußtseyns, wo es Zeit und Ort nicht festhalten kann. Nach dem Erwachen in einem fremden Hause müssen wir uns oft durch weitgesuchte Merkmale des Bewußtseyns unserer Person, ihres räumlichen Verhältnisses und der wahren Zeit versichern, welches sich uns im Wachen ohne Mühe aufdringt. [F19:] Der Professor Herz glaubte während seines Fiebers mit seinem Bette bald zwischen zwey engen Mauren, bald in einem Stall, bald auf einer Grabstätte, bald auf einem öffentlichen Platze vor dem Lazarethe zu seyn, und wurde von diesem Wahne nicht eher befreit, als bis man ihn aus seiner Stube in sein Lesezimmer brachte, wo die bekannteren Gegenstände das Bewußtseyn seines räumlichen Verhältnisses bald rectificirten [FN-S86*)]. [F20:] Ein Zimmermann, dessen Geschichte Araeteus [FN-S86**)] beschrieben hat, trieb sein Handwerk [87] zu Hause mit zureichendem Verstande. So bald er aber aus demselben ging, fing er an zu seufzen, sich zu ängstigen und verfiel zuletzt in eine heftige Raserey, von welcher er nicht eher geheilt wurde, als bis er in seine Werckstätte zurück kehrte {J-HM-S87}. Das Bewußtseyn seiner Persönlichkeit war so abhängig von den Gegenständen in derselben, daß er es ohne sie nicht festhalten konnte, sondern verwirrt wurde. Im Traume irren wir uns immer in Ansehung des Raums, der Zeit und unserer Person. Wir springen von einem Welttheil zum andern, von einem Jahrhundert ins andere über und spielen jede Rolle vom König bis zum Bettler; die uns die zauberische Phantasie zutheilt {RS S87a}. Eben dies geschieht im Wahnsinn, der ein Traum im Wachen ist. {RS S87b}
Zum Beschluß noch etwas über Schlaf und Traum, ein Paar Erscheinungen der thierischen Oekonomie, die soviel Räthselhaftes haben, daß sie uns in das größte Erstaunen setzen würden, wenn sie nicht so alltäglich wären. Sie stehn mit dem Bewußtseyn, dessen verschiednen Zuständen und mit dem Wahnsinn in einer so nahen Verwandtschaft, und ändern sich gegenseitig in gleichen Verhältnissen von Moment zu Moment ab, daß höchst wahrscheinlich alle diese Erscheinungen eine analoge Beschaffenheit in der Organisation zur Basis haben. {RS S87c} Wir würden daher dem Bewußtseyn und dem Wahnsinn bald auf die [88] Spur kommen, wenn wir erst wüßten, was Schlaf, was Wachen sey.
Was mag es wol für eine Revolution seyn, die erst in der Organisation vor sich gehen muß, ehe aus einem wachenden Menschen ein schlafender, aus einem schlafenden ein wachender werden kann? Zuverlässig eine sehr merkwürdige. In dem Augenblick, wo der Schlaf entrückt, und das Erwachen wirklich wird, muß der Nervenmensch mit seinen Anhängen in ein anderes Verhältniß treten, eine ganz andere Sympathie zwischen den Organen des Mikrokosmus sich begründen und das + und — der Erregbarkeit zwischen den antagonisirenden Systemen umgekehrt werden. Um uns davon zu überzeugen, dürfen wir nur einmal mit Aufmerksamkeit das wieder aufkeimende Leben beobachtet haben, welches das Erwachen in jede Faser der abgestorbenen Glieder gießt; nur einmal im Anfall des Alps, nahe an der Grenze des Erwachens, mit dem sehnlichsten Wunsch zu erwachen, herumgeirrt seyn, ohne über dieselbe treten zu können; nur einmal Zuschauer der blitzschnellen Rückkehr von den heftigsten Anfällen der Raserey und von den wildesten Zuckungen junger Mädchen, zur Zeit der Entwicklung der Mannbarkeit, zum vollen und frohen Bewußtseyn gewesen seyn.
Warum ist der Schlaf unentbehrlich? Nicht etwan deswegen, damit der Organismus durch Ruhe neue Kraft zum Wirken sammle. Gerade [89] das Organ schläft nie, das ein ganzes Säkulum wirkt, ohne auch nur eine Stunde lang auszuruhn.
Wahrscheinlich schläft bloß das Nervensystem und die übrige Organisation nur in so weit, als sie von denselben abhängig ist. Daher hören alle Geschäffte, die allein und unmittelbar von den Nerven abhängen, Bewußtseyn, Wirkung, des äußeren und inneren Sinnes und willkührliche Bewegung im Schlaf auf. Im Einschlafen sieht das Auge und das Ohr hört nicht mehr, die Seele fühlt sich, als wäre sie ohne Körper. Dann wird auch der innere Sinn geschwächt, die Bilder der Phantasie schwimmen ohne Haltung durch einander, bis auch sie verlöscht und mit dieser Catastrophe der vollkommne Schlaf begonnen ist.{RS S89}
Doch schlafen nicht alle Theile des Nervensystems zugleich sondern nach und nach ein, und erwachen eben so wieder. Auch schlafen sie nicht alle gleich tief [FN-S89*)]. Die zu Tage ausgehenden Nervenäste, denen die Sinnorgane auf der Grenze des Mikrokosmus angehängt sind, scheinen tiefer und vollkommen einzuschlafen, als die im Inneren der Organisation sich endenden Nerven, die zum Organ des Gemeingefühls bestimmt sind. Der Geschmack schläft eher ein als [90] der Geruch; das Gesicht erwacht schwerer als das Gehör; Geschmack und Geruch erwachen am spätesten. Zuerst erschlaffen die Muskeln der Extremitäten; dann die des Nackens; am längsten wachen und wirken die Muskeln des Rückens. Eben diese Succession des Einschlafens zeigt sich auch in den Nervenenden, die zu den Eingeweiden gehn.
Dieser Zustand des partiellen Schlafs ist zwar gewöhnlich nur transitorisch, aber er kann auch permanent seyn. Das Nervensystem darf nicht immer ganz; es kann auch theilweise schlafen. {RS S90} In dem nemlichen Verhältniß perenniren dann auch die Funktionen der Seele, deren Organ es ist; aber nicht alle, sondern nur einige und diese ohne Synthesis im Selbstbewußtseyn. Es sind nur einige Register des großen Kunstwerks gezogen. Diese Nerven, jene Theile des Gehirns oder des Rückenmarks wachen in dem vasten Umfang des ganzen Systems und beginnen ihre Spiele für sich. Im Traume wacht die Phantasie, aber die Sinnes- und Bewegungsnerven schlafen. Im Alp beschließt die Seele Bewegungen, aber sie erfolgen nicht, weil der Theil, der sie beginnen soll, keine Gemeinschaft mit den Beschlüssen der Seele hat. Im Schlafwandeln wacht auch dieser Theil, selbst einige Sinnorgane wachen. Von einem Soldaten erzählt man, daß ihm das geträumt habe, was man ihm [91] während des Schlafs ins Ohr sagte [FN-S91*)]. Einzelne Nerven des Gemeingefühls erwachen von anhaltendem Druck und bringen die belasteten Glieder, durch eine mechanische Reflexion in ihnen selbst, ohne Fortpflanzung zum Gehirn, in eine andere Lage. Es giebt Menschen, die reiten oder gehn und zugleich schlafen können. Galen [FN-S91**)] ging einmal des Nachts fast ein ganzes Stadium zu Fuße, schlief dabey und erwachte erst, als er sich an einem Stein stieß. In diesem Fall schläft der innere und äußere Sinn, aber einzelne Bewegungsnerven sind in partieller Thätigkeit. Die schlafenden Theile des Nervensystems erwachen nie durch Spontaneität, sondern durch Reize von außen, die entweder das Gemeingefühl oder die Sinnorgane zuführen [FN-S91***)]. Die Modifikationen des Schlafs stehn also mit den Modifikationen des Selbstbewußtseyns in parallelen Verhältnissen. Dies stirbt stufenweise ab, wie jenes stufenweise einschläft, und kehrt mit dem allmälichen Erwachen gleiches Schritts zurück. Wiederkehr des vollen Bewußtseyns und Wiederkehr des vollen Erwachens ereignen sich in einem Moment. Hier sind die Getriebe der Organisation in dem Heerd des Gehirns, dort die Vermögen [92] der Seele in dem Brennpunkt der Persönlichkeit wieder zusammengefaßt.
Der Traum ist Produkt eines partiellen Wachens des Nervensystems. Daher verhält er sich, wie sich die Extensität und Intensität dieses Zustandes verhält. Entweder die Phantasie wacht allein, oder einzelne Sinnorgane, das Bewegungsvermögen u. s. w. wachen mit. Daher der Unterschied zwischen Traum, Schlafreden, Nachtwandlen. Das Selbstbewußtseyn wankt in seinen sämmtlichen Verhältnissen. Die Phantasie ebbet und fluthet in sich selbst, kein Eindruck der Sinne zügelt sie mehr. Der Träumer hat gar keine Vorstellung seiner Objektivität, und sein Subject denkt er sich falsch. Er hält seine Gesichte für reale Objekte, und spielt jede fremde Rolle als sein Eigenthum, die ihm die Phantasie zutheilt, hält Reden, besteht Abentheuer, bekämpft Hindernisse mit Anstand. Er hält weder die wirkliche Zeit noch den wahren Ort fest, ist bald in der Vorzeit bald in der Zukunft; unter Todten und Lebendigen; durchfliegt Parasangen des Raums in einem Augenblick, und hüpft von einem Welttheil in einen andern über. Die Intensität der Kräfte ist in dem Maaße gestiegen als ihre Extensität beschränkt ist. Die Bilder der Phantasie haben die Stärke der Sinnesanschauungen. Ihr Colorit ist grell. Die Scenen sind wie vom Tageslicht erleuchtet, wenn Tagesscenen geträumt werden. [93]
In dem Grade, als das Nervensystem er wacht, nähert sich der Traum dem Selbstbewußtseyn. Einer meiner guten Freunde wurde in der Nacht durstig. Die Vorstellung dieser unangenehmen Empfindung durchs Gemeingefühl versetzte ihn in sie Gaststube eines bekannten Wirths, der mit selbstgefälliger Gesprächigkeit den Gästen die schäumenden Gläser darbot. Doch blieb der Träumer durstig. Er fragte sich selbst um die Ursache, und fand sie richtig darin, daß er die vollen Gläser nur im Traum sähe. Dann fing er an über den Traum zu reflectiren, erwog es, ob er eine Tag- oder Nachtscene träume? Es war eine Nachtscene. Der Himmel graute, das Dorf lag in Nebel gehüllt vor ihm, und ein schwindsüchtiges Licht brannte auf dem Tisch. Nun folgte ein Anfall des Alps, den der Träumer fürchtete, und nach demselben erst völliges Erwachen. Wie nah war dieser Zustand dem vollen Bewußtseyn! aber doch mußte noch ein Schritt geschehen, um dahin zu kommen.
Endlich muß ich noch einer sonderbaren Art der Träume erwähnen. Die Schauspieler treten auf, die Rollen werden vertheilt; von denselben nimmt der Träumer nur eine, die er mit seiner Persönlichkeit verbindet. Alle andere Akteurs sind ihm so fremd, wie fremde Menschen, ob sie gleich, so wie alle ihre Handlungen, Geschöpfe seiner eignen, also der nemlichen Phantasie sind. Man hört Menschen zu, [94] die in fremden Sprachen reden, bewundert die Talente eines großen Redners und erstaunt über die tiefe Weisheit eines Lehrers; der uns über Gegenstände aufklärt, von denen wir uns nicht besinnen jemals etwas gehört zu haben. Johnson stritt sich im Traume mit anderen über die Kunst, witzige Einfälle vorzutragen. Meistens wurde er von seinen Gegnern übertroffen [FN-S94*)]. Dem Herrn van Goens träumte es, in der Schule um den Sinn einer Phrasis gefragt zu werden; er konnte nicht antworten. Sein Nachbar gab alle Zeichen, daß er die Antwort wisse. Dies entrüstete jenen. Der Lehrer ermüdete, fragte endlich den Nachbar und in demselben Moment gab dieser den Sinn der Phrasis treffend an [FN-S94**)]. Lichtenberg [FN-S94***)] träumte, auf einer Reise in einem Wirthshaus an der Straße zu speisen. Ihm gegen über saß ein junger Mann, lustigen Ansehens, der seine Suppe aß, aber immer den zweiten oder dritten Löffelvoll in die Höhe warf, wieder mit dem Löffel fing und dann ruhig verschluckte. Lichtenberg machte dabey seine gewöhnliche Bemerkung, daß dergleichen Dinge, z. B. von einem Romanenschreiber, nicht könnten erfunden, sondern gesehen werden müßten. Dennoch hatte er dies in dem nemlichen [95] Augenblick erfunden. Eine junge und schöne Gräfin starb während der Geburt, sie wurde mit ihrem Kinde in einen Sarg gelegt, und mit einem Leichenwagen in ihr Familienbegräbniß gefahren. Vor dem Einsenken in die Gruft wurde der Sarg noch einmal geöffnet, die Mutter lag auf dem Gesicht, und war mit ihrem Kinde in einen Klump zusammengeschüttelt. Diese traurige Geschichte erzählte Lichtenberg [FN-S95*)] jemandem im Traume, im Beiseyn eines Dritten, dem die Geschichte auch bekannt war. Er vergaß aber den Umstand mit dem Kinde, der doch gerade ein Hauptumstand war. Nachdem er die Geschichte mit vieler Wärme erzählt hatte, sagte der Dritte: Ja und das Kind lag bey ihr, alles in einem Klumpen. Ja, fuhr er gleichsam auffahrend fort, und ihr Kind lag mit im Sarge. Wer erinnerte Lichtenbergen im Traume an das Kind? Warum schuf seine Phantasie einen Dritten, der ihn mit dieser Erinnerung überraschen, gleichsam beschämen musste? Wie kann das nemliche Ich sich in Personen theilen, die aus ihm selbst Dinge hervorlangen, von denen es nicht weiß, daß sie in ihm waren und die es als fremde Weisheit anstaunt. Wie kann es in dem Moment, wo es noch nichts weiß, es sich vorhersagen, daß es bald darauf, wo der Lehrer den Nachbar frägt, werde antworten können? [96] Warum irrt es sich nie in dem Zusammentreffen der Antwort und ihrer Erwartung? Dieser Zustand, sagt Lichtenberg, ist ein dramatisirtes Besinnen. Allein die Figuranten sind schon früher da, ehe ihr Schöpfer an den passus gelangt, wo er ihrer bedarf; auch lassen sie ihn nie im Stich, welches doch das Gedächtniß im Wachen oft thut.
Ganz analog diesem partiellen Wirken des Nervensystems im Traum und der Inversion der + und — Vitalität in den antagonisirenden Systemen ist der Zustand, der den Wahnsinn hervorbringt. In demselben träumt die Seele ohne daß der Körper schläft, die Excitation ist allgemeiner und die Norm kann nicht so schnell als beim Erwachen wieder hergestellt werden.
In welchem engen Verhältniß steht nicht das Selbstbewußtseyn mit der Organisation? Sie ist durchs Nervensystem in einzelne Getriebe aufgesammlet, die ihre besonderen Heerde haben, und diese sind wieder durch den großen Mittelheerd des Gehirns zur Individualität verknüpft. Allein diese Verknüpfung kann durch eine Modifikation der Erregbarkeit aufgehoben werden. Dann trennen sich die einzelnen Getriebe ab, ruhn oder wirken, wirken isolirt oder associiren sich, ohne Verbindung in ihrem Hauptbrennpunkt, zu eigenthümlichen Gruppen. So kann der Mensch in Anfällen des Alps, des Nachtwandelns, der Starrsucht, des Entzückens sich [97] theilweise seiner bewußt seyn; er kann handeln, sich beobachten, über sich reflektiren, ja es sogar überlegen, ob er dies alles im Traume oder als Wachender thue. Doch wacht er nicht und erkennt es erst in dem Moment des Erwachens wo die Normal- Sympathie der Getriebe des Mikrokosmus hergestellt wird, daß er nicht gewacht habe. Wir können die sublimsten Werke der höheren Seelenkräfte mit Bewußtseyn, aber auch ohne dasselbe, als bloße Automaten, verrichten. Wir können als Somnambülen die gefährlichsten Oerter ersteigen, durch reißende Ströme schwimmen, die trefflichsten Dichtungen entwerfen und in fremden Sprachen reden. Der Canarienvogel, den wir pfeifen gelehrt haben, weiß nichts von dem Verhältniß der Oscillationen, von dem Rythmus des Tacts und hat keine Ergötzung an der Modulation der Töne. Wir haben Gruppen und Züge des künstlichsten und verwickeltesten Muskelspiels in eine fremde Maschine hineingetragen, die sie mechanisch wiederhallt, wie die Aeols Harfe ihre Gesänge, wenn der Wind in ihre Saiten bläst. Der Virtuose spielt schön, weil er eine Seele hat. Aber eine Flötenuhr spielt ohne dieselbe eben so schön. Sie hatte freilich ihren Meister, aber auch ihr Meister hatte den seinigen. Der letzte Ring in der Kette der Wesen hängt an dem Bette des Jupiters. Auch Maschinen müssen die zufälligen Verhältnisse äußerer Einflüsse, wiederhallen, wenn sie [98] Empfänglichkeit für dieselben und eine solche Construktion hätten, daß ihre Reflektionspunkte durch ihre eignen Thätigkeiten nach anderen Gegenden verlegt werden könnten.
Nahe verwandt mit dem Selbstbewußtseyn ist die Besonnenheit. Jenes ist gleichsam die Grundlage dieser Eigenschaft der Seele, und diese knüpft sich wieder an die Aufmerksamkeit an. Die Besonnenheit merkt die Objekte an, die Aufmerksamkeit hält die angemerkten eigenmächtig fest. Jene ist gleichsam der Compaß auf dem Meere der Sinnlichkeit, welcher die Thatkraft der Seele auf den Zweck ihrer Glückseligkeit zusteuert. Ohne Besonnenheit würde sie entweder unverrückt, nach dem Gesetze der Stetigkeit, auf einerley Gegenstand haften, oder ohne Leitstern regellos im Universum herumflattern. Was hier in der Mitte liegt, daß keins von beiden geschieht, ist Besonnenheit. So begegnen sich Centrifugal- und Centripedal- Kraft in der Diagonale, und gängeln die Weltkörper durch den leeren Raum, daß sie die Spur, ohne sie zu haben, nie verlieren.
Was ist Besonnenheit, und worauf gründet sie sich? Sie ist Fortdauer des Wahrnehmungsvermögens der Seele, während ihrer Anstrengungen, und gründet sich auf eine Irritabilität für [99] fremde Eindrücke, die dem inneren und äußeren Sinn noch zur Zeit übrig ist, wo er auf ganz andere Dinge haftet. Die Seele wechselt ihre Geschäffte. Dies kann sie nicht ohne einen inneren und zureichenden Grund. Sie wechselt dieselben nach Regeln, die ihr die Besonnenheit an die Hand giebt. Daher die scheinbare Spontaneität in dem Gebrauche ihrer Kräfte nach den Forderungen der Vernunft.
Die Seele muß vermöge der Besonnenheit mitten in ihren Anstrengungen, ohne Abbruch derselben, dennoch ein so leises Gefühl gegen die Eindrücke der Welt und ihres Körpers, und gegen die Reproduktionen des Erinnerungsvermögens beibehalten, daß in richtigen Verhältnissen jedesmal diejenigen Gegenstände im Bewußtseyn zur Klarheit kommen, die mit ihrem gegenwärtigen Interesse in Beziehung stehn. Sie muß stättig wirken, aber nicht absolut gefesselt seyn; auf das vorhandene Object haften können und dennoch alle Eindrücke der Welt, die der Zufall vorüberführt und das leise Anpochen des Erinnerungsvermögens fühlen, die vorüberschwebenden Vorstellungen schnell beäugeln und auf der Flucht ihren Werth schätzen können. Dann läßt sie nichtige Dinge, fast ohne sich derselben bewußt zu werden, bey Seite liegen, hält sich aber auf der Stelle an, und richtet ihre Kraft auf das neue Object, wenn es von einem höhe- [100] ren Werth ist. Auf diese Art faßt sie auf, was die Vernunft aufzufassen gebietet, was in das allgemeine Interesse aller Menschen, und in ihr individuelles Verhältniß besonders einschlägt. Sie ist im Besitz einer zweckmäßigen Locomotivität, und ihr Wirken steht mit ihrer Naturbestimmung in einem so vortheilhaftem Gleichgewicht, daß jenes sich dieser gemäß äußern muß.
Man theilt die Besonnenheit in eine äußere und innere; diese bezieht sich auf die Wahrnehmung der Reproduktionen des inneren, jene auf die Wahrnehmung der Eindrücke des äußeren Sinns. Vermöge der äußeren Besonnenheit werden die Eindrücke der Welt und des eignen Körpers, sofern derselbe als äußeres Object im Gemeingefühl angekündiget wird, angemerkt und zum Bewußtseyn gebracht. Die Seele läßt, wenn sie mit irgend etwas emsig beschäfftiget ist, die Reize der Welt, als Nebelsterne in weiter Entfernung vorüberschleichen, aber dunkel merkt sie dieselben doch an, und hebt diejenigen augenblicklich aus der fliehenden Menge aus, die mit ihren Zwecken in Verbindung stehn. Die innere Besonnenheit ist die nemliche Fertigkeit der Seele in Rücksicht ihrer inneren Bestimmungen, Vorsätze, Maximen und Pflichtverhältnisse. Wir gebieten Ruhe dem Gedächtniß und der Phantasie, um alle Kraft auf einen Punkt zu sammlen, behalten aber doch für solche Reproduktionen dieser Vermögen ein leises Gehör übrig, die in [101] unser gegenwärtiges Interesse einschlagen. Indeß sind beide Arten der Besonnenheit in Rücksicht ihres Zwecks nicht verschieden, beide sind durchgehends von gleicher Stärke in dem nemlichen Individuum, erregen sich gegenseitig und stehn mit einander in beständiger Wechselwirkung. Die Welt erinnert uns an unser Pflichtverhältniß, und dies macht uns aufmerksam auf Theile unseres äußeren Zustandes, die mit demselben in Verbindung stehen.
Die Funktion der Besonnenheit ist in dem Momente ihres Beginnens unwillkührlich. Denn sie faßt auf, was der Zufall vorüberführt. Doch können wir derselben durch die Macht des Vorsatzes einen höheren Grad von Spannung mittheilen, wenn dies unserm gegenwärtigen Bedürfnisse angemessen ist. Sie ist gleichsam das Ohr des Geistes, welches wir absichtlich gegen ein Feld richten und von demselben abwenden können. In der Folge wird sie entweder gezwungen oder nach Willkühr zur Aufmerksamkeit erhoben.
Ihre Größe verhält sich, wie sich die Reizbarkeit der Seele zur Stärke der Reize verhält, die auf sie wirkten. Diese können um desto schwächer seyn, je stärker jene ist. Die Größe des Reizes hängt von der Stärke des Eindrucks, der Lust und Unlust, die er erregt, und von dem Interesse ab, das er für uns hat, sofern wir ihn als Mittel zum Zweck betrachten. Der Schuß [102] einer Kanone, das Krachen des Donners und die Amputation eines Gliedes erregt auch die trägste Besonnenheit. Nicht leicht werden wir wie Semler und Archimedes in unsern Meditationen beharren, wenn das Haus brennt oder der Feind in die Stadt eingedrungen ist. Den Jüngling arretirt mitten in den ernsthaftesten Geschäfften eine lebendige, den Künstler eine todte Figur; der Correktor vergisst den Sinn der Schrift, wenn er einen Druckfehler, der Grammatiker, wenn er einen Schnitzer in der Wortfügung ansichtig wird [FN-S102*)]. Doch müssen diese Idiosyncrasieen ihre Grenze haben, wenn die Besonnenheit innerhalb der Norm bleiben; ihr muß eine Aufmerksamkeit zur Seite stehn, die durch ein verständiges Interesse geleitet wird, wenn sie als Mittel zur Glückseligkeit wirken soll.
Die Besonnenheit kann auf mancherley Art von der Norm abweichen. Ist die Reizbarkeit des Seelenorgans zu stumpf, so schleichen schwache Eindrücke unbemerkt vorüber; ist sie zu zart, so entsteht Flatterhaftigkeit, und Kleinigkeiten fesseln uns, in Beziehung auf ernsthafte Gegenstände. Bald fehlt es an äußerer, bald an innerer Besonnenheit, oder beide stehn nicht mit einander in gehöriger Wechselwirkung. Doch kann man sich eher aus dem Handel ziehn, wenn [102] es an äußerer, als wenn es an innerer Besonnenheit fehlt. Wer heute schon seiner gestrigen Vorsätze uneingedenk ist, bleibt unbemerkt; nicht so derjenige, welcher das Taschentuch einer Nachbarin für sein Hemde ansieht. Endlich setzt die Besonnenheit ein klares Bewußtseyn unseres Sitten- und Pflichtverhältnisses voraus, damit solche Eindrücke aufgefasset werden, die mit diesen Verhältnissen in richtiger Beziehung stehn. Wir sind auf dem Wege der Narrheit, sobald es unserer Besonnenheit an dieser Beziehung fehlt, wir ihrer Anomalie nicht geständig sind, den Tadel unserer Nebenmenschen nicht achten oder uns wol gar in dem Zustande der Unbesonnenheit wohl gefallen. Diese Darstellung der verschiedenen Modifikationen der anomalen Besonnenheit leitet uns zugleich auf die Krankheiten der Organisation, von welchen sie Symptome sind. Denn in derselben müssen wir ihre Krankheiten suchen. Menge und Mannichfaltigkeit der Reize können freilich auch die Besonnenheit überflügeln. Aber dies ist nicht Krankheit, so lang es etwas Aeußeres bleibt und keinen permanenten Fehler im Inneren zurückläßt. Ihre Krankheiten entstehn also bald von einer überspannten, bald von einer zu trägen Reizbarkeit des Seelenorgans, von Schwäche desselben, oder von einem ganz fehlerhaften Mechanismus des Nervengebäudes, vom Mangel oder von falscher Cultur der Seelen- Vermögen. Dann erwähne ich [104] noch einer natürlichen Anlage des Menschen, sich durch seine Phantasie zu zerstreuen, die zur Unbesonnenheit führt. Er läßt gerne seiner Einbildungskraft den Zügel schießen, belustiget sich mit ihren Geschöpfen, hängt sich mit Wärme an dieselben und wünscht ihnen Objektivität. Allein die Besonnenheit weist ihn aus diesem Feenlande in seine natürlichen Verhältnisse zurück. Das Kind spielt den König und verleugnet seine Besonnenheit; der Narr hat sie verloren, wenn er glaubt, es wirklich zu seyn. Dem Tiefsinnigen ist sie wie dem Unglücklichen zur Last, der sie für eine Zeitlang durch berauschende Getränke zu unterdrücken sucht. Der Hypochondrist hat zu viel, der Schwindsüchtige zu wenig Besonnenheit in Rücksicht des eignen Körpers. Jenen erschüttert der unbedeutendste Zufall; dieser speit jenen Augenblick seine aufgelösten Lungen aus und merkt es doch nicht, daß sie krank sind.
Der Nachtwandler hat eine Art äußerer Besonnenheit, besonders wenn er an fremden Oertern auftritt. Beim Anfange des Spiels befaßt er die nächsten Objekte, um sich zu orientiren. Dann liegt der Ort mit allen Gegenständen, in richtigen Raumverhältnissen so lichthell in seiner Phantasie da, daß er alles vermeidet und alles ergreift, was ihm in den Weg kömmt. Das Bild des Orts in seiner Imagination ist dem wirklichen Ort so gleich und sein räumliches Verhält- [105] niß zu den Gegenständen in demselben so richtig gefaßt, daß er ohne Augen zu sehen scheint. Doch ist seine äußere Besonnenheit beschränkt auf solche Objekte, die in das Gespinnste seiner Phantasie passen; denn sonst würde er nicht nachtwandlen.
Der selige Semler hatte so wenig äußere Besonnenheit, daß man zur Probe in der Nähe seines Studirtisches eine Gardine anbrannte, ohne daß er es bemerkte. Einem Gelehrten sagte sein Bedienter, daß er sich retten möge, weil das Haus in Flammen stehe. Ey, antwortete er ihm, lasse er mich ungeschoren mit dergleichen Angelegenheiten, von denen er weiß, daß ich sie meiner Frau überlasse. Nicht weniger unbesonnen war ein anderer, der das weiße Schnupftuch einer Dame, die sich mit ihm unterredete, emsig an den Ort brachte, wohin das Hemde gehört, weil er es für sein Hemde hielt. Der große Weltweise Newton saß in einer Gesellschaft neben einem Frauenzimmer und ergriff, in Gedanken vertieft, den Finger derselben, um sich den brennenden Taback in seiner Pfeife fest zu stopfen. Erst als das Frauenzimmer vor Schmerz zu schreien anfing, entdeckte er seinen Irrthum [FN-S105*)]. Ich kenne sagt Ehrhard [FN-S105**)] einen gelehrten und vernünftigen Professor, bey dem dergleichen Streiche nichts [106] seltenes sind. Einmal wollte er einen guten Freund besuchen. Es war Mondhelle und dieser sahe ihn kommen. Vor der Thüre stand ein Fuder Heu. Der Kommende wollte gerade auf die Thüre zu, fand das Fuder Heu und versuchte, es wegzuheben. Als es nicht gehen wollte, kehrte er um, kam wieder und versuchte noch einmal, es wegzuheben, und als dies wieder nicht ging, begab er sich zu Hause. Des andern Tages fragte ihn sein Freund, was er denn gestern gemacht habe? Er wußte sich alles zu erinnern, und sagte, der Gedanke, um das Fuder Heu herumzugehen, sey ihm nicht eingefallen. Schön ist das Gemälde, welches La Brüyere [FN-S106*)] von einem höchst unbesonnenen Menschen, einem Herrn von Brancas entworfen hat. Nur einige Züge aus demselben. Menalk, so nennt La Brüyere sein Original, will ausgehen, kommt die Treppe herab, öffnet seine Hausthüre, verschließt sie hinter sich und findet jetzt erst, da er schon auf der Straße ist, daß er noch seine Nachtmütze nicht abgelegt habe. Er betrachtet sich näher und sieht, daß er noch so gut als unangekleidet sey. — Ein anderesmal geht er unter einem Wandleuchter vorbey, und seine Perücke bleibt hängen. Alle Anwesende lachen und sehen ihn an. Menalk lacht lauter als alle, und sieht sich nach dem Kahlkopf ohne Perücke [107] um. Und dieses Schauspiel gab er in den Zimmern der Königin. — Einmal als er bey einer Dame Visite machte, vergißt er bald, daß er zum Besuch gekommen ist, glaubt sich zu Hause und Besuch von dieser Dame zu haben. Der Besuch bleibt, seiner Meinung nach, lästig lange. Es ist schon tief in der Nacht, und er hat noch nicht gegessen. Er bittet also die Dame bey ihm zu Tische zu bleiben. Diese muß lachen und so laut, daß er wie aus einem Traume erwacht. — "Sie kommen mir wie gerufen, ich habe sie schon lange gesucht;" sagte er zu Jemandem, der ihm im Louvre begegnete, nimmt ihn beim Arm und durchstreicht mit ihm mehrere Säle. Nach einer Viertelstunde, wie er seinen Begleiter ins Gesicht sieht, findet er, daß er sich in der Person geirrt, und demselben nichts zu sagen habe. Es giebt Menschen, die in ihre Einfälle so verliebt sind, daß sie dieselben überall ohne Besonnenheit des Orts und ihrer Verhältnisse auskramen. Ehrhard [FN-S107*)] kannte einen solchen Mann, aus dem kein kluges Wort mehr kam, und der zuletzt wahnwitzig wurde.
Noch erwähne ich zweier Krankheiten der Seele, der Zerstreuung und der Vertiefung, die sich auf Anomalieen der Besonnenheit und Aufmerksamkeit beziehen. Der Zerstreute will alles beachten, faßt daher das Nothwendige [108] nicht auf und kann keinen Gegenstand hinlänglich festhalten. Dieser Zustand ist transitorisch, wenn er von überhäuften Eindrücken und flüchtigen Asthenieen; oder habituell, wenn er von einer permanenten Schwäche des Verstandes und der gesammten Seelenkräfte herrührt [FN-S108*)]. Die Vertiefung ist ein einstweiliger Zustand, der durch ein so festes Anheften aller Seelenkraft auf einen Gegenstand entsteht, daß außer demselben weder Sinneseindrücke noch Erinnerungen unserer Pflichtverhältnisse zum klaren Bewußtseyn gelangen. {RS S108} Sie artet in Grübeley, und diese in Grillenfängerey aus, wenn die Grübeley auf unsere Handlungen einen sichtbaren Einfluß hat. Ihre Ursachen sind verschieden. Bald fesselt die Größe des Interesses, bald Schwäche der Seele uns an einen Gegenstand. Denn ein Mensch, der zu wenig Extensität des Verstandes hat, muß sich allen andern entziehen, wenn er ein Object genau beachten will. Der höchste Grad der Vertiefung in Beziehung eines Gegenstandes, der uns durch das Interesse der Lust anzieht, ist Entzückung, in welcher die Seele gleichsam cataleptisch auf einen Gegenstand hinstarrt, und für alles andere kalt und gefühllos bleibt. Als Beispiele der Vertiefung habe ich oben schon den seligen D. Semler und Archimedes angezogen. Diesem [109] will ich noch eins, das Hoffbauer [FN-S109*)] angeführt hat, zufügen. Ich kannte, sagt er, einen Tonkünstler, der seinen Phantasieen am Clavier sich so zu überlassen pflegte, daß er nichts von allem, was neben ihm vorging, wahrnahm. Ein geschätzter Freund konnte in sein Zimmer treten, und mit offenen auf ihn gerichteten Augen sahe er ihn nicht. Das Licht konnte, wenn er des Abends spielte, verlöschen, er merkte es nicht. Einstmals, als er seine Freunde an einem Winterabende mit seinem Spiele unterhielt, löschte einer derselben aus Versehen das Licht aus. Ganz in seine Phantasie vertieft, weiß er nicht eher, daß er sich in einem finstern Zimmer befindet, als bis sein Freund nach einem vergeblichen Versuche das Licht wieder zum Brennen zu bringen, ihn in seinem Spiele stört.
Die Besonnenheit liegt also in der Mitte zwischen Zerstreuung und Vertiefung. {RS S109} Beide Zustände sind Abweichungen von ihr nach verschiedenen Richtungen. Je weiter der Mensch von dem normalen Standpunkt in der Mitte sich entfernt, desto mehr ist er an dem einem Extrem vertieft, am andern zerstreut und an beiden Enden auf dem Wege zur Verrückung. Der Zerstreute irrt unter einer Menge von Gegenständen herum, ohne einen festzuhalten; der Vertiefte kann sich von dem Objekte nicht losreißen, das [110] ihn gegenwärtig fesselt. Beide fassen daher die Eindrücke nicht auf, die sie nach ihrer gegenwärtigen Lage auffassen sollten. Doch kann der Mensch beides zugleich, zerstreut und vertieft sein. Er ist eingeschränkt auf einen gewissen Bezirk von Gegenständen, fast aber innerhalb derselben nirgends festen Fuß. Zuletzt veranlaßt ihn dieser Zustand, in dem er seines Zwecks verfehlt, über die Grenze zu treten, und führt alsdenn zur unbegrenzten Zerstreuung.
Aufmerksamkeit ist das Vermögen der Seele, ihre Kraft willkührlich an den Gegenstand zu fesseln, der durch die Besonnenheit angemerkt und aus der Menge zum klaren Bewußtseyn ausgehoben ist. Die Besonnenheit läßt den Gegenstand wieder fahren, wenn er ohne Werth ist. Erst durch die Aufmerksamkeit, die die Kraft der Seele auf einen festen Punkt anheftet, wird sie consolidirt. Dies geschieht nach einem freien Entschluß, der sich entweder auf Genuß der Lust, oder auf die Erreichung eines moralischen Zwecks gründet. Jener zieht sanft an, diese fesselt uns, auch wenn es uns Mühe macht. Die Lust wirkt stärker, und am stärksten in der Jugend. Das Alter ist schwach an Verstand und liebt die Ruhe. Daher beherrschen wir unsere Aufmerksamkeit in den [111] mittlern Jahren am freisten, wo die Vorsätze des Verstandes stark genug und dem Zuge der Lust überlegen sind.
Ihre Krankheiten sind denen gleich, die bey der Besonnenheit bereits angemerkt sind, nemlich Zerstreuung und Vertiefung. Diese überschreitet dieselbe, jene erreicht sie nicht. Sie entspringen von Schwäche des Verstandes, Mangel an Uebung und von einer falschen Schätzung des Werths der Dinge, die uns zu einer thörigten Spende unserer Kräfte verleitet.
Da die Seelenkrankheiten, wie bereits oben gesagt ist, vorzüglich durch Anomalieen des Selbstbewußtseyns, der Besonnenheit und der Aufmerksamkeit sichtbar werden; so will ich zum Beschluß noch einige Gesetze aufstellen, mit welchen diese Vermögen in Verbindung stehn.
1) Der Zustand des Selbstbewußtseyns und der Besonnenheit ist abhängig von dem Zustande des Nervensystems. Allein welcher Modifikationen ist das Nervensystem fähig, wie werden sie wirklich, wie fließen sie ein auf das Selbstbewußtseyn? Diese Aufgaben kann zur Zeit niemand vollständig aufklären; ich werde sie daher nur, und nur schüchtern umkreisen. Das Nervengebäude ist eine höchst zusammengesetzte Maschine und [112] von einer solchen Ausdehnung, daß wenn man dasselbe aus dem Menschen herausheben könnte, es als Nerven- Mensch in gleichen Umrissen dastehn und den Rückstand als ein caput mortuum zurücklassen würde. Seine peripherische Grenze ist gleich einem entfalteten Fächer gegen die Welt gerichtet. Von derselben kehrt es in sich selbst zurück und sammlet sich wie ein umgekehrter Kegel in dem Brennpunkt des Gehirns. Außer den Geschäfften, die ihm als Bewegungs-, Gefühls-, und Sinnes- Werkzeug eigenthümlich sind, hat die Natur es zum Bande bestimmt, in welchem die zum Bau eines organischen Körpers nöthige Mannichfaltigkeit von Instrumenten zur Einheit eines Individuums verschlungen sind. Es reiht die zerstreuten Organe des Körpers an seine Aeste auf, verbindet sie durch untergeordnete Heerde zu eignen Getrieben und sammlet diese, endlich alle in seinen großen Mittelheerd auf. Hier ist der Knoten der Organisation geschürzt, durch welchen sie sich als Natur- Zweck über die leblose Natur erhebt.
Außer den Kräften, die das Nervensystem von seiner beharrlichen Materie hat, wirkt in demselben höchst wahrscheinlich noch ein animalischer Lebensstrom, der nach einer gedoppelten Modifikation seine Einflüsse umtauscht. Er ebbet und fluthet, häuft sich an und zerstreut sich wieder, wogt von Pole zu Pole, bewegt sich in Zügen und Kreisen, wozu ihm [113] der Mechanismus des Nervensystems, dessen Knoten und Geflechte und seine kleinen und großen Cirkel behülflich sind. Daher die große Beweglichkeit in der Temperatur, der Nervenkräfte, die Succession ihres Wirkens in den verschiednen Getrieben und der Wechsel der Associationen und Sympathieen, die täglich von andrer Art zu Stande kommen, wenn gleich der Mechanismus des Nervensystems stättig ist.
So lang das Nervengebäude diese Construktion hat, seine Getriebe das gehörige Maaß von Kraft besitzen, endlich richtig auf einander beziehn, wirken das Gemeingefühl, der äußere Sinn, die Phantasie und das Gedächtniß der Norm gemäß; und von diesen Vermögen hängt die Integrität des Selbstbewußtseyns ab. Allein wenn diese Ordnung der Dinge, z. B. im anfangenden Schlaf, zu wanken anfängt, so wankt in dem nemlichen Verhältnissen das Selbstbewußtseyn. Sein Zustand und der Zustand des Nervensystems bestimmen sich von Moment zu Moment, stehn also mit einander in einer ursachlichen Verknüpfung.
2) Das Nervensystem hat nur dann, wenn es wirklich handelt, Kräfte zum Handeln. Wenn es feyert, so ist es auch so weit ohne Kräfte, als es feyert. Schlafende Kräfte sind Metaphern; zureichende Ursachen nicht; ohne Wirkungen. Es hat also bloß das Vermögen, in jedem Moment Kräfte zum Wir- [114] ken in sich zu schaffen. Dies geschieht wahrscheinlich durch den allgemeinen Schöpfungsproceß der Vegetation, die entweder permanent oder einstweilig ist. Jene erhält die thierische Masse als solche und ihre Fähigkeit zum thierischen Wirken, die wir mit der schnellen Zündbarkeit eines Brennmaterials vergleichen können. Diese einstweilige ist stärker, schafft die momentane Kraft zum Wirken, die ein Wirken und hier ein Vorstellen zur Folge hat. Die Phänomene, wechseln, wie der Stoff wechselt; sie wechseln am Eisen nach Maaßgabe seines Gehalts an Sauerstoff und Kohlenstoff. Warum? Das ist uns hier und überall unbekannt. Denn wir beobachten nur, was geschieht; aber nicht, warum es nothwendig so geschehen müsse. Es sind also einstweilige Vegetationen, in dem vasten Gebiet des Nervensystems möglich, die höchst wahrscheinlich mit dem galvanischen Lebensstrom in Verknüpfung stehn. An dem Ort, wo dies geschieht, wird es lichte. Es heben sich Vorstellungen, die sich auf den handelnden Theil beziehn, aus der Menge zum klaren Bewußtseyn hervor, und ziehn dadurch unsere Besonnenheit und Aufmerksamkeit an. Alles übrige schwimmt, wie die entfernten Gegenstände einer Landschaft, im Helldunkel vorüber.
Allein dies Wirken, des Nervensystems in seinen verschiednen Getrieben erfolgt nach einer festen Regel, die durch die normale [115] Vertheilung seiner Kräfte gegründet und durch das Auffassen bestimmter Objekte im Selbstbewußtseyn und der Besonnenheit angekündiget wird. Sobald dies Verhältniß der dynamischen Temperatur im Seelenorgan wankt, so wankt auch die normale Receptivität für äußere Gegenstände; es weicht die Ausbreitung der bewirkten Erregungen ab von den Gesetzen der Association. Die Angel der Verbindung ist abgezogen, einzelne Getriebe wirken für sich, Nebelsterne dringen aus der Tiefe zur Klarheit hervor, und es wird in uns eine Welt sichtbar, von der wir nicht ahndeten, daß sie in uns vorhanden sey.
Was sind dunkele Vorstellungen, Vorstellungen ohne Bewußtseyn? Chimären. Doch haben Leibnitzens Anhänger ihr Daseyn sogar durch Schlüsse bewiesen. {RS S115} "Eine Kraft, sagen sie, sey ohne Thätigkeit nicht denkbar, da ihr Wesen im Wirken bestehe. Nun äußere sich das Seelenvermögen durch Vorstellen; es müsse also auch im Schlafe vorstellen. Weil wir uns aber dessen nicht bewußt sind, so folge daraus, daß wir im Schlafe Vorstellungen ohne Bewußtseyn haben müssen." So richtig der Obersatz seyn mag, so hypothetisch ist der Untersatz, der eine permanente Seelenkraft als unbedingt nothwendig voraussetzt. Die Seele wird und vergeht in jedem Moment, wie der Körper wird und vergeht und doch derselbe bleibt. Nur wenn wir Vorstellun- [116] gen haben, haben wir die Kraft dazu; außer der Zeit bloß das Vermögen, diese Kraft schnell in uns zu schaffen. So sind auch die Wiedererinnerungen des Gedächtnisses und der Phantasie, in welchen Vermögen der gesammte Schatz unserer Erkenntnisse aufbewahrt wird, nicht etwan Produkte schlafender, sondern wiedergebohrner Kräfte. Durch die Erlernung einer Wissenschaft verschaffen wir dem Seelenorgan das Vermögen, für die Zukunft Kräfte eigenthümlicher Art zu erzeugen. Was sind die Vestigia rerum, die man zur Erklärung des Gedächtnisses angenommen hat, wo haben sie Platz genug in dem Gehirne eines Polyglotten- Schreibers, wie dauren sie fort bey dem ununterbrochnen Wechsel des Stoffs, was kömmt zu ihnen hinzu, daß sie sichtbar werden? Zuverlässig sind die vestigia rerum eben so räthselhaft, als das Problem, welches sie enträthseln sollen. Hingegen lehrt die Erfahrung, daß organische Thätigkeiten eine Anlage zur Wiederkehr der nemlichen Kräfte erzeugen, durch welche sie ursprünglich entstanden sind. In diesem Fall müssen dann auch die nemlichen Vorstellungen mit der Wiederkehr der nemlichen Kräfte wiederkehren. Es bleibt also bloß die Frage zu beantworten übrig, wie zuweilen Vorstellungen entstehn, die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht entstehn, und uns daher über ihren Ursprung in Verlegenheit setzen? Allein wenn [117] die Temperatur der Kräfte des Gehirns gesteigert, das Kraftverhältniß seiner Theile aufgelöst, die Angel der Verbindung abgezogen ist, die Getriebe einzeln und in dem Grade stärker wirken, als die übrige Maschine ruht; so müssen allerdings auch eben solche eigenartige Wirkungen erfolgen, und dunkle Parthieen in Klarheit hervorgehn, die bey einer anderen Erleuchtung des Seelenorgans nicht sichtbar werden konnten.
3) Sofern die Seelenkräfte nicht permanent sind, sondern erst durch die Vegetation geschaffen werden, läßt es sich begreifen, warum dazu eine Weile erfordert werde, wenn ein Gegenstand vermittelst der Besonnenheit zum klaren Bewußtseyn gelangen, und durch die Aufmerksamkeit gehalten werden soll. In einer weiten Landschaft erkennen wir bey einer raschen Uebersicht alles verworren, und nur die Gegenstände deutlich, auf welchen wir länger haften. Eine Kanonenkugel im Fluge wird nicht vorgestellt, ob sie gleich Fläche genug hat, weil sie in jedem Punkt des Raums eine unendlich kleine Zeit verweilt.
4) Eine Handlung in einem Theil des Nervensystems wirkt als Erregungsmittel auf einen anderen. Das Gehirn erregt den Nerven, dieser das Muskelsystem; der äußere Sinn die Thätigkeit des inneren; eine Vorstellung die andere. Die letzte Art successiver Erregungen im Seelenorgan, sofern es [118] Vorstellungen erzielt, nennen wir Association. Doch ist sie allen übrigen analog, und muß als Art unter die Gattung der Erregungen in der organischen Natur begriffen werden. Vermittelst dieser Einrichtung pflanzt sich eine ursprüngliche, von außen her erregte Thätigkeit im Nervensystem durch seine weiten Hallen, wie die kreisenden Wellen auf dem Spiegel einer stillen See fort, bis sie ausläuft. Dies geschieht nach einer Regel, die in der jedesmaligen normalen oder abnormalen Beziehung der Theile des Ganzen gegen einander gegründet ist und durch das Verhältniß der Associationen sichtbar wird. Ist sie ausgelaufen, so muß sie von außenher wieder angefangen werden, entweder durchs Gemeingefühl oder durch den äußeren Sinn, von welchem dieser an die Welt, jenes an den eignen Körper angrenzt und dadurch die Gemeinschaft des Bewußtseyns mit diesen Objekten begründet. Denn es scheint mir widersprechend, daß ein absoluter Stillestand im Vorstellen durchs Vorstellen, d. h. durch Spontaneität, wieder angefangen werden könne; eine Behauptung, für welche ich meine Gründe aus der Erfahrung an einem anderen Ort anführen werde. Die Vorstellungskraft scheint, wie die Materie, träge zu seyn [FN-S118*)]. Haben die [119] gesammten Theile des Nervensystems ein richtiges Verhältniß zu einander, welches zum Theil Resultat der Erziehung desselben durch seine vorhergegangenen Handlungen ist, so wirken die Außendinge ein und die erregten Thätigkeiten breiten sich aus, wie es der Norm gemäß geschehen muß. Es gelangen die Verhältnisse unseres Zustandes im Selbstbewußtseyn zur Klarheit, die mit unserem Interesse in der nächsten Beziehung stehn. So beginnt der Speisekanal sein wurmförmiges Spiel nur dann, wann er Nahrungsmittel in seine Höhle aufgenommen hat. Er wirkt zur rechten Zeit und seiner Bestimmung gemäß ohne sich eines Zwecks bewußt zu seyn; nach einer prästabilirten Harmonie, die zwischen seinen Kräften und seinen Zwecken obwaltet.
5) Die Kraft des Nervengebäudes ist, wie überhaupt die Lebenskraft des gesammten Organismus, beschränkt. Sie wirkt nur auf einem Punkt des Gebiets mit Nachdruck und in dem Maaße, wie dies geschieht, erlöschen ihre Wirkungen in den übrigen Gegenden. Die Thatsache steht fest, wenn gleich ihre Ursache uns unbekannt ist. Schmerzen der Haut ersticken Schmerzen im Inneren; wirkt der äußere Sinn lebhaft, so schweigt der innere; wenn die Phantasie beschäfftiget ist, so kommen keine äußeren Eindrücke zum klaren Bewußtseyn. Bey einer chirurgischen Operation hängt die ganze Kraft der Seele an der Spitze [120] des Messers. Daher hört unser Ohr das Gewimmer des Kranken nicht. Mag man sich, um den Grund dieses Phänomens bildlich vorzustellen, mit Heineken ein gasförmiges Wesen denken, das die Nerven gleich einem Geist umschwebt, ebbet und fluthet und ihre Thätigkeit vermehrt, wo es sich anhäuft, aber sie in den Theilen verringert, von welchen es abgezogen wird. Die Seele muß also, wenn sie sich einem Geschäffte widmen will, auf alle übrigen Verzicht thun; sie muß dasselbe fahren lassen, wenn sie einen neuen Gegenstand beachten will, d. h. sie muß Behufs der respektiven Thätigkeit nach Willkühr abstrahiren können. In eben dieser Einrichtung, die die Seele nöthiget, mehrere Handlungen, nicht gleichzeitig, sondern in der Zeit zu verrichten, ist auch das Gesetz gegründet, nach welchem wir ihre Thätigkeit zu lenken im Stande sind. Wir dringen ihr neue Geschäffte auf; dadurch wird sie gezwungen die vorhandnen schwinden zu lassen; löschen auf diesem Wege gegenwärtige Ideenreihen aus, und ziehn neue aus der Tiefe hervor.
6) Die Seele muß zwar ihre Kraft, sofern dieselbe beschränkt ist, auf denjenigen Gegenstand verwenden, welchen sie mit Ernst bearbeiten will. Doch soll ihr noch soviel Irritabilität von der Summe derselben übrig bleiben, daß sie das leise Anpochen des inneren und äußeren Sinns wahrzunehmen im Stande [121] ist. Dann schätzt sie die wahrgenommenen Eindrücke auf der Flucht, hemmt ihre gegenwärtige Thätigkeit und richtet sie auf die neuen Gegenstände, wenn sie von Erheblichkeit sind. Ihr Abstraktionsvermögen ist also im eigentlichen Sinn Unvollkommenheit, die nicht zu groß seyn darf. Sie muß den obwaltenden Gegenstand festhalten, aber nicht absolut an ihn gefesselt seyn; ihre Kraft fixiren, aber derselben doch so vielen Spielraum übrig lassen, daß sie augenblicklich auf andere angemerkte Objekte von größerem Interesse gerichtet werden kann. So ist unser Ohr in ernsthaften Meditationen dem Sinn des benachbarten Gesprächs verschlossen, aber dem Eindruck unsers Namens offen, wenn er in demselben genennt wird. Dies Vermögen setzt theils Stärke, theils eine ausnehmende Empfindlichkeit und Mobilität der Seelenkraft voraus. Einem Menschen, dem mitten in seinen gegenwärtigen Geschäfften nichts entwischt, der höchst besonnen auf alle Regungen des inneren Sinns, und auf alles ist, was von außen kömmt und schnell von einem Object auf ein anderes überspringen kann, schreiben wir Gewandheit der Seele zu. Dahingegen besitzt derjenige, welcher mehrere Dinge zugleich mit zureichender Stärke beachten kann, der den vorgesteckten Gegenstand mit Nachdruck verfolgt und zugleich alle Verhältnisse seines äußeren und inneren Zustandes, als ein entfaltetes Buch, vor sich offen liegen sieht, sie [122] mit demselben in Verbindung bringt, jeden Zufall bemerkt, der auf seine Vorsätze Beziehung hat und in den verwickeltesten Vorfällen einen zweckmäßigen Entschluß faßt, neben der Gewandheit noch Gegenwart und Größe des Geistes. Auf die nemliche Beschaffenheit des Nervensystems gründet sich die Besonnenheit und Aufmerksamkeit, innerhalb der Norm, von welchen jene Eigenschaften der Seele die vollendetesten Produkte sind.
7) Die Richtung der Kraft auf einen Punkt, oder das Aufmerken und Wirken auf einen Gegenstand, muß im gesunden Zustande eine gewisse Ausdauer haben. In den Sinnorganen ist zur Zeit, wo sie wirken ein gewisser Turgor sichtbar; ein Symptom des gleichzeitigen Vegetationsprocesses, durch welchen ihr Wirken zu Stande kömmt. Eben dieser Turgor ist wahrscheinlich in dem Theil des Gehirns vorhanden, der gegenwärtig wirkt. Allein diese einstweilige Vegetation läßt endlich nach, die Reizbarkeit schwindet und die Aufmerksamkeit hört auf. Besonders giebt es gewisse sinnliche Eindrücke, z. B. auf den Geruch, die auch die angestrengteste Aufmerksamkeit nur für eine kurze Zeit festhalten kann. Mein parfümirter Rock, sagt Montagne [FN-S122*)], wirkt bloß im Anfang auf mei- [123] ne, nach dreien Tagen nur auf die Nasen meiner Freunde. Doch muß sie eine gewisse Normal- Zeit aushalten. In asthenischen Nervenkrankheiten ermüdet sie im Vortrage, beim Zuhören und überhaupt im Verfolgen eines Gegenstandes des Denkens. Sie muß zu oft wechseln, zu oft Ruhepunkte haben und nach ihrer Anstrengung bleibt ein Gefühl von Schwäche zurück. Mangel an Ausdauer und Bedürfniß des Wechsels verursacht Flatterhaftigkeit. Die Seele hüpft vor schneller Ermüdung von einem Gegenstand auf den andern, ohne einen festhalten zu können. In schwachen und stumpfen Köpfen ist dieser Fehler habituell. Daher scheint die Narrheit durchgehends mit einem hohen Grad von Flatterhaftigkeit verbunden zu seyn.
In der Wirklichkeit sind die meisten Seelenkrankheiten Zusammensetzungen. {RS S123} Sie entstehn als unbedeutende Größen, wachsen aber im Fortwälzen, wie Schneelavinen, zu Massen an, die den ganzen Mikrokosmus bouleversiren. Wir finden sie in Gruppen und Züge, die die Natur aus mehreren Arten in einem Individuum zusammenhäuft. Diese Gruppen bestehn theils aus lauter Seelenkrankheiten, theils aus Krankheiten von verschiedner Natur. Ihr Causalverhältniß ist mannichfaltig. [124]
Die Seelenkrankheiten sind vor allen anderen dazu geneigt, sich zusammenzusetzen. Und davon liegt die Ursache in dem zusammengesetzten Bau des Gehirns, in der beweglichen Temperatur seiner Kräfte und in der engen Verbindung seiner Theile unter sich und mit den übrigen Getrieben des Nervensystems.
In den Gruppen und Zügen sind bloß die Arten absolut bestimmt, aber keinesweges die Regeln ihrer Construktion, die nemlich erst durch das Individuum gegeben werden, in welchem sie vorkommen. Wer sie daher für Einheiten hält, geräth in Verwirrung, wenn er sie bald in dieser, bald in einer andern Gestalt antrifft. Man muß sie also in ihre Elemente zergliedern, die beständig sind, wenn man zu ihrer Erkenntniß gelangen will, und daher das Studium der Seelenkrankheiten mit den Arten anfangen.
Allein wie werden dieselben aufgefunden? Durch Absonderung der einfachsten Zustände, die in Rücksicht ihrer wesentlichen Merkmale unwandelbar sind. Dazu wird ein großer Vorrath zweckmäßiger Beobachtungen erfordert. Die Regeln, nach welchen dies geschehen muß, liegen außerhalb meiner Sphäre. Die aufgefundnen Arten werden vorerst noch, so lang uns die Natur der dynamischen Seelenkrankheiten an sich unbekannt ist, auf die Grundvermögen der Seele bezogen und nach ihrem Einfluß auf das [125] Selbstbewußtseyn, die Besonnenheit und Aufmerksamkeit charakterisirt. Dann sucht man die Gesetze, nach welchen sich die Arten folgen und zusammenhäufen, in der Natur der Seele und ihres Organs auf, wodurch man zugleich zur Erkenntnis der Causal- Verknüpfung gelangt, die sie in den Compositionen unter sich haben.
Oben habe ich schon einige einfache Anomalieen der Seelenvermögen berührt. Jetzt will ich noch ein Paar Fälle zufügen, die sich auf das Fortschreiten der Seele in ihren Wirkungen beziehn, sofern dasselbe gehemmt oder über die Norm beschleuniget werden kann.
1) Die Seele starrt zuweilen unverwandt auf ein Object, oder auf einen engen Kreis verwandter Objekte hin, wie ein Thier, das von einer Klapperschlange ins Gesicht gefaßt ist. Sie feiert nicht, sondern wirkt; es fehlt ihr aber die Mobilität zum Fortschreiten in ihren Handlungen. {RS S125} Diesen Zustand derselben werde ich Catalepsie ihres Vorstellungsvermögens nennen. Die Grade derselben sind verschieden. Gesunde Menschen wiederholen zuweilen ein Wort ohne Wechsel, oder starren unverwandt ein nahe gelegnes Object an, ohne klares Bewußtseyn ihrer Existenz; und bemerken erst beim Aufhören des Anfalls, daß sie abwesend waren. Sie sind dabey im Stande, sich zu bewegen und gewöhnliche Gegenstände wahrzunehmen, doch scheint [126] es, als geschähe dies bloß durch mechanische Reflektionen im Nervensystem. In diesem Zustande, den man eine Vertiefung in Gedanken zu nennen pflegt, ist der Mensch ohne Gedanken, kann also auch darin nicht vertieft seyn. Steigt die Catalepsie, so hören alle Wirkungen des Gemeingefühls, der Sinne und der Phantasie auf, die Associationen stocken und alles Bewußtseyn der Subjektivität und Objektivität geht verlohren. Es ist vollkommne Geistesabwesenheit vorhanden. Der Art ist sie in der Entzückung. Meistens ist diese Krankheit intermittirend, selten anhaltend; die Paroxismen verschwinden schnell, durch jeden neuen Reiz, der in die Sphäre unserer Sinnlichkeit tritt, oder sie dauren länger und sind schwerer heilbar, wenn sie von habituellen Asthenien des Nervensystems entstehn.
Alle Kranke, die am fixen Wahnsinn leiden, sind mehr oder weniger cataleptisch. Sie haben zwar einigen Wechsel ihrer Vorstellungen, der aber nicht über den Kreis hinausgehen kann, in welchem ihr Wahnsinn sie beschränkt. [F21:] Im Berliner Irrenhause fand ich eine Närrin, die schlechterdings gebähren wollte, und keines andern Gedankens fähig war, der nicht mit dieser Idee in Verbindung stand. [F22:] Ein anderer Verrückter in dem nemlichen Hause stellte sich während der Verschlimmerungen seiner Krankheit früh in die Ecke des Zimmers, hielt seinen Hut [127] vor die Augen, und blieb bis zum Abend unverändert in dieser Stellung. Einige Wahnsinnige, bemerkt Helmont [FN-S127*)], waren sich, nach dem Anfall, der Symptome bewußt, die sie während desselben erlitten hatten. Ihre Seele, sagten sie von sich aus, sey im Anfang desselben bey einem Begriff stehen geblieben, von dem es ihnen vorgekommen sey, als wenn sie ihn im Spiegel vor sich gesehen hätten. Doch sey es ihnen nicht klar gewesen, daß sie denselben gedacht hätten. Auch würden sie mehrere Tage lang gestanden seyn, ohne es zu wissen, wenn der Anfall sie im Stehen überfallen hätte.
[F23:] Ich kenne eine vornehme Dame, die in einem Anfall von Geisteszerrüttung ein Wort, z. B. meine Cousine, ein anderesmal Louis Seize unaufhörlich, Tagelang und mit der größten Geschwindigkeit wiederholt. Dann stellt sie sich, wenn die Starrsucht des Vorstellungsvermögens sich auch auf die Organe der Bewegung ausdehnt, eben so lang an einem Fleck ihres Zimmers hin, gleich einer Statue, ohne im mindesten die Stellung ihres Körpers zu verändern. [F24:] Tissot [FN-S127**)] besuchte eine Frau, die zur Brüdergemeine gehörte und von der Liebe Christi so entzündet war, daß sie nichts als ihren Gott sah und dachte. Mein süßes Lamm! dies war [128] ihr Ausruf, den sie alle halbe Stunden mit niedergeschlagenen Augen wiederholte und womit sie alle seine Fragen beantwortete.
[F25:] Noch größer ist die Starrsucht des Vorstellungsvermögens in der Entzückung, in welcher der Kranke wie Paulus, den Himmel über sich offen sieht. Er hängt sich mit aller Kraft der Seele an seine Gesichte, daß ihm nicht einmal soviel von derselben übrig bleibt, sich derselben nach dem Anfall zu erinnern. [F26:] Der Art war der Capuciner, dessen Geschichte Sauvages [FN-S128*)] erzählt. Man fand ihn kalt und unbeweglich wie ein Marmorbild, mit dem einen Knie auf der Erde gestützt und die rechte Hand gen Himmel gestreckt. Erst nach vierundzwanzig Stunden erwachte er aus seiner Extase. [F27:] Tissot [FN-S128**)] wurde zu einem armen und cachektischen Mädchen von elf Jahren gerufen. Er fand dasselbe im Bette, starr, mit offenen Augen und Munde. Der Ausdruck des Erstaunens ruhte auf seinem Gesichte. Es hörte, sah und fühlte nichts. Bald nachher bekam es schwache Zuckungen im Gesichte, erwachte aus seiner Entzückung, wie aus einem tiefen Schlaf und erzählte seine Offenbarungen und Visionen, in denen es Gott, Christum und alle Auserwählte [129] gesehen, gesprochen und sogar geküßt zu haben versicherte, mit einem solchen Enthusiasmus, daß die Eltern und alle Anwesende Freudenthränen über die Seligkeit dieses Kindes vergossen. Schwärmerey und Fanatismus kann diese Krankheit epidemisch machen {RS S129} [FN-S129*)].
Den höchsten Grad dieses Zustandes nennt Tissot [FN-S129**)] Unempfindlichkeit, in welcher die äußern und innern Sinne und das Vermögen zu willkührlichen Bewegungen durchaus feiern. Sie entsteht gern von heftigen Leidenschaften, besonders von plötzlichen Nachrichten einer verunglückten Liebe, die tiefe Wurzel gefaßt hat. Tissot erzählt drey Beispiele dieses Zustandes. [F28:] Der eine Fall ist die bekannte Geschichte eines Schusters, der vor Gram in diese Krankheit verfiel und von Mutzel durch die Einimpfung der Krätze geheilt wurde. [F29:] Der zweite Kranke war ein Hypochondrist. Dieser machte die Entdeckung, daß sein Freund ihm ungetreu geworden sey. Er bekam ein heftiges Zittern, blieb siebenundsiebzig Stunden sprachlos, regte kein Glied, nicht einmal die Augen, schlief und schluckte nicht, und leerte nichts aus. [F30:] Der dritte Fall; ein Mensch verfiel in diesen Zustand in dem Augenblick, wo er glaubte aus einem Gefängniß entspringen zu können, in wel- [130] chem er mit Unrecht saß, aber aufgehalten wurde und die Hoffnung zur Freiheit auf immer verlohr. {RS S130} [J-HM-S130] Dem Kranken entwischte seit diesem unglücklichen Zeitpunkt kein Wort; kein Seufzer mehr. In seinen Gliedern, sogar in seinen Augen, war nicht die geringste Bewegung sichtbar. Man hätte ihn für eine Bildsäule halten können. In eilf Tagen nahm er nichts von Nahrungsmitteln zu sich. Es wurden Versuche gemacht, ihm flüssige Dinge durch Hülfe eines Trichters einzugießen; aber umsonst. Er gab alles ohne Gefühl wieder von sich und starb wie einer einschläft [FN-S130*)]. Ich sah einmal eine andere, aber eben so merkwürdige Wirkung der Furcht auf das Muskelsystem. [F31:] Ein reicher und rüstiger Mörder wurde unvermuthet in einer fremden Stadt durch Steckbriefe entdeckt und in Verhaft genommen. Er berauschte seine Wächter mit Wein, daß sie einschliefen. Nun versuchte er zu entfliehn und konnte es. Denn das Haus stand gegen den Garten offen und dieser war mit einer niedrigen Mauer von etwan drey Fuß Höhe eingeschlossen. Allein am Morgen fand man ihn noch an derselben herumhüpfen und alle seine Anstrengungen, über dieselbe zu setzen, waren umsonst gewesen.
Eben diese Starrsucht, die wir bis jetzt in den Vorstellungsvermögen aufgesucht haben, afficirt auch das Bewegungsvermögen des Seelen- [131] organs und wird dann eigentlich nur Catalepsie genannt. Doch sind beide Arten nahe verwandt, wechseln miteinander und begleiten gern andere Geisteszerrüttungen. Auch hat diese Catalepsie des Bewegungsvermögens eben so mannichfaltige Modifikationen, als die Starrsucht der Vorstellungen, von welcher bis jetzt die Rede war. Viele von denen, sagt Haslam [FN-S131*)] deren Wahnsinn heftig ist, wiederholen besondere Handlungen eine lange Zeit. Manche hört man die Ketten, mit denen sie angeschlossen sind, Stundenlang ohne Aufhören schütteln. Andere, die in einer aufgerichteten Stellung verwahrt sind, stampfen den größten Theil des Tages mit den Füßen auf den Boden. Nachdem diese Kranken wieder zu sich gekommen sind, versichern sie, daß die erwähnten einförmigen Handlungen ihnen große Erleichterung verschaffen. [J-HM-S131] Tulpius [FN-S131**)] [F32:] sahe eine Frau zu Campen, die bereits fünf Monate unaufhörlich bald mit dem rechten, bald mit dem linken Arm auf ihre Knie hämmerte, wie die Schmiede auf den Amboß pochen, so daß man ihr ein Kissen auflegen mußte, damit sie sich nicht verwundete.
Kranke dieser Art müssen durch Ableitung geheilt werden. Man reitzt eine ferne Region des Seelenorgans, verschafft demselben dadurch Wech- [132] sel in seiner Thätigkeit und hebt durch die neu erregte den Zug auf, auf welchen der Kranke hinstarrt.
2) Der obigen Krankheit stehen die Ideenzüge und ihr höherer Grad die Gedankenjagd entgegen. In derselben leidet das Vorstellungsvermögen an einem doppelten Gebrechen. Die Ideen scheinen theils isolirt und ohne Verknüpfung zu seyn, die sie nach den Gesetzen der Association haben sollten, theils folgen sie sich im Verhältniß mit dem Kraft-Maaß des Kranken so schnell, daß es ihm an Weile fehlt, sie festzuhalten, zu beäugeln, zu vergleichen, zu trennen. Es keimen Bilder der Erinnerung, neue Schöpfungen der Phantasie und tolle und verwirrte Raisonnements auf, die die Seele weder fixiren noch lenken kann. {RS S132} Sie gleicht einem Schiffe, das sein Ruder verlohren hat, und dem Spiele der Meereswogen gezwungen folgen muß. Die Phantasie hüpft ungezähmt und mit wilder Schnelligkeit von einem Gegenstand auf den andern, so daß ihr regelloses und rasches Spiel bald alle Kräfte verzehrt. Bild auf Bild jagt sich, Ideen und Gedanken drängen ungerufen zu, abentheuerliche Gestalten kommen aus dem Hintergrunde der Seele hervor, treiben losgebunden umher und fliehen gleichsam wie leichte Körper im Sturm, oder wie Hecken und Bäume beim schnellen Fahren vorüber. Ihre Eile ist so groß, daß die Worte nicht Geschwindigkeit genug ha- [133] ben, sie auszudrücken, das Gedächtnis wenige derselben festhalten kann. Meistens sind sie ohne Einwirkung auf die Willenskraft. Der Verstand ist passiver Zuschauer, er staunt oft über den verwirrten Zustand seiner Oekonomie, ordnet gar Mittel zur Heilung an, aber ohne Erfolg. Direct sind wir zwar eigentlich nie Meister unserer Vorstellungen; aber uns stehen indirekte Mittel zu ihrer Leitung zu Gebote. Wir ändern nemlich die Objekte und erregen neue Ideenreihen, durch welche die vorhandenen modificirt oder getilgt werden. Diese Mittel versagen aber in dem vorliegenden Fall ihren Dienst.
Ideenjagden kommen selten einfach, meistens in Gesellschaft anderer Nervenkrankheiten, namentlich im Wahnsinn und besonders in der Tobsucht und in der Narrheit vor. Der Tobsüchtige handelt ohne Zusammenhang seiner Handlungen mit Vorstellungen, ohne sich eines Zwecks derselben klar bewußt zu seyn. Daran ist freilich hauptsächlich der blinde Willensdrang schuld. Doch ich habe großen Verdacht, daß ein isolirter Zustand seiner Vorstellungen und ihre schnelle Flucht auch einigen Antheil an den Aeußerungen seiner Krankheit haben. Er handelt im Gefolge des Stoßes einer Idee, die aber so schnell von einer andern verdrängt wird, daß er zur Zeit der Handlung kein Bewußtseyn derselben mehr hat. Auch in der Narrheit finden wir dies schnelle Treiben unzusammenhängender [134] Vorstellungen. [F33:] Pinel [FN-S134*)] erzählt von einem solchen Kranken, der mit rascher Geschwätzigkeit von seinem Hut, von seinem Weibe, von Dolchen, Säbeln, entmasteten Schiffen und grünen Wiesen sprach, und deswegen so wenig Besonnenheit hatte, daß er die dringendsten Bedürfnisse nicht vorstellte, nicht aß, wenn ihm die Nahrungsmittel nicht in den Mund gesteckt wurden. Einige von Geisteszerrüttungen, Genesene, sagt Haslam [FN-S134**)], beschreiben ihre Verwirrung als mit großer Eile des Geistes verbunden. Die Ideen, sagten sie, seyen so schnell vorübergeeilt, daß der nachgestürzte Strom anderer jeden Gedanken augenblicklich weggeführt habe, den sie festzuhalten sich bemüht hätten. [F34:] Einem Nervenkranken war es, als wenn alle Büchsen der Apotheke auf einer großen Kurbel geleimt wären; die mit unglaublicher Geschwindigkeit gedreht würde. Die Büchsen mit ekelhaften Ingredienzien machten ihm Erbrechen. Um sich in diesem Strudel zu halten mußte er es sich lebhaft vorstellen, als sey er in eine unterirdische Kluft eingesperrt, die von Drachen bewacht würde.
Eben diese verwirrte Eile in der Erzeugung der Vorstellungen wird auch in dem Theile des Seelenorgans gefunden, der die Bewegungen erzeugt. Und es ist sonderbar, daß diese Flucht der Vor- [135] stellungen und Bewegungen in dem nemlichen Individuum, mit der vorher erwähnten Catalepsie abwechselt. Eben die vornehme Dame, von der ich oben gesagt habe, daß sie Tagelang einerley Worte aussprach, oder auf einem Fleck feststand, hatte zu andern Zeiten Anfälle des Veitstanzes, wo sie Stundenlang mit unglaublicher Schnelligkeit herumhüpfte und an die Wände aufsprang. [F35:] So erzählt Tulpius [FN-S135*)] von einem Verrückten, der wie Quecksilber in ewiger Bewegung war Tag und Nacht lief, bis er vor Schweiß zerfloß und nicht eher ruhte, als wenn ihn der Schlaf überwältigte. Die nemliche zwecklose Mobilität beobachtete Pinel [FN-S135**)] an einem seiner Kranken. [F36:] Dieser Mensch, sagt er, belästiget mich und andere mit einem überschwänglichen Gewäsche. Wenn er in ein Zimmer kommt, so rückt, und kehrt er alle Meubeln von der Stelle, befaßt Tische und Stühle mit den Händen, hebt sie auf und schleppt sie von einem Ort zum andern, ohne dabey durch irgendeinen festen Vorsatz geleitet zu werden. Man hat kaum seine Augen weggewendet, so ist er schon auf dem nächsten Spatziergange in eben der unruhigen Bewegung, er stammelt einige Worte, räumt Steine weg, rauft Kräuter ab, die er wieder hinwirft, um andere zu pflücken; er kommt, geht, kehrt wieder. [136]
Was soll der Kranke bey diesen Ideenjagden zu seiner Haltung
thun? Er muß es im Anfall versuchen, laut und langsam zu lesen. Dies
Hülfsmittel heftet die in der Irre herumschwärmende Phantasie
auf eine bestimmte Gedankenreihe, vertheilt die Nervenkraft durch die Bewegung
so vieler Organe gleichmäßiger und zerstreut ihre Anhäufung
an einem Orte auf mehrere Gegenden des Nervensystems. Gelingt ihm keine
Rede aus eignen Kräften mehr, so soll er bekannte Reime recitiren,
die Finger zählen, anfangs einfache Gegenstände langsam, sofern
dabey vom Aussprechen die Rede ist, in der Folge zusammengesetzte Dinge
schneller nennen. [J-HM-S136]
In noch kritischern Augenblicken, wo er nicht einmal mehr im Stande ist,
viele Sylben im Zusammenhang auszusprechen, muß er sich auf ein Object
(Tisch, Stuhl) fixiren, das mit einer Sylbe ausgesprochen wird, und zugleich
dem Auge dasselbe vorhalten. [J-HM-S136b]
Ist der Anfall so heftig, daß die Sprachorgane und die Fassungskraft
für die Reden anderer gelähmt sind; so soll der Kranke durch
eine sinnliche Anschauung, die keiner so zusammengesetzten Kraft als die
Aussprache eines Worts bedarf, den wilden Strom der Ideen aufhalten. Dergleichen
Hülfsmittel sind z. B. Anschauungen frappanter Gegenstände, fremder
Thiere, durchziehender Truppen, oder ein leichtes Spiel im Brett, das Abschreiben
einer Vorschrift, das Couvertiren interessanter Briefe der [137] Händedruck
eines Freundes, pantomimische Spiele mit den Kindern, die Musik. Ist der
Kranke verrückt und daher keiner eigenmächtigen Entschlüsse
zu seiner Heilung fähig: so suche man ihn durch starke und sinnliche
Eindrücke gezwungen auf einen Punkt zu fixiren. [J-HM-S137]
Fußnoten:
(Reil)
FN-S66*) Muratori
über die Einbildungskraft des Menschen, mit Zusätzen von Richerz,
Leipzig 1785. 1ster Theil, S. 306.
FN-S66**) Antient Metaphysics,
London 1782. Muratori l. c. 1ster Theil, S. 353.
FN-S67*) Unzer's Arzt,
3. B. 74 St. 343 S.
FN-S68*) Meiers Versuch
einer Erklärung des Nachtwandlens, Halle 1758, S. 9. 10.
FN-S71*) Reils Krankheitsgeschichte
des seligen Oberbergraths Goldhagen, Halle 1788, S. 32.
FN-S71**) l. c. S. 26.
FN-S72*) Mauchart's allgemeines
Repertorium für die empirische Psychologie, Nürnberg 1792, 1ster
Band, S. 108.
FN-S74*) Mauchart's allgemeines
Repertorium für empirische Psychologie. 5. B. S. 54.
FN-S74**) Materialien für
die Anthropologie, Tübingen 1791, 1ster Band, S. 3.
FN-S79*) Reils Fieberlehre,
4. B. 562 S.
FN-S79**) Moritz Magazin
zur Erfahrungs- Seelenkunde, Berlin 1783, 1 B. 2. St. 70 S.
FN-S80*) Mauchart l. c.
2. B. 121 S.
FN-S80**) l. c. 3. B. 74 S.
FN-S81*) Zoonomie, übersetzt
von Brandis, Hannover 1795, 2 Abth. 327 S.
FN-S82*) Heineken Ideen
und Beobachtungen, den thierischen Magnetismus und dessen Anwendung betreffend.
Bremen 1800, S. 59.
FN-S84*) Muratori l. c.
I. 242 S.
FN-S84**) Moritz Magazin,
1B. 2 St. 53 S.
FN-S85*) l. c. 71.
FN-S86*) Moritz Magazin
zur Erfahrungs- Seelenkunde, Berlin 1783. 1 B. 1 St. 44 S.
FN-S86**) Artis medicae principes,
ex recens. Halleri. Lausannae 1769. T. V. p. 60.
FN-S89*) Büttner Diss.
de functionibus Organo animae peculiaribus. Hallae 1794, §. l9.
FN-S91*) Büttner d.
c. p. 118.
FN-S91**) de motu muse. L. XI.
c. 4.
FN-S91***) Büttner
d. c. p. 120.
FN-S94*) Boswell, the life
of Johnson.
FN-S94**) Moritz Magazin,
4 B. 2 St. 89 S.
FN-S94***) Vermischte Schriften,
Göttingen 1801, 2 B. 23 S.
FN-S95*) l. c. 2 B. 20 S.
FN-S102*) Hoffbauer l.
c. 1 Th. 5 - 31 S.
FN-S105*) Muratori, 2
Th.. 29 S. Tissot sämmtliche Schriften, übersetzt von
Kerstens, Leipzig 1784. 5 Th. 500 S.
FN-S105**) Wagners Beiträge,
1 B. 129 S.
FN-S106*) Caractères Chap.
XI. Tom. II.
FN-S107*) Wagners Beiträge
1 B. 132 S.
FN-S108*) Hoffbauer 1
Th. 74 S.
FN-S109*) l. c. 1 Th. 44 S.
FN-S118*) Gräffe
Versuch einer moralischen Anwendung des Gesetzes der Stetigkeit, Celle
1801.
FN-S122*) Essai Liv. I. Ch. 12.
FN-S127*) demens idea; Opera.
p. 174.
FN-S127**) Sämmtliche Schriften,
2 Th. 34 S.
FN-S128*) Nosol. T. II
P. 2. 421
FN-S128**) Sämmtl. Schriften,
5 B. 504 S.
FN-S129*) Tissot sämmtl.
Schriften, 5 B. 493 S.
FN-S129**) a. a. O. 504 S.
FN-S130*) Mém. du Marquis
A*** p. 447.
FN-S131*) Beobachtungen über
den Wahnsinn; aus dem Englischen übersetzt, Stendal 1800, 17 S.
FN-S131** ) Observat. med.
Lib. I. c. 16. et 17.
FN-S134*) l. c. 175 S.
FN-S134**) l. c. 16 S.
FN-S135*) Observat med. Lib.
I. C. 16 et 17.
FN-S135**) l. c. 176 S.