Internetausgabe
zum 200 Jahres
Jubiläum am 1.1.2003
Reil,
J. C. (1.1.1803).
Rhapsodieen
über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen.
Halle:
Curt’sche Buchhandlung.
Übertragen von Irmgard Rathsmann-Sponsel (SGIPT), Funktorenkennzeichnungen von Rudolf Sponsel (SGIPT), Erläuterungen zur Darstellung, Erstausgabe Teil 1 Internet 25.3.2, Letztes Update TT.MM.JJ
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Die vollständige
Internetausgabe von Reils psychiatrisch- psychotherapeutischem Hauptwerk
beginnt im März 2002 unter dieser Adresse und soll zum 1.1.2003 abgeschlossen
sein.
Vorreden sind die Pathenbriefe der Schriftsteller, durch welche, sie das Publikum einladen, ihre Kindlein aus der Taufe zu heben. Sie enthalten meistens viel Schönes, aber wenig Wahres. Ueberall findet man in ihnen nur einen Hebel aller schriftstellerischen Anstrengungen, nemlich reinen Drang, das Menschengeschlecht klüger und besser zu machen. Nichts von überspannter Schätzung seiner selbst, von Ehrfurcht oder Habsucht, von einem Seitenblick auf die Börse des Verlegers, nichts von dem Bestreben, sich durch [4] Paradoxien an eine 1ichte Spitze zu stellen, oder einen bedeutenden Maecen zu beschleichen, um sich in dessen Glanze zu wärmen. Ich werde heute von der Regel abweichen und die Wahrheit sagen. Hat dies Entschuldigung nöthig, so verzeihe man es der Vorrede zu einer Abhandlung über die Anomalieen des menschlichen Geistes.
Freund Wagnitz arbeitet jetzt, wie bekannt, an dem großen Plan, Verirrte wieder zur Vernunft zu helfen. Er bat mich, auch ein Steinchen in irgendeine leere Fuge dieses großen Gebäudes einzuschieben. Ich nahm seine Aufforderung um so williger an, da dieser Gegenstand in mein Fach, schlägt, und das Wohl und Weh, der Irrenden an der Tagesordnung steht, nachdem die moralischen Patienten durch, einen coup de main an einem sicheren Ort berathen sind. Ich arbeitete also die vorliegende Abhandlung für Herrn Wagnitz aus. Allein er wies sie, wie man einem Prediger [5] glauben muß, deswegen, zurück, weil sie sich durch mehrere Jahrgänge seines Journals fortwälzen würde, und sein Verleger nur zweimal im Jahre, und jedesmal nur neun Bogen, für Arme, Gefangne, Tollhäusler und andere Subjecte dieses Gelichters drucken lasse. Einen so großen Zweck, Minderung der Verirrungen auf der ganzen Erdfläche, an eine so dürre Convention zu binden, ist allerdings eine Verirrung in dem Verhältnisse zwischen Verfasser und Verleger, die bloß dadurch gefallen kann, daß eine vermuthete Dissonanz zwischen Subject und Object sich, in einen gefälligen Accord auflöst.
Doch ich habe bloß zu berichten, durch welche Verirrung meine Abhandlung über dieselbe ihr Daseyn erhielt. Sie sollte in des Herrn Wagnitz Ephemeriden ihren Tag mit flattern. Allein ihre Auswüchse versperrten ihr den Weg zu dieser Ehre. Nun thun aber Amputationen in der Verwandtschaft wehe, besonders an eignen [6] Geisteskindern, und zur Umkleidung derselben in ein systematisches Gewand fehlt es mir an Zeit und Lust. Sie mag also in der leichten Draperie auftreten, wie sie für die Ideen und Pläne angeputzt wurde. An Herrn Wagnitz habe ich ihr aus einer kleinen Bosheit einen Geleits-Brief mitgegeben. Er wies den gebetenen Gast an der Thüre zurück; jetzt ist er in der Verlegenheit, dem Ungebetenen Quartier zu machen. Halle den 1sten Januar 1803.
J. C. R e i l.
Von der Anwendung
der psychischen
Curmethode
auf Geisteszerrüttungen
De impossibilitate ita statuo: ea omnia possibilia et praestabilia cesenda, quae ab aliquibus perfici possunt, licet non a quibusvis; et quae a multis conjunctim, licet non ab uno; et quae in successione saeculorum, licet non eodem aevo; et denique, quae publica cura et sumptu, licet non opibus et industria singulorum. Baco.
Es ist eine sonderbare Empfindung, wenn man aus dem Gewühle einer großen Stadt auf einmal in ihr Tollhaus tritt. Man findet sie hier noch einmal, im Geschmack des Vaudeville's vorgestellt, und irgendwo in diesem Narrensystem ein bequemes Genus für sich selbst. Das Tollhaus hat seine Ursurpateurs, Tyrannen, Sklaven, Frevler und wehrlose Dulder, Thoren, die ohne Grund lachen, und Thoren, die sich ohne Grund selbst quälen. Ahnenstolz, Egoismus, Eitelkeit, [8] Habsucht und andere Idole der menschlichen Schwäche führen auch auf diesen Strudel das Ruder, wie auf dem Ocean der großen Welt. Doch sind jene Narren in Bicetre und Bedlam offener und unschädlicher, als die aus dem großen Narren-Hause. Der Rachsüchtige gebeut, daß Feuer von Himmel falle und der eingebildete Heerführer glaubt, nach einem tollkühnen Plan, den halben Erdball mit dem Schwerdt zu zerstören. Doch rauchen keine Dörfer und keine Menschen winseln in ihrem Blute.
Wie wird uns beim Anblick dieser Horde vernunftloser Wesen, deren einige vielleicht ehemals einen Newton, Leibnitz oder Sterne zur Seite standen? Wo bleibt unser Glaube an unsern ätherischen Ursprung, an die Immaterialität und Selbständigkeit unseres Geistes und an andere Hyperbeln des Dichtungs-Vermögens, die im Drang zwischen Hoffen und Fürchten erfunden sind? Wie kann die nemliche Kraft in dem Verkehrten anders seyn und anders wirken? Wie kann sie, deren Wesen Thätigkeit ist, in dem Cretin Jahre lang schlummern? Wie kann sie mit jedem wechselnden Mond, gleich einem kalten Fieber, bald rasen, bald vernünftig seyn? Wie kann ein unvernünftiges Thier, das wie der Mensch toll, närrisch und dumm wird, durch ein zerbrochenes Rad seiner Organisation eine Vernunft verlieren, die es nie gehabt hat? Mit jedem Gliede, mit jedem Sinnwerkzeuge des Körpers, wird ein [9] Theil der Seele amputirt. Ein Meer von Ideen, in den Archiven der Dichtkunst, die feinsten Spiele des Witzes, die sinnreichsten Erfindungen, die zartesten Gefühle, die brennendsten Bilder der Phantasie, die heftigsten Triebe, die die Seele unaufhaltbar zum Handeln fortreißen, wären nicht, wenn der Theil des Körpers nicht wäre, der seine Art fortpflanzt. Ein Faser im Gehirn erschlafft und der in uns wohnende Götterfunke ist zu einem Feen-Mährchen geworden.
Die große Welt spielt immerhin auf die kleine nach ihrer zufälligen Verbindung mit derselben. Die empfangenen Eindrücke werden vorgestellt und im Selbstbewußtseyn als Eigenthum aufgenommen. Sie dringen vorwärts an die Leitschnüre des Nervensystems, bis zum Hauptbrennpunkt der Organisation, und werden von da nach außen, oder nach andern Regionen, innerhalb ihrer Grenzen, reflectirt. Die Außendinge wechseln; es wechseln die Reflectionspunkte in der Organisation. Diese werden nemlich nach Maaßgabe der Thätigkeiten, die jene ehemals erregt haben, immerhin nach andern Orten verlegt. Es construirt sich durch sich selbst unvermerkt ein anderes Instrument. So entstehen meandrische Züge, und unvorhergesehne Impulse zur Thätigkeit, die uns als Spontaneität blenden, weil wir ihre Causalität, und daher auch ihre bedingte Nothwendigkeit nicht kennen. Es ist sogar nicht un- [10] wahrscheinlich, daß durch eine eigenthümliche Locomotivität aetherisch-gasförmiger Substanzen, und durch den Wechsel ihrer + und - Natur, dem entgegengesezten Pole im Microcosmus umgetauscht und das Innere der Organisation gleichsam nach außen gekehrt werden könne. Der Nachtwandler producirt die nemlichen Handlungen, die wir am Tage nach den Gesetzen der Willensfreiheit bewirken, unter einer anderen Vorzeichnung, im Schlaf, und in einer illüstren Größe, die uns in Erstaunen setzt. Er producirt sie gezwungen, als Automat, ohne klares Bewußtseyn und Spontaneität, durch die abgemessenen Reflectionspunkte seiner Nerven-Organisation.
Wir stellen die Veränderungen in den Vorhöfen unseres Tempels als Lust und Schmerz, und die feinern Spiele im Allerheiligsten als Anschauungen und Imaginationen vor, knüpfen sie, als uns angehörig, in unserem Selbstbewußtseyn zusammen, und werden dadurch instinctmäßig zum Begehren und Verabscheuen getrieben, und beschränkt von Zeit und Raum, durch Bastard- Vorstellungen geäft, in welchen wir das Ich und Nichtich wie die Grundfarben in der Grünen verlieren.
Eine andere Reflection! Ist unser Verhalten gegen diese Unglücklichsten unserer Mitbrüder der Gesetzgebung der Vernunft gemäß? Leider nein! Indolenz, Habsucht, Eigennutz, Intrigue und kalte Barbarey liegen auch hier, wie überall [11] im Hintergrunde versteckt und speien die Maximen aus, nach welchen die übertünchten Menschen- Gruppen gegenseitig aufeinander wirken. Doch verstößt diese Handlungs- Weise nicht allein gegen die Pflichten, die wir Andern schuldig sind, sondern sogar gegen unser eignes Interesse. Verrückte, die sich nicht selbst rathen und dem Betruge Betrug entgegen stellen können, leiden an einem Gebrechen, das in der Menschheit selbst gegründet ist, dem wir also alle, mehr als jedem anderen, offen liegen, und das wir, weder durch Verstand, noch durch Rang und Reichthum abhalten können. Moralische und physische Potenzen, der Anfall eines hitzigen Fiebers und ein unvermeidlicher Stoß des Verhängnisses, der einzelne Familien oder ganze Staaten erschüttert, können uns für immer einen Platz im Tollhause anweisen. Wunderlich treibt das Glück sein Spiel mit dem Menschen. Es windet ihn zum Diadem hinauf, und pfropft denn darauf, wie auf der Kutte des Bettlers, dies Extrem des Mißgeschicks. So greifen auch hier Kopf und Schwanz dieser Schlange zusammen. Erst im Jahre 1772, sagt Langermann [FN-S11 )*], sind die Stellen für Wahnsinnige in den öffentlichen Häusern zu Torgau und Waldheim verdoppelt, und zwanzig Jahre nachher fehlte es schon wieder an Raum, alle zuströmen- [12] den Narren aus Chursachsen aufzunehmen. "Heil dir, mächtige Tollheit! Heil dir! dein Reich breitet sich aus, deine Macht besiegt alles. Wohin das schwellende Seegel den Reisenden trägt, ist nicht der klügste nicht der beste Mann vor dir frey [FN-S12 *)]."
So viele göttliche Anlagen zu hohen und edlen Thaten, als die Natur in uns gelegt hat, Trieb nach Ruhm, nach eigner Vollendung, Kraft zur Selbstbestimmung und Beharrlichkeit, und Leidenschaften, die durch ihren Sturm für tödliche Schlafsucht sichern; eben so viele Keime zur Narrheit hat sie uns auch zugleich durch dieselben mitgetheilt. Wir rücken Schritt vor Schritt dem Tollhause näher, so wie wir auf dem Wege unserer sinnlichen und intellectuellen Cultur fortschreiten. Erst muß der physische Mensch krank gemacht werden; damit beginnt die Entbindung des intellectuellen. Eine absolute Macrobiotik übt der Nomade am Kupferfluß aus. Wollt ihr diese; so geht hin, und thut desgleichen. Allein unendlich mehr Geist erfordert die Kunst, den Menschen mit sich selbst einig zu machen und die Widersprüche auszugleichen, in welche die Erhaltung des Individuums durch den Anbau der Seele geräth. Sie ist der natürliche Parasit des Körpers und verzehrt in dem nemlichen Verhältnis das Oehl des Lebens stärker, welches sie nicht erworben hat, als die Grenzen ihres [13] Wirkungskreises erweitert werden [FN-S13 *)]. Im Zustande der Natur, sagt Kant [FN-S13 **)] kann der Mensch nur wenig Thorheiten begehen und schwerlich der Narrheit unterworfen seyn. Seine Bedürfnisse halten ihn jederzeit nahe an der Erfahrung und geben seinem gesunden Verstande eine so leichte Beschäftigung, daß er kaum bemerkt, er habe zu seinen Handlungen Verstand nöthig. Seinen groben und gemeinen Begierden giebt die Trägheit eine Mäßigung, welche der wenigen Urtheilskraft, die er bedarf, Macht genug läßt, über sie, seinem größesten Vortheile gemäß zu herrschen. Wo sollte er wol zur Narrheit Stoff hernehmen, da er, um Anderer Urtheil unbekümmert, weder eitel noch aufgeblasen seyn kann? Indem er von dem Werthe ungenossener Güter gar keine Vorstellung hat, so ist er für die Ungereimtheit der filzigen Habsucht gesichert, und weil in seinem Kopfe niemals einiger Witz Eingang findet, so ist er eben deswegen gegen allen Aberwitz verwahrt. Gleichergestalt kann die Stöhrung des Gemüths in diesem Stande der Einfalt nur selten Statt finden. Wenn das Gehirn des Wilden einigen Anstoß erlitten hat, so weiß [14] ich nicht, wo die Phantasterey herkommen sollte, um die gewöhnlichen Empfindungen, die ihn allein unablässig beschäftigen, zu verdrängen. Welcher Wahnsinn kann ihm wol anwandeln, da er niemals Ursache hat, sich in seinem Urtheile weit zu versteigen? Der Wahnwitz liegt ganz über seine Fähigkeit. Er wird, wenn er im Kopfe krank ist, entweder blödsinnig oder toll seyn, und auch dieses muß höchst selten geschehen, denn er ist mehrentheils gesund, weil er frey ist, und Bewegung hat. In der bürgerlichen Verfassung finden sich eigentlich die Gährungsmittel zu allem diesen Verderben, die, wenn sie es gleich nicht hervorbringen, gleichwohl es zu unterhalten und zu vergrößern dienen.
Dies sind Gründe, die uns Milde gegen Irrende gebieten, aus Eigenliebe, ohne Nächstenliebe. Dennoch perennirt die Barbarey, wie sie aus der rohen Vorzeit auf uns übergetragen ist. Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkoben, ausgestorbene Gefängnisse; neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadtthoren, oder in die feuchten Kellergeschosse der Zuchthäuser ein, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes dringt, und lassen sie daselbst, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrath verfaulen. Ihre Fesseln haben ihr Fleisch bis auf die Knochen abgerieben, und ihre hohlen und bleichen Gesichter harren des nahen Grabes, das ihren Jammer und unsere [15] Schande zudeckt. Man giebt sie der Neugierde des Pöbels Preis, und der gewinnsüchtige Wärter zerrt sie, wie seltene Bestieen, um den müßigen Zuschauer zu belustigen. Sie sind wie die Pandekten ohne System, oder confus, wie die Ideen ihrer Köpfe, in den Irrhäusern geordnet. Fallsüchtige, Blödsinnige, Schwätzer und düstre Misanthropen schwimmen in der schönsten Verwirrung durch einander. Die Erhaltung der Ruhe und Ordnung beruht auf terroristische Principien. Peitschen, Ketten und Gefängnisse sind an der Tagesordnung. Die Officianten sind meistens gefühllose, pflichtvergessene, oder barbarische Menschen, die selten in der Kunst, Irrende zu lenken, über den Zirkel hinausgetreten sind, den sie mit ihrem Prügel beschreiben. Sie können die Plane des Arztes nicht ausführen, weil sie zu dumm, oder sie wollen es nicht, weil sie niederträchtig genug sind, ihren Wucher der Genesung ihrer fetten Pensionaire vorzuziehen. Der gescheuteste Arzt ist gelähmt, wie der Handwerker ohne Werkzeug [FN-S15*)]. In den meisten Irrhäusern sind die Stuben eng, dumpf, finster, überfüllt; im Winter kalt wie die Höhlen der Eisbären am Nordpol, und im Sommer dem Brande des krankmachenden Syrius ausgesetzt. Es fehlt an geräumigen Plätzen zur Bewegung, an Anstal- [16] ten zum Feldbau. Die ganze Verfassung dieser tollen Tollhäuser entspricht nicht dem Zweck der erträglichsten Aufbewahrung; und noch weniger der Heilung der Irrenden. Der bunte Haufe ist zu sehr an Schmetterlingssüßigkeiten gewöhnt, um diese Orte des Jammers zu besuchen, und begnügt sich mit einigen Anecdoten aus seiner Heimath, die der Reisende am Spieltisch debütirt. Der Geschäftsmann hat wichtigere Dinge zu betreiben, und der Staat geht, wie der Pharisäer kalt und fühllos vorüber. Indes man die Kraft auf die Grenzen stellt und die Schaale deckt, modert im Inneren der Kern. Wo sind die Früchte unserer gerühmten Kultur, Menschenliebe, Gemeingeist, ächter Bürgersinn und edle Resignation auf eigenes Interesse, wenn es auf Rettung Anderer ankommt? Man muß wahrlich in der Jugend ein warmer Freund der Menschen gewesen seyn, um sie im Alter wie die Sünde zu hassen, wenn man sie kennen gelernt hat.
Herrn Wagnitz danken daher alle Edle, denen die Rettung der Nothleidenden in dem Kellergeschoß unseres Zuchthauses am Herzen liegt, und segnen seine Feder, die aus Menschheit für die Menschheit schreibt. Vergebens regt sich die Scheelsucht, wenn sie auf Nebenabsichten hinwinckt, und kehrt den Stachel gegen sich selbst. Das Verdienst steigt in gleichen Verhältnissen, als er mehrere Zwecke durch einerley Mittel zu realisiren im Stande ist. Daß er die Verrückten an [17] der Thür vorbey gieng, um nach einem Decennium von den Verbrechern da zurückzukehren, wo er bequem hätte anfangen können, halten wir gern seiner Kunstliebe für die Heilung moralischer Krankheiten zu Gute. Jene schwarzen Patienten gehören freilich allein für den schwarzen Rock, der ihre Laster und seine fruchtlosen Bemühungen betrauert. Allein hier thut er wohl, ein Hülfskorps unter seine Fahne zu nehmen, das er zu Streifzügen und in gefährliche Defilees mit Vortheil gebrauchen kann. Dazu empfehle ich ihm die Zunft der Aerzte. Sie haben Muth und Kraft, weil jeder ihrer bedarf. Sie sind Zöglinge aus der Schule der großen Natur, die den Menschen vom Menschen nicht trennt, und sehn daher den Kränkungen seiner Rechte mit Unwillen zu. Sie werden grau im Jammer, den sie täglich in seinen grellsten Farben anschaun und sind daher zum Handeln bereit, wenn es auf Beistand der leidenden Menschheit ankömmt. Sie kennen endlich den Menschen, den sie leider zu oft hinter dem Vorhang schaun, wenn er es im Drange der Umstände vergisst, die Maske fest zu halten. Der Betrogne entlarvt den Betrüger; der Sünder beichtet seine eigne Schande, wenn ihm dadurch geholfen werden muß; und der Barbar entblödet sich nicht, selbst in dem Angesicht des Todes, zu seyn, was er nicht scheinen mag, sobald der sinnlose Kranke die Härte seines Herzens zu brandmarken außer Stande ist. So ist leider meistens [18] jene gleißnerische Moralität in dem offenen Gewühle der Welt nichts Inneres, sondern ein Kunstgetriebe äußerer Verhältnisse. Man schildere daher zum Besten der Irrenden ihrer Nächsten scheußliche Larve, damit sie in diesem Spiegel erröthen, und notgedrungen thun, was sie aus innerem Triebe nicht haben thun wollen. Doch genug zur Empfehlung meiner Collegen. Sie möchten sonst auch über die Schnur springen, und den General en Chef zu dieser Unternehmung aus ihrer Mitte wählen wollen. Ich werde, um mich für alle Zunftfehden bestens zu verwahren, mich streng an meinen Leisten halten, und bloß solche Fehler der Irrenanstalten rügen, die dem Aesculap Herzweh machen.
Kranke werden in ihren Häusern curirt und nur dann in öffentliche Spitäler aufgenommen, wenn sie kein Haus, oder wenigstens in demselben keine Pflege haben. Bloß die Geisteszerrüttungen sind von jeher Ausnahmen von dieser Regel gewesen. Der Staat legt öffentliche Narren- und Tollhäuser, gleichsam als die Basis aller Vorsorge für Wahnsinnige zum Grunde, welches schon auf die größere Schwierigkeit der Cur dieser Art von Krankheiten hinzudeuten scheint. Er spart dadurch an Kostenaufwand, kann seine Aufmerksamkeit in einem Punkt ver- [19] einigen und eine große Anstalt leichter als viele kleine überschauen. Für plötzliche Ausbrüche der Raserey sind öffentliche Sicherheits- Oerter nöthig. Meistens gelingt die Cur der Verrükten besser unter {J-HM-S19} unbekannten Menschen und in fremden Häusern. Die relativen Hindernisse ihrer Herstellung sind in einer öffentlichen Anstalt nur von einerley, hingegen in den Familien so mannichfaltiger Art, als die Familien, denen sie angehören. In Privathäusern fehlen Bäder, Douchen, freie Plätze, und andere Hülfsmittel zur Cur, die in den öffentlichen Anstalten dem Arzt zu Gebote stehen. Aerzte, die Scharfblick, Beobachtungsgeist, Witz, guten Willen, Beharrlichkeit, Geduld, Uebung, einen inponirenden Körper, und eine Miene, die Ehrfurcht gebietet, kurz alle zur Cur Irrender nöthige Eigenschaften besitzen, sind so selten, daß sie kaum für öffentliche Anstalten, vielweniger für zerstreute Privatkranke, gefunden werden können. Eben dies gilt von allen übrigen Offizianten. Doch ich lasse diesen Gegenstand, der zu einer besondern Diskussion geeignet ist [FN-S19*)], bey Seite stehen, und nehme als ausgemacht an, daß in der Regel öffentliche Irrenhäuser die Grundlage zur Behandlung dieser Art von Kranken seyn müssen.
[20] Oeffentliche Irrenhäuser haben zweierley Zwecke, beide sind wesentlich verschiedener Natur; eben so verschieden muß auch ihre Construction seyn, wenn beide Zwecke in ihnen realisirt werden sollen. Einmal sind sie Aufbewahrungs- Anstalten solcher Irrenden, die unheilbar find. Diese Anstalten müssen nach folgenden Principien construirt seyn: 1) Den Irrenden verwahren, daß er sich und Andern nicht schade; 2) ihm alle Mittel zum frohen Genuß seines Daseyns anbieten, die seinem Zustande angemessen find; 3) endlich ihn, soweit es möglich ist, zur Thätigkeit anhalten. Denn auch die Irrende sind organische und moralische Naturkräfte, die der gute Haushalter nicht ungenutzt liegen lassen soll. Die Organisation dieser Anstalt für Irrende, einstimmig mit den aufgestellten Principien, muß ich gegenwärtig bey Seite legen, weil sie mich zu weit von meinem Ziele ableiten würde. Doch werde ich sie zu einer andern Zeit bearbeiten. Ein zweiter Zweck, den wir durch die Irrenhäuser zu erreichen suchen, besteht darin, die subjectiv- heilbaren Irrenden von ihrer Krankheit zu befreien. Die Aufbewahrungs- Anstalt bedarf bloßer thätiger und rechtschaffener Menschenfreunde. Die Heilanstalt hat ein ganz anderes Personal, zu eignen Zwecken instruirte Aerzte, Prediger und Philosophen, mancherley Mittel und besondere Einrichtungen nöthig, wenn sie ihren Zweck, die Wieder- [21] herstellung der Irrenden, erreichen soll. Bloß von diesen letzten Anstalten und ihrer eigenthümlichen Organisation werde ich gegenwärtig reden.
Bis jetzt haben wir beide an sich heterogene Zwecke, gut und böse, in unsere Irrenhäuser amalgamirt und dadurch jene unseligen Zwitter geschaffen, die keinem Zwecke entsprechen. Die Aufgabe, ob überhaupt die Realisirung beider Zwecke in einer Anstalt möglich sey: wie sollen wir sie entscheiden? Zuverlässig auf dem Wege, daß wir die separaten Entwürfe zur besten Einrichtung beider Anstalten vergleichen und nach dem Befund das Resultat abziehn, in wiefern sie sich vereinigen lassen. Allein diese fehlen, wenigstens fehlt der Entwurf zur Einrichtung einer Heilanstalt, die allen Forderungen in Beziehung auf ihren Zweck entspricht. Ich meines Theils fürchte, das Resultat aus der Vergleichung wird dahin ausfallen, daß beide Zwecke nicht ohne gegenseitige Aufopferung in einer Anstalt erreichbar sind. Es gehört eine richtige Vertheilung, große Anstrengung und ein leises Spiel der Kräfte dazu, Irrende zu heilen. Diese werden wahrscheinlich auf zu viele Punkte zerstreut, wenn sie auch die Verpflegung der Unheilbaren übernehmen sollen. Dann fürchte ich auch, daß die verwirrten Handlungen der Unheilbaren nur zu oft dem Arzte die Plane verderben, die er zur Cur der Heilbaren angelegt hat. Doch auch diese Diskussion setze ich als einen Gegen- [22] stand bey Seite, der außer meiner Sphäre liegt und bemerke bloß noch, daß wir erst im Besitz beider Plane, sowohl zur Aufbewahrung, als zur bestmöglichsten Heilung der Irrenden seyn müssen, ehe die Irrenhäuser darnach eingerichtet werden können, wenn wir nicht nach der Weise der Abderiten erst das Haus bauen und nachher den Riß dazu anfertigen wollen.
Daß uns bis jetzt noch ein Entwurf zur bestmöglichsten Heilmethode der Geisteszerrüttung fehle, habe ich bereits oben beiläufig erwähnt. Die Aerzte bestehn darauf, sie allein durch Arzneien zu heilen. Durch Mohnsaft und Niesewurz soll jede verstimmte Saite des Gehirns zum normalen Ton angeschroben werden. Sie seufzen über den Verlust des Helleborismus [FN-S22 *)] und achten der reichhaltigen Ueberreste der psychischen Curmethode und deren Anwendung auf Geisteszerrüttungen nicht, die das Alterthum auf uns fortgepflanzt hat. Allein die Grenze ist zu eng gesteckt. Denn wahrscheinlich muß die directe Heilung der Geisteszerrüttungen allein durch eine psychische Curmethode bewerkstelliget werden.
Was sind psychische Curmethoden? Zum Behuf der Gründung dieses Begriffs muß ich [23] vorher der allgemeinen Differenz der Heilmittel gedenken, als nach welcher die verschiedenen Arten von Curmethoden bestimmt werden. Heilmittel sind Dinge, durch deren Anwendung auf thierische Körper wir die Krankheiten derselben zu entfernen suchen. Es ist gleich viel, ob diese Dinge körperlicher oder unkörperlicher Natur, Substanzen der Erde, oder ätherische Stoffe sind, die dem ganzen Weltall angehören, ob sie durch mechanische, chemische oder andere Kräfte wirken. Ihre Realität gründet sich also auf ein Verhältniß, das zwischen ihnen und dem Zweck Statt findet, den sie erreichen sollen. Es giebt daher in der Welt, die als ein Mannichfaltiges nach den Gesetzen der Causalität existirt, keine Dinge, die ausschließlich zu dem Zweck vorhanden wären, Krankheiten zu heilen. Ihre Zweckmäßigkeit ist bedingt, und so mannichfaltig als die Gegenstände, auf welche sie angewandt werden. Das nemliche Ding, welches der Arzt zur Heilung der Krankheiten gebraucht, kann auch zu andern Zwecken, z. B. zur Zerstörung der Organisation angewendet werden, und ist alsdenn, in dieser andern Beziehung, ein Gift. Die Heilmittellehre hat also in der Reihe der Naturdinge kein bestimmtes Gebiet (dominium), das sie als Eigenthum beherrscht, sondern wählt aus dem Inbegriff aller solche aus, die Behufs des Zwecks der Heilung auf den menschlichen Körper taug- [24] lich sind. Ihr ist in dem Gebiete derselben bloß ein Aufenthaltsort (domicilium) zugestanden, dessen Umfang nicht absolut begrenzt ist, sondern nach den Fortschritten der Kunst sich verändert, verengert, erweitert. Das nemliche Ding ist ein Nahrungsmittel, wenn es den Verlust an Substanz in einem gesunden Körper ersetzt; eine Arzney, wenn es die verlohrne Gesundheit wieder herstellt; und ein Gift, wenn es dieselbe zerstört. Dabey bleibt es, an sich, immer das nemliche Ding. Daher muß jeder Versuch verunglücken, durch die Diätetik, Arzneimittellehre, Toxikologie u.s.w. bestimmte Scheidungslinien in dem Naturreich zu ziehen, und es gleichsam in besondere Provinzen abzutheilen.
Den Begriff
eines Heilmittels müssen wir also auf seinem letzten Zwecke
gründen. Allein ordnen können wir die Heilmittel nicht nach ihren
Unterzwecken, weil das nemliche Ding zu verschiedenen Zwecken brauchbar
ist, und daher keinen steten Platz im System finden würde. Deswegen
ist die Eintheilung derselben in Nahrungsmittel,
Arzneien,
Gifte,
Brechmittel,
Wurmmittel
u.s.w. fehlerhaft, wenn wir uns einbilden, dadurch jedem ärztlichen
Instrument seinen eigenthümlichen Ort im System angewiesen zu haben.
Ein Eintheilungsgrund, der sich nicht sowohl auf ihre Zwecke, sondern vielmehr
auf ihre absoluten Kräfte [25] bezieht, scheint mir
daher zur Aneinanderreihung derselben in eine systematische Ordnung bequemer
zu seyn. Sie wirken entweder vermöge ihrer chemischen oder
vermöge ihrer physisch- mechanischen Eigenschaften. Unter dieser
Abtheilung stehn die chirurgischen Mittel; unter jener die
Arzneien
und Nahrungsmittel. Hiermit pflegt man die Kette zu schließen;
doch zu früh. Denn es giebt noch andere Dinge, die Heilmittel sind,
weil sie Krankheiten heben; aber weder chemisch, noch mechanisch, sondern
psychisch
wirken. Diese Kräfte, die psychisch wirken, liegen auch, wenn sie
auf den bestimmten Zweck der Heilung der Krankheiten hinwirken, innerhalb
der Grenze der Heilmittellehre. Alle Instrumente derselben wirken daher
Aerztliche Bemühungen
auf dem ersten Wege heißen
medicinische, auf dem zweiten chirurgische,
auf dem letzten
psychische Curen, wohin z.B. die Curen durch erregte
Leidenschaften, Sympathie, Kraft des Vorsatzes, eigene Haltung des Geistes
u.s.w. gehören.
Doch bemerke ich noch, daß wir die erwähnten Prädikate, theils auf die absoluten Eigenschaften der Instrumente, die sie an sich haben theils auf die Art der Wirkungen beziehen können, die sie im Körper erregen. Nun sind aber die Veränderungen, welche die Heilmittel in der Qrganisation hervorbringen, fortschreitend, und die letzten Producte derselben können eine von den absoluten Kräften der Heilmittel verschiedene Natur haben. Das Heilmittel fängt die Veränderung an, die Organisation vollendet dieselbe. Die Färberröthe wirkt chemisch, doch macht sie die krummen Beine rachitischer Kinder gerade, verursacht also eine endliche mechanische Veränderung. Ferner ist es noch wahrscheinlich, daß die letzten relativen Wirkungen aller, selbst der psychischen, Heilmittel, in einer Veränderung des Stoffs und seiner Structur bestehn. Daher neue Schwierigkeiten in der Anordnung des Systems. Doch diese Untersuchungen setze ich bey Seite, da sie zur Philoso- [27] phie der Pharmakologie und allgemeinen Therapeutik gehören.
Wenn demnach die allgemeine Heilkunde, der diese Untersuchung angehört, zwey Curmethoden, die chirurgische und medicinische, von welcher die diätetische, eine Abart ist, nach der Natur und Wirkungsart der Mittel, die angewandt werden, festsetzt; so muß sie, wenn sie consequent verfahren will, denselben eine dritte, die psychische, zufügen. Freilich ist diese letzte noch rohes Feld, die aber durch Cultur zu der nemlichen, ja vielleicht noch höheren Wirksamkeit gesteigert werden kann, welche die beiden übrigen Curmethoden besitzen. In der That ein bedeutender Zuwachs, durch welchen die Grenzen der Heilkunde um ein ganzes Drittheil weiter hinausgesteckt werden! Mit denselben öffnet sich dem Kunstfleiße der Aerzte eine neue Sphäre der Thätigkeit, die ihnen die interessantesten Gegenstände zur Bearbeitung anbietet. Die medicinischen Fakultäten werden nach dieser Acquisition genöthigt seyn, den vorhandenen zwey Graden noch einen Dritten, nemlich die Doctorwürde in der psychischen Heilkunde, zuzufügen.
Psychische Curmethoden sind also methodische Anwendungen solcher Mittel auf den Menschen, welche zu- [28] nächst auf die Seele desselben und auf diese in der Absicht wirken, damit dadurch die Heilung einer Krankheit zu Stande kommen möge. Es ist daher in Rücksicht ihres Begriffs gleichgültig, ob sie eine Krankheit der Seele oder des Körpers heilen; ob das erregte Spiel der Seelenkräfte, zum Behuf der Heilung, durch mitgetheilte Vorstellungen und Begriffe, oder durch körperliche Mittel, z.B. durch Ruthen, Douchen und Kanonendonner erregt worden ist.
Diese Curmethode ist zwar als eigne Disciplin, in einem systematischen Zusammenhang und in Verbindung mit den ihr angehörigen Wissenschaften nie bearbeitet. Doch finden wir hie und da Bruchstücke derselben, die uns die Geschichte der Arzneikunde, aus der älteren und neueren Zeit, aufbewahrt hat. Apparent rari nantes in gurgite vasto. Die Griechen und Römer waren mit ihr nicht unbekannt. Davon überzeugen uns manche Stellen in den Schriften des Hippocrates, Celsus und C. Aurelianus. Auch die Araber bedienten sich ihrer zur Heilung der Krankheiten. Mit welchem Glück? das erhellt aus folgender Geschichte. Al-Raschid's schöne Beischläferin [F01] hatte sich in den Umarmungen ihres Gebieters mit so vieler Inbrunst gestreckt, daß einer ihrer Arme starr blieb. Man versuchte alles zu ihrer Herstellung; Balsame von Gilead und Mekka flossen in Strömen, Narden und Am- [29] bra dampften in dem Rauchfasse, aber umsonst. Es wurde also ein neuer Arzt, Gabriel, herbeigerufen. Dieser heilte die Kranke in einem Augenblick, durch einen psychologischen Versuch. Er stellte sich als wollte er ihren Unterrock berühren, und dies in Gegenwart von Zeugen. Schnell entbrannte Zorn in der Brust des schönen Mädchens, ihr Krampf schwand, und sie griff mit beiden Händen auf den verwegnen Frevler zu. Sie war geheilt {J-HM-S28}, der Kaiser aller Gläubigen glücklich durch die Hoffnung neuer Umarmungen, und der Arzt nicht minder durch 5oo,ooo Thlr., die er für diese Cur geschenkt bekam. [FN29 *)] Aus der neueren Zeit führe ich Kant, Th. Barnes, Bolten und einige Andere an [FN29f **)]
[30] Doch ist es noch nicht lange, daß man die psychische Curmethode auf Geisteszerrüttungen angewandt, und es einzusehen angefangen hat, daß diese Krankheiten vorzüglich durch sie geheilt werden müssen. Ich fange, wie billig, mit der Nation an, die sich die große nennt, es aber nicht durch ihre Aerzte ist. Quantum est inane in rebus humanis! Herr Pinel genoß der schönen Erndte für dies Fach zur Zeit der Revolution, wo nach seinem eignen Geständnisse die Narren in Frankreich häufiger waren, als je zu einer anderen Zeit. [31] Sein Werk über den Wahnsinn ist ein Coq à l'ane, üppig in einzelnen Theilen, aber krank im Zusammenhang, ohne Principien und Originalität, ob er gleich Nationaldünkel genug hat, sich alles dies anzumaßen. Daß wir über kurz oder lang eine systematische Theorie der psychischen Curmethode bekommen, glaube ich: aus der Republick? Das glaube ich nicht. Die zweite große Nation der Erde, die mit mehr Bescheidenheit das von sich denkt, was jene von sich sagt, hat viele, aber meistens gemeine Artikel über den Wahnsinn geliefert. Herrn Crichton nehme ich aus, dem ich im Vorbeigehn meine größte Hochachtung bezeuge. Ihr Veteran in der Kunst ihn zu heilen, Herr Willis, soll vorzüglich durch die psychische Curmethode wirken, ist aber so bescheiden, daß er seine Geheimnisse für sich behält. Allein ehe noch die großen Nationen an diesen Gegenstand dachten, standen unter den Deutschen Erhard [FN-S31*)], Langermann [FN-S31**)] und vor ihnen Kloekhof [FN-S31***)] auf, warfen sich dem Schlendrian in den Weg, und predigten ohne Pomp, aber laut und verständlich es allen, die Ohren hatten zu hören, daß der Wahnsinn vorzüglich durch die psychische Cur- [32] methode geheilt werden müsse. Vielleicht könnte es gar diesem, wenigstens an frechen Thrasonen ärmlichen Völckchen gelingen, dies Fach mit dem meisten Glück zu bearbeiten, wenn sie mit ihren Nachbaren einerley günstige Hülfsmittel hätten.
Die psychische Curmethode hat noch mit mancherley kleinen und großen, relativen und absoluten Schwierigkeiten zu kämpfen. Wer sich daher ihrer bedienen will, scheint ein vorzügliches Talent, großen Scharfblick, mehr Kenntnisse und Fertigkeiten nöthig zu haben als jeder andere Heilkünstler, der direct auf den Körper wirkt. Der psychische Arzt hat die verwickeltsten Verhältnisse zu berechnen. Er kann die absolute Kraft seiner Instrumente, nicht wie die Kraft eines Tourniquets oder wie die Größe eines Rhabarberpulvers, in Zahlen fassen, oder durch Maaß und Gewicht bestimmen. Meistens muß er die Eindrücke auf das Vorstellungs- und Begehrungsvermögen des Kranken extemporiren, wie es der Zufall heischt und sein Genie zu starken und überraschenden Inpromptü's aufgelegt ist. Noch mehr Spielraum hat der relative Effect der psychischen Mittel. Sie wirken auf das Seelenorgan, also auf einen Theil des Organismus, der unter allen die zartesten Kräfte und diese von so beweglicher Temperatur hat, daß [33] sie steigen, fallen und sich verändern durch ihre eignen Wirkungen. Diese Qualität des Seelenorgans enthält den Grund seiner Anlagen zu Gewohnheiten und Fertigkeiten; den Grund der Möglichkeit aller, sowol der moralischen als der intellectuellen Erziehung des Menschen. Nun erfolgt zwar dies Ebben und Fluthen der Nervenkräfte nach einer steten Regel, so lange sie gesund sind. Aber diese Regel wird aufgehoben, wenn sie erkranken und ihr Wechsel bindet sich nicht mehr an ein allgemeines Gesetz. Daher neue Schwierigkeiten. Wie schwer muß es also für den Künstler seyn, das Product zweier Factoren zu berechnen, deren Natur und Größe einem ewigen Wechsel unterworfen ist.
Noch mehr Schwierigkeiten hat die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. In denselben leidet der Brennpunkt des Nervensystems; er leidet an einer solchen dynamischen Intemperatur, daß fremde Erscheinungen auf normale Eindrücke erfolgen und alle Freiheit des Willens aufgehoben ist. In anderen Seelenkrankheiten kömmt uns der Patient zu Hülfe. Er beobachtet sich selbst und theilt uns seine Erfahrungen über den Einfluß der angewandten Potenzen auf sich mit. Er entschließt sich als freier Mensch zur Vollziehung des vorgelegten Curplans und hält seinen Geist, wie es dem Zweck seiner Genesung angemessen ist. Allein beides kann der Verrückte nicht. Er denkt [34] und handelt wie ein Kind und entschließt sich nie freiwillig zur Cur einer Krankheit, von deren Daseyn er, als Verrückter, sich schlechterdings nicht überzeugen läßt. Da es ihm also an inneren Bestimmungsgründen fehlt, so müssen wir ihn von außenher nöthigen, auf sich wirken zu lassen. Nun setzt aber dieser Zwang theils ein besonderes, fast individuelles Studium der Erfahrungs- Seelenkunde dieser eigenartigen Geschöpfe voraus, theils beengt er mehr oder weniger die extensive und intensive Wirksamkeit der psychischen Curmethode.
Dann hat noch die Krankheit selbst keine Stätigkeit. Sie wechselt unaufhörlich, steigt, fällt, ändert ihre Form. In den nemlichen Verhältnissen müssen auch die Seelenkräfte gewechselt haben. Die moralischen und intellectuellen Bestimmungen ändern sich wie die Perioden seiner Krankheit. Der Narr ist im Anfall ein anderes, und ein anderes Wesen im Nachlaß. Während des Paroxismus wird der Furchtsame kühn, der Dummkopf beredt, das sanfte Weib eine wüthende Megäre. Der Rasende warnt seine Freunde vor einem Unglück, das er ihnen selbst zubereitet; er sorgt als Freund oder Vater im Nachlaß für die, die er im kommenden Anfall zerfleischt. Verrückte hassten ihre Kinder, drohten ihren Eltern mit Schlägen in den Anfällen, die sie außer denselben zärtlich liebten [FN-S34*)]
[35] Wahnsinnige, die in den Intervallen fromm und gutmüthig sind, werden in den Paroxismen wie von einem bösen Dämon zum Zanken, Zerstören, Schlagen, Stehlen und zu ähnlichen Bübereien angetrieben [FN-S35*)]. Ein grausamer Instinct reitzt andere, wider ihren Willen, und ohne Verwirrung der Begriffe, gleich reißenden Tigern, ihre Wuth in ihren eignen Eingeweiden oder in dem Blute ihrer Nächsten abzukühlen. Pinel [FN-S35**)] sah einen Menschen, der sich seine eigne Hand abgehauen hatte, und ohngeachtet seiner Fesseln sich mit den Zähnen seinen Schenkeln zu nähern und sie aufzufressen suchte. Er starb durch Selbstmord. In dem Stockhause zu Gießen geschah das Nemliche. Der Kranke hatte sich alles Fleisch von den Fingerspitzen bis zur Handwurzel abgenagt, so daß die Sehnen und die mit der Beinhaut bloß noch bedeckten Knochen nackend da lagen [FN-S35***)].
Allein diese Schwierigkeiten in der Anwendung der psychischen Curmethode, mögen sie auch noch so groß seyn, sollen uns weder muthlos noch unthätig machen. Nur der Faule scheut [36] den Löwen im Wege. Manche Hindernisse beseitigt das Genie des Künstlers in der Ausübung. Hier scheiden sich Theorie und Praxis. Jene giebt die allgemeinen Regeln, diese muß sie den individuellen Umständen anpassen. Um dies Verhältniß richtig aufzufassen, muß der Arzt nicht allein den vorliegenden Fall in allen, selbst in seinen verstecktesten Beziehungen, überschaun; sondern auch in Besitz der Regeln seyn, die er auf denselben anwenden soll.{J-HM-S36} Es ist daher ein so trivialer als falscher Gemeinplatz, daß gute Praktiker gebohren und nicht gezogen werden müssen.
Also unverzagt Hand ans Werk gelegt! Wir wollen mit Männerkraft und Jünglingswärme wirken; in Masse aufstehn, wo die einzelnen Kräfte nicht ausreichen; unsere Anstrengungen in dem Verhältnisse verdoppeln, als die Hindernisse wachsen. Aerzte und Philosophen sollen die Theorie der psychischen Curmethode ihrer Vollendung immer mehr annähern; und der Staat stiftet zweckmäßige Anstalten, in welchen die Theorieen versucht und gute Künstler durch Uebung gebildet werden können. Es werde nur ein bedeutender Mensch durch unsere Arbeiten aus dem Tolllhause gerettet; haben wir zuviel für ihn gethan?
Psychische Curen sind Wirkungen auf die Seele, behufs des Zwecks der Heilung einer [37] Krankheit. Sie sind also aus dem Gebiete der praktischen Erfahrungs- Seelenkunde entlehnt, von deren Verhältniß zur Arzneiwissenschaft ich im Vorbeigehn ein Paar Worte lagen muß.
Gewöhnlich betrachten die Aerzte sie als Hülfswissenschaft. Allein man kann diesen Begriff nehmen wie man will. In gewisser Beziehung sind alle zur Arzneikunde gehörigen Disciplinen Hülfswissenschaften; in einer andern sind sie ihr alle eigenthümlich. Sie hat nemlich als solche kein eigenes Gebiet, das durch sich selbst, wie z.B. die Astronomie, begrenzt wäre. Ihr Zweck setzt ihre Grenzen. Sie nimmt also verschiedene Erkenntnißarten, als ihr angehörig auf, wenn sie zur direkten Erreichung ihres Zweckes geeignet sind. Die nemlichen Ansprüche macht sie an die Psychologie und mit desto größerem Fug, je mehr sie dieselbe in ihr eigenthümliches Interesse verweben kann. Nun steht aber die Psychologie mit demselben in mancherley Beziehungen. Sie ist eine Naturlehre eines Theils des Gegenstandes, auf welchen der Arzt wirken, den er also auch kennen muß. Wer umfaßt das Wesen des Substrats der Seelen- und Körperkräfte? Wer darf sich unterfangen, darüber abzusprechen, ob es homogener oder heterogener Natur sey? Und gesetzt auch, die Seele wäre nichts Körperliches, so greift sie immerhin in dasselbe ein, und verrückt dem Arzt seine Zirkel, wenn er ihre ge- [38] heimen Spiele nicht kennt. Dann hat die Seele Krankheiten wie der Körper, die mit einander in einer beständigen Wechselwirkung stehn. Die Psychologie bietet ferner dem Arzte eine eigne Classe von Instrumenten zur Correction der Fehler organischer Körper an. Und endlich muß die psychische Curmethode, als Inbegriff von Regeln, psychische Mittel zu bestimmten Zwecken anzuwenden, aus ihr entlehnt werden. {J-HM-S38}
Allein eine solche Psychologie für Aerzte und wahrscheinlich auch von Aerzten, würde einen andern Zuschnitt als die gewöhnlichen haben müssen. Dem Philosophen, als bloßem Naturforscher, genügt es, seinen Gegenstand ohne Rücksicht auf einen besonderen Zweck zu bearbeiten. Für ihn ist es genug, die Phänomene der Seele unter sich in ein System zu verknüpfen. Er hält sich vorzüglich an die Naturlehre der Seele in ihrem normalen Zustande; höchstens fügt er etwan ihre moralischen Gebrechen zu, die den Arzt nichts angehn. Der Arzt bedarf zwar auch, wie der Philosoph, einer Naturlehre der gesunden Seele, damit er eine Norm für die kranke habe. Allein vorzüglich greift die Lehre ihrer Krankheiten und die Methode, sie zu entfernen, in seine eigenthümliche Bestimmung ein.
Eine Psychologie für Aerzte würde daher ein ganz anderes Ding, ein Inbegriff empirisch- psychologischer Erkenntnisse seyn, die mit beständiger Rücksicht [39] des gegenseitigen Einflusses beider Theile des Menschen aufgesucht, und mit dem Heilgeschäfft in der engsten Verbindung gesetzt sind. Es scheint, sie müsse nach eben dem Zuschnitt, wie die Arzneikunde, die auf den Körper wirkt, also als Physiologie und Pathologie der Seele, psychische Heilmittellehre und Therapie geordnet werden. Die Physiologie betrachtet die Seelenvermögen, wie sie in der Regel und ihren Naturbestimmungen gemäß seyn müssen, und dient zur Norm in der Reflection über ihren kranken Zustand. Diesen behandelt die Pathologie, deren Gebiet man nicht zu eng, etwan auf bloße Geistesverkehrtheiten einschränken darf. Denn die Seele leidet weit ausgedehnter, je nachdem ihre Kräfte einzeln oder insgesammt erhöht, erniedrigt, verstimmt, oder in ein falsches Verhältniß gesetzt sind. Sie leidet im Alp, dem Nachtwandeln, der Hypochondrie u.s.w. an Zufällen, die mit der Verrücktheit nichts gemein haben. In der allgemeinen Seelenpathologie würde der Begriff der Seelenkrankheiten exponirt, und ihr Unterschied von moralischen Gebrechen und körperlichen Krankheiten festgesetzt. Dadurch werden zugleich ihre Grenzen abgesteckt. Dann müßte in derselben der logische Eintheilungsgrund der Seelenkrankheiten aufgesucht, und ihre generische und specifische Differenz angegeben werden. Die [40] besondere Pathologie stellt die Arten, also Einheiten auf, die gleichsam die Elemente der zusammengesetzten sind, und also vorher zur Erkenntniß kommen müssen, ehe die Analysis der letzten möglich ist. Krankheiten der Seele erregen körperliche, körperliche bringen Seelenkrankheiten hervor. Daher die Differenz der einfachen und zusammengesetzten, der reinen und gemischten Seelenkrankheiten. Zur Pathologie gehört endlich noch die Zeichenlehre der Seelenkrankheiten, deren specieller Theil in dem Verhältniß von der Pathologie verschlungen wird, als dieselbe die wesentlichen Merkmale ihrer Objecte immer richtiger auffaßt.
Dies und manches andere von der Erkenntniß des kranken Zustandes. Mit der Entfernung desselben würde sich der zweite praktische Theil der Erfahrungs- Seelenkunde für Aerzte, nemlich die psychische Heilmittellehre und die Therapie beschäfftigen müssen. Jene würde zuerst in ihrem allgemeinen und philosophischen Abschnitt die Vermögen der Seele, auf welche gewirkt werden soll, erörtern müssen, damit die Möglichkeit einer psychischen Heilmittellehre begriffen werden könne. Dahin rechne ich die Vorstellungs-, Gefühls- und Willenskraft der Seele, ihr Associationsvermögen, ihre ununterbrochne Thätigkeit im wachenden Zustande, das Fortschreiten in ihrem Geschäffte, das Verlöschen der [41] gegenwärtigen Ideen, wenn neue entstehn, ihren Hang zur Nachahmung, ihre Anlage zu Gewohnheiten und Fertigkeiten, als worauf die Gesetze sich gründen, nach welchen die angewandten Eindrücke wirken, und ihr dynamisches Verhältniß abändern. Dann zählte sie alle körperlichen moralischen Mittel auf, die zunächst durch eine zweckmäßige Veränderung der Seele wirken, und dadurch eine Körper- oder Seelenkrankheit, zu heilen im Stande sind. Sie zählte sie vollständig auf, ordnete sie systematisch, und beurtheilte sie in ihren Wirkungen scientistisch, mit Rücksicht auf das Object, welches sie abändern sollen. An sie schließt sich das Seelenregimen an, das in einer zweckmäßigen Haltung der Seele, zum Behuf des Heilgeschäffts, in Beziehung ihrer inneren Regungen und der gewöhnlichen äußeren Einflüsse auf dieselbe besteht, eine terra incognita, die Diätophilus zuerst und mit dem glücklichsten Erfolg zu bearbeiten angefangen hat. Man findet zwar die Titel einer Seelendiätetik angezeigt, aber keine Bücher dazu; oder diese Titel mit Büchern, aber von verschiednen Verfassern, und daher von einem andern Inhalt, als ihre Aufschrift besagt. Einige, doch unvollkommene Bruchstücke des Seelenregimes enthalten unsere philosophischen Pathematologien. Uebrigens bemerke ich noch, was ich oben bereits im Allgemeinen von diesen Disciplinen angemerkt habe, daß zwischen der psy- [42] chischen Diätetik und Heilmittellehre kein wesentlicher Unterschied Statt finde. Die Therapie stellt endlich die Verhältnisse zwischen den absoluten Kräften der Mittel und den in Anfrage stehenden Arten der Krankheiten auf. Sie giebt die Regeln, nach welchen die in der Heilmittellehre angemerkten Instrumente auf concrete Fälle angewandt werden müssen. Auf dies Verhältniß gründet sich die Theorie der psychischen Curen, die sich um so mehr von der Empirie entfernt, als die Mittelglieder zwischen der absoluten Kraft des Heilmittels und ihrem Produkt, der Entfernung der Krankheit, vollständig gefunden sind.
Allein an einer solchen praktischen Erfahrungs- Seelenkunde für Aerzte, die, als ein drittes Glied im Triumvirat, der Arzneikunde und Chirurgie zur Seite treten sollte, fehlt es ganz. Die vorhandenen Bruchstücke psychischer Curen, sind zum allgemeinen praktischen Gebrauch nicht geeignet, weil sie unter keine allgemeinen Begriffe aufgefaßt sind, und daher in der Anwendung zu viel Genie des Künstlers voraussetzen.
Die hohen Schulen könnten, wenn sie erst wären, was sie seyn sollten, Pflanzschulen denkender Aerzte, durch Vorlesungen über die Methodologie dieser Disciplin die Bahn brechen. Aber leider sinken manche derselben immer mehr zu Werkstätten herab, in welchen rohe Handwerker zugehauen werden. Groß ist noch das [43] Feld im Reiche des Wissens, das urbar gemacht werden könnte. Auch fehlt es weder an Kräften noch an Willen. Nur müssen die Außenverhältnisse das Streben der Menschen nach Veredlung und Vervollkommnung seiner selbst begünstigen. Mir träumte jüngst, und wer kann davor, daß man träumt, nach einem glücklichen Abend in dem geschlossenen Zirkel einiger Freunde, in dem Lande der Severamben zu seyn. Ich sah daselbst neben der Armee, die die äußere Sicherheit besorgte, auch ein literarisches Corps, das aus Chemikern, Anatomen, Botanikern und anderen Naturforschern bestand. Der Auditeur, den es als Zierrath bey sich führte, war ein speculativer Naturphilosoph. Es hatte seine Chefs und Handlanger, Denker und Arbeiter, bewegliche Garnisonen, gute Werbeplätze, und hielt strenge Mannszucht, die unseren Akademien fehlt. Dies Corps bestand auf Kosten des Staats, und war bloß dazu bestimmt, Künste und Wissenschaften, durch dieselben jeden Zweig des Erwerbs, die Industrie und die innere Wohlfahrt der Landeseinwohner zu fördern. Es untersuchte die Produkte des Landes, lehrte ihre bessere Benutzung, half den Fabriken und Gewerben auf, belebte den Betrieb des Ackerbaues und des Handels. Dann suchte es zur Zeit der Muße die Grenzen der Wissenschaft überhaupt, ohne Rücksicht auf direkten Gewinn, zu erweitern. Wohin es kam, blühte der Erwerbsfleiß, [44] Wohlstand und Reichthum unter seinen Fußstapfen auf. Es vergieng kein Jahr, in welchem es sich nicht durch den Wachsthum des Nationalglücks ein Monument seiner Existenz setzte, das seinen geringen Aufwand rechtfertigte, wenn größere Anstrengungen der Staatsfinanzen entweder keine, oder eine mit Zerstörung bezeichnete Spur von sich zurückließen.
Es giebt nur zwey Wege, Krankheiten zu heilen, entweder wir tilgen sie direkt, oder entfernen die Ursachen, durch welche sie entstehn. Wir vernichten das Produkt, oder die Kräfte, durch welche es ursprünglich erzeugt und in der Folge unterhalten wird, und die Vegetation zerstört alsdenn das Produkt. Ein krummer Baum wird gerade, wenn er an eine Stange gebunden, oder dem Windstoß, der ihn krümmt, der Zugang vermauert wird. Alle andere Curregeln sind, unter diese begriffen.
Nach diesen Regeln muß auch der Wahnsinn geheilt werden. Doch scheint es, daß wir bloß die erste Indication durch Arzneien, aber die zweite, die unmittelbare Tilgung des Wahnsinns, keineswegs durch dieselben erreichen können. Arzneien können den Andrang des Bluts zum Kopf, Verstopfungen des Unterleibes, Würmer im Darmkanal, Reize im Sonnengeflecht und in den Geschlechtstheilen [45] und andere Dinge, die den Wahnsinn erregen, fortschaffen. Sie mögen vielleicht auch dann und wann eine allgemeine Erhöhung der Reizbarkeit des Gehirns in Phrenesieen, oder eine gleichmäßige Abstumpfung derselben im neuen Blödsinn heilen können. Doch dies sind seltene Fälle. Denn die körperlichen Reiz- und Besänftigungsmittel scheinen keinen solchen Einfluß auf das Seelenorgan, wie auf die übrigen Theile des Körpers zu haben. Oft rechnet man ihnen auch zu, was ihnen nicht zugerechnet werden darf. Wenn kalte Bäder, Urtikationen, Brenneisen u.s.w. den Wahninn geheilt haben; so ist es vielleicht ganz psychisch, durch Schmerz, Furcht und andere Seelenregungen geschehen.
Die direkte Cur des Wahnsinns, oder das ärztliche Einwirken unmittelbar auf den Theil des Organismus, in welchem die Phänomene der Verrücktheit zunächst und zureichend gegründet sind, muß höchst wahrscheinlich bloß durch die psychische Curmethode geschehen. Dies scheint aus der ganzen Einrichtung des Seelenorgans hervorzugehn. Sein Mechanismus ist höchst componirt und die dynamische Temperatur seiner Theile verschieden. Dadurch entstehn die eignen Beziehungen derselben auf einander, die wir in der Erregung durch äußere Einflüsse und innere Associationen wahrnehmen. Nun scheint es, daß Arzneien zwar allgemein, durch die Vegetationsinstrumente, auf dies [46] Organ wirken, aber Mißverhältnisse in seinen Beziehungen nicht verbessern können. Mag das Gehirn einmal als ein zusammengesetztes Kunstwerk aus vielen tönenden Körpern gedacht werden, die in einer zweckmäßigen Beziehung (rapport) stehn. Wird einer derselben von außen, durch das Mittel der Sinne, angestoßen, so erregt sein Ton den Ton eines anderen, dieser wieder einen anderen; und so wandelt die ursprüngliche Erregung in mäandrischen Zügen und nach bestimmten Kraftverhältnissen durch die weiten Hallen dieses Tempels fort, bis ein neuer Stoß den vorigen Zug aufhebt oder mit demselben zusammenfließt und dem vorigen eine andere Richtung mittheilt. Diese Beziehungen der Theile des Seelenorgans unter einander sind auf eine eben so bestimmte Vertheilung der Kräfte im Gehirn und dem gesammten Nervensystem gegründet. Wird dies Verhältniß gestört; so entstehn Dissonanzen, Sprünge, abnorme Vorstellungen, ähnliche Associationen, fixe Ideenreihen, und ihnen entsprechende Triebe und Handlungen. Die Seelenvermögen können sich nicht mehr der Freiheit des Willens gemäß äußern. So ist das Gehirn wahnsinniger Personen beschaffen. Die Kräfte einiger Gebilde desselben sind über die Norm erhöht, andere in dem nemlichen Verhältniß herabgestimmt. Daher Mangel an Einklang zwischen denselben, fehlerhafte Fortpflanzung erregter Thätigkeiten und Umsturz der Normalität [47] der Seelenfunctionen. Je thätiger die Phantasie des Verrückten ist, desto weniger kommen die Eindrücke der Sinnorgane zum klaren Bewußtseyn. Je mehr er an eine Ideenreihe gefesselt ist, desto weniger können andere Platz gewinnen und die fixirten verdrängen. Denn es ist unbedingtes Naturgesetz, daß die distributiven Aeußerungen der Lebenskraft in dem Maaße erlöschen, als ihre Wirksamkeit an einem Ort hervorstechend angestrengt wird. Nun wirken aber die körperlichen Excitatoren gleichmäßig, also auch auf die schon zu empfindlichen Saiten; die beruhigenden Arzneien stimmen alles, auch die torpiden Fasern, in gleichen Graden herunter. Man kann allerdings den Rasenden durch Mohnsaft zur Ruhe bringen, allein gescheut ist er deswegen nicht, sondern nur ein Narr anderer Art geworden. Doch muß man die Sthenie und Asthenie des Vegetationssystems, welches auf das Ganze einfließt, nicht verwechseln mit der eigenthümlichen Energie, die das Gehirn, als ein schon gebildeter Theil, unabhängig von demselben, besitzt. Das Vegetationssystem kann zwar zu schwach seyn in Rücksicht der ganzen Oekonomie, aber doch zu stark auf Einen Theil wirken, und denselben mit Kraft überladen.
Eine andere Ansicht. Die plastische Natur schafft das Gehirn als eine rohe Masse (tabula rasa) aus einem thierischen Stoff, der außer den allgemeinen Eigenschaften thierischer Stoffe über- [48] haupt, noch eine Anlage besitzt zu einer eigenthümlichen Ausbildung. Es hat ursprünglich keine Vorstellungskräfte, denn diese können nicht ohne Vorstellungen gedacht werden, sondern bloß Anlage zu ihrem Erwerb, das heißt, eine solche Beschaffenheit, daß sie in ihm wirklich gemacht werden können. Ursprünglich entstehn sie durch die eigenthümlichen, aber gezwungenen, Erregungen desselben. In der Folge werden sie weiter ausgebildet und immerhin modificirt, durch eben diese äußeren Einflüsse und durch die eigenmächtigen Thätigkeiten, die sie selbst hervorbringen. Die Erregungen sind so mannichfaltig, als die Individuen, in welchen sie Statt finden. Das Gehirn bekömmt also ursprünglich durch Ideen seine Kräfte und die bestimmte Art von Kräften, welche sich verhalten, wie die Erziehung, durch welche seine intellectuelle Anlage entwickelt wird. Es ist also durch sich selbst einem ewigen Wechsel der Kräfte unterworfen, der aber innerhalb der Breite des gesunden Zustandes liegt. Durch Ideen wird das normale dynamische Verhältniß des Gehirns gegründet, durch Ideen muß dasselbe rectificirt werden, wenn es gestört ist.
Der Zweck der meisten Heilmittel geht dahin, diejenigen Kräfte abzuändern, durch welche anomalische Erscheinungen entstehn. Nun werden aber die Kräfte durch zweckmäßig erregte Thätigkeiten abgeändert. Denn sie sind [49] Resultate des Stoffs und der Struktur; und die Natur vegetirt (wechselt den Stoff), wenn sie wirkt, ändert also durch ihre Thätigkeiten die Qualität und Quantität der Kräfte ab [FN-S49*)]. Unsere Nase wird bald durch zu starke Gerüche so abgestumpft, daß sie mitten in einer Parfümeriefabrik nichts riecht. Das Anschaun der Sonne raubt unserer Netzhaut ihre Reizbarkeit so sehr, daß es auf einmal Nacht um uns wird. Gefangene lernen im finstern Kerker, also bey einem sehr geringen Licht sehn. Wenn man auf ein weißes Papier in der Sonne eine Nadel sticht und sie nachher wegnimmt, so sieht man nun an dem Orte des Schattens eine lichtere Stelle.
Wenn daher die alienirten Kräfte des Gehirns im Wahnsinn rectificirt werden sollen; so muß dasselbe auf eine so bestimmte Art in Thätigkeit gesetzt werden, daß dieser Zweck erreicht wird. Nun kann dasselbe aber durch keine anderen Erregungsmittel in seine specifisch eigenthümliche Action gebracht werden, als durch solche, in deren Gefolge Gefühle, Vorstellungen, Triebe u.s.w. entstehn. Dies geschieht durch die psychische Curmethode. Sie erregt das Seelenorgan specifisch, weckt die torpiden, bringt die exaltirten Theile zur Ruhe. Dadurch wird der Intemperatur der Reizbarkeit des Gehirns eine andere Richtung gegeben. So sind wir im Stande [50] Gleichgewicht und normales Kraftverhältniß in den verschiednen Getrieben des Seelenorgans, Einklang und richtige Beziehung (rapport) derselben zu einander, dadurch Harmonie der inneren und äußeren Sinne, die gehörige Stärke der Phantasie, die äußere und innere Besonnenheit, die richtige Verknüpfung der Ideen unter sich und mit den Funktionen der Willenskraft wiederherzustellen, wovon die ganze Normalität der Kraftäußerungen der Seele abhängt.
Dies sind theoretische Gründe, aus der Natur des Seelenorgans hergenommen, die die Behauptung unterstützen, daß Gefühle und Vorstellungen, kurz Erregungen der Seele, die eigenthümlichen Mittel sind, durch welche die Intemperatur der Vitalität des Gehirns rectificirt werden müsse. So wie es Krankheiten giebt, die vorzugsweise durch chirurgische Mittel; andere, die durch Arzneien geheilt werden müssen; so scheint die psychische Curmethode vorzüglich zur Heilung der Seelenkrankheiten geeignet zu seyn. Diesem Raisonnement treten die schon gemachten Erfahrungen von ihrer Wirksamkeit bey, und werden dieselbe in der Folge noch mehr bestätigen, wenn wir sie häufiger und nach Regeln anwenden.
Behufs der psychischen Curmethode, besonders in Hinsicht auf Heilung der Geisteszerrüt- [51] tungen, scheint es gerathen zu seyn, wie bereits oben gesagt ist, die Vermögen der Seele, und die Gesetze, nach welchen sie wirkt, einer eigenen, diesem Zweck besonders entsprechenden Ansicht zu würdigen. Der Arzt war meistens nicht Philosoph, der Philosoph nicht Arzt genug, um die Psychologie nach dieser Idee zu bearbeiten. Man raisonirt zu viel und beobachtet zu wenig; schaut theils ohne Plan, theils nicht ohne Vorurtheil an; philosophirt auf der Stube und vergleicht die gemachten Erfahrungen zu sparsam mit der Natur, so daß sie durch die kreisenden Traductionen von einem Verleger zum andern zuletzt ihre ursprüngliche Gestalt verlieren. Gewöhnlich wird die Seele nur in ihrem normalen, selten in ihrem abnormen Zustand geschildert; und von diesem werden alsdann nicht etwan die einfachen Arten, sondern die verworrenen Gruppen ihrer gänzlichen Zerrüttung aufgestellt. Gute Köpfe sollten sich in Nervenkrankheiten selbst beobachten, welches aber, leider! selten geschieht. Denn dadurch würde mehr Ausbeute, und diese von einem besseren Gehalt gewonnen, als durch das kalte Anschaun der Oberfläche, welches bloß einer dritten Person möglich ist. Endlich läßt sich von der Narrheit der Menschen in den Tollhäusern weit mehr Nutzen ziehn, als bisher geschehen ist. Man findet sie hier ohne Maske, und sieht, was sie sind und werden können, wenn das Räderwerk der Organisation in Unordnung gerathen ist. Kurz, man war mit [52] dem medicinischen Gebrauch der Psychologie zu wenig bekannt, und daher auf ihren Anbau in Rücksicht dieses Zwecks nicht sonderlich bedacht. Doch hat neuerdings der Herr Professor Hofbauer [FN-S52*)] einen Versuch dieser Art gemacht, der ganz das systematische Gepräge seiner Arbeiten hat, und einen trefflichen Beitrag zur endlichen Gründung einer Theorie der psychischen Curmethode anbietet. In der That ein sonderbares Zusammentreffen verschiedner Kräfte zur Vollendung eines Zwecks. Soll man hier den Zufall anstaunen, oder den Finger der Vorsehung verehren? Englands, Frankreichs und Deutschlands Aerzte treten zugleich auf, das Schicksal der Irrenden zu mildern. Ihnen bieten Philosophen und Priester freundlich die Hand, und unsere erlauchten Diener des Staats sind bereit, Entwürfe zu realisiren, die dem Staatsinteresse keine Aufopferung kosten, ihnen Ehre und dem Volke Heil bringen. Mit Frohsinn sieht der Cosmopolit dem unermüdeten Gewühl der Menschen für die Wohlfahrt ihrer Nächsten zu. Das Abschreckende der Gefängnisse und Zuchthäuser, ist beseitigt. Heil unserm Wagnitz! Sanft ruhe Howard's Asche! Ein kühnes Geschlecht wagte sich an die gigantische Idee, die dem ge- [53] wöhnlichen Menschen Schwindel erregte, eine der verheerendsten Seuchen von dem Erdball zu vertilgen. Und wirklich scheint es, daß es dem Hafen nahe sey, einzulaufen. Ueber sie alle schwebt, gleich dem Adler, eine sublime Gruppe speculativer Naturphilosophen, die ihre irdische Beute in dem reinsten Aether assimilirt und als schöne Poesien wieder giebt. Möchte doch jeder unter uns glauben und lehren ohne Partheisucht, die Wahrheit auf seiner Straße verfolgen, aber nicht ungerecht seyn gegen das benachbarte Verdienst, und es nicht vergessen, daß an dem großen Tempel für Menschenglück und Menschenwohl Hände aller Art arbeiten müssen.
Ich will einige Naturalismen über das Bewußtseyn, die Besonnenheit und Aufmerksamkeit, dies Triumvirat nahe verwandter Kräfte der Seele, wagen, in welchen ihre Zerrüttungen ganz vorzüglich sichtbar, und auf welche daher auch die Mittel zur Heilung hauptsächlich gerichtet werden müssen.
FN-S11
)* Diss. de Methodo cognoscendi curandique animi morbos stabilienda, Jenae
1797, p. 3
FN-S12*)
Penrose's Flights of Fancy p. 16.
FN-S13*)
Reil, über die Erkenntnis und Cur der Fieber, 4. Bd. §.
25.
FN-S13
**) Sammlung einiger bisher unbekannt gebliebener Schriften von Immanuel
Kant, herausgegeben von Rink. Königsberg 1800. S. 50.
FN-S15*)
Reil
über die Erkenntniß und Cur der Fieber. Halle 1799. 4. Bd. §.
92.
FN-S19*)
Reils
Fieberlehre 4 B. § 92.
FN-S22*)
Arnold
vom Wahnsinn und der Tollheit. Aus dem Englischen, Leipzig 1784, 1 Th.
S. 13.
FN-S29
*) Gregor. Abul - Pharaji Histor. orient. dynast. Oxoniae 1662.
FN-S29f
**) Bolten's Gedanken von psychologischen Curen, Halle,1751. Imman.
Kant von der Macht des Gemüths, durch den bloßen Vorsatz
seiner krankhaften Gefühle Meister zu seyn. In dem Streit der Facultäten,
Königsberg, 1798. Th. Barnes über die willkührliche
Gewalt, welche die Seele über die Sensationen ausüben kann; in
Wagner's Beitr. I, 144. Tabor über die Heilkräfte der
Einbildungskraft, 1786. Skizze einer medicinischen Psychologie, 1787. Scheidemantel,
die Leidenschaften als Heilmittel betrachtet, Hildburgh. 1787. Siegwart
diss. de Symphatia, Antipathia et curationibus sympatheticis, Tübing,1784,
Alberti
diss. de curationibus sympatheticis, Halle 1730. Salomon diss. de
cura morborum per Sympathiam, Ultraject.1697. Borosagni diss. de
potentia et impotentia animae in Corpus organicum sibi junctum, Halae 1728.
Alberti
diss. de medico effectu affectuum animi, Halae, 1735. Le Clerc,
ergo conferunt curandis magnis morbis animi pathemata, Paris 1656. Felix
diss. de medicina, nonnumquam ex animi commotionibus capienda, Viteb.1790.
Junker
diss. de commotionibus patheticis corpori interdum prosicuis, Halae 1733.
Langii
diss. de animi commotionum vi medica Op. III.
Pauli diss. de animi
commotionum vi medica, Lips. 1700. Weltzien diss. de affectuum animi
usu medico, Goett.1789.
Busse diss. de imaginationis viribus medicis,
Leid. 1698. Will. Falconer dissert. on the Influence of the Passions
upon the disordres of the Body, London 1788. übersetzt von Michaelis,
Leipzig 1789. Wenzels Versuch einer practischen Seelenarzneikunde,
Grätz 1801.
FN-S31*)
Wagners
Beiträge zur philosophischen Anthropologie, Wien 1794. 1ster und 2ter
Band.
FN-S31**)
l. c.
FN-S31***)
Sämmtliche Schriften, Leipzig 1789.
FN-S34*)
Pinel
Abhandlung über Geistesverirrungen übersetzt von
M. Wagner,
Wien 1802. S. 20.
FN-S35*)
Pinel
l. c. S. 21.
FN-S35**)
l. c. S. 22.
FN-S35***)
Thoms
Erfahrungen und Bemerkungen aus der Arzney-, Wundarzney- und Entbindungs-
Wissenschaft.
Reils Fieberlehre, 4ter Band, S 357.
FN-S49*)
Reils
Archiv für die Phys. 5. B. S. 275.
FN-S52*)
Untersuchungen über die Krankheiten der Seele und die verwandten Zustände,
Halle 1802. 1ster und 2ter Th.