Über die Grenzen psychiatrischer Erkenntnis - Gaupp 1903
Hilfsseite zum Katalog der potentiellen
forensischen Gutachtenfehler (MethF)
Methoden- und Methodenproblembewusstsein
in der - forensischen - Psychiatrie
Zu:
Potentielle Fehler in forensisch psychiatrischen
Gutachten, Beschlüssen und Urteilen der Maßregeljustiz
Eine methodenkritische Untersuchung illustriert
an einigen Fällen u. a. am Fall Gustl
F. Mollath
mit einem Katalog
der potentiellen forensischen Gutachtenfehler sowie einiger Richter-Fehler.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
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Gesamtwertung angemessene Darstellung
der psychiatrischen Methodenproblematik Signierung 0
Die kleine aber feine 14-Seitenarbeit von Gaupp betrifft eine ganze
Reihe von Methodenproblemen, hat aber zum Hauptthema, wie der Titel trefflich
ausdrückt, die Grenzen psychiatrischer Erkenntnis. Gaupp hat einen
klaren wissenschaftlichen Standpunkt, der die Naturwissenschaft mit einbezieht,
aber auch deutlich macht, dass es ohne Psychologie einfach nicht geht:
"... Wir können heute überzeugt sein: Die Bewusstseinserscheinungen,
die gewissen materiellen Prozessen unseres Gehirns parallel gehen, sind,
wie diese, im Prinzip einer wissenschaftlichen Erforschung zugänglich.
..." (S. 11) Und S. 13: "... Wem es feststeht, dass die unmittelbare,
innere Erfahrung, die Selbstbeobachtung und die Beobachtung Anderer die
elementare Grundlage jeder psychologischen Erkenntnis ist, dass wir, seit
es eine Psychiatrie gibt, immer von ihr Gebrauch machen und machen müssen,
sobald wir den Zusammenhang geistiger Vorgänge erfassen wollen, —
der wird sich von der radikalen Verdammung der psychologischen Betrachtungsweise
fernhalten, ihr vielmehr soweit Einfluss gewähren, als sie nach den
Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit beanspruchen darf. ..." Mehr: wT,
eMP, Son.
S. 9f: "Den Naturwissenschaften steht methodisch am nächsten die experimentelle Psychologie. Sie hat uns seit Fechner's Tagen in rascher Entwicklung manche Thatsachen gebracht, die für unsere Frage von Belang sind. Mit der Einführung von Zahl und Mass in das Studium der Beziehungen von Reiz und Empfindung war der erste Schritt gethan; dann zeigte es sich, dass bei experimenteller Untersuchung der mannigfaltigen Beziehungen zwischen Aussenwelt und Bewusstsein Gesetzmässigkeiten festgestellt werden konnten, die in ähnlicher Weise auch bei der Erforschung rein psychischer Vorgänge (Vorstellungsverbindung, Gedächtnis, Uebung u. s. w.) wiederkehrten. Auch kann heute als erwiesen angenommen werden, dass Affekte und Gemütsbewegungen in unwillkürlichen körperlichen Lebenserscheinungen ihren regelmässigen Ausdruck finden, der einer messenden Untersuchung zugänglich ist. Mit unermüdlichem Eifer deckt die experimentelle Psychologie all die Abhängigkeitsformen auf, in denen sich uns geistige Vorgänge von körperlichen Einwirkungen zeigen, und lauscht durch planmässige Versuche der Natur manches Geheimnis ab. Und überall stösst sie dabei auf Gesetzmässigkeiten unseres Seelenlebens. **) Und indem sie die psychischen Wirkungen von Schädlichkeiten untersucht, die mit einzelnen Krankheitsursachen wesensgleich oder ihnen wenigstens ähnlich sind, bereichert sie nicht nur unsere ätiologischen Kenntnisse, sondern schafft uns auch experimentell eine Gruppierung geistiger Lebenserscheinungen, wie sie uns in klinischen Krankheitsbildern ähnlich wieder begegnet. Es ist also zweifellos: Die Experimentalpsychologie ist imstande, viele geistigen Vorgänge wissenschaftlich aufzuklären, d. h. in ihrer gesetzmässigen Abhängigkeit und Verknüpfung [>10] zu erkennen und auf gewisse allgemeine psychologische Gesetze zurückzuführen. Sie arbeitet also erfolgreich an dem Problem der psychischen Kausalität. Allein es darf nicht verkannt werden, dass auch dieser Forschungsrichtung enge Grenzen gezogen sind. Ein grosser Teil der seelischen Vorgänge des Gesunden und namentlich des Kranken entzieht sich heute und vielleicht für immer jeder experimentellen Untersuchung und auch bei den an sich zugänglichen Gebieten sind wir oft darauf angewiesen, den Ergebnissen durch gewisse allgemeine, unserer unmittelbaren inneren Erfahrung entnommene Vorstellungen und Begriffe erst ihre endgiltige Deutung und Wertung zu geben (vergl. z. B. Kraepelin's .,Anregung", „Antrieb", „Arbeitsbereitschaft" etc.). Diese unmittelbare innere Erfahrung ist es nun, die uns weiteres Material zur Erkenntnis psychischer Zusammenhänge liefert. Von den einen bevorzugt und als einzige sichere Quelle psychologischer Erkenntnis gepriesen, wird sie von anderen prinzipiell verdammt und als trügerische Illusion für wissenschaftlich wertlos erachtet. Auf ihr basiert auch die sogenannte „psychologische Betrachtungsweise" geistiger Störungen, eine Betrachtungsweise, die ja noch in letzter Zeit scharf angegriffen und lebhaft verteidigt wurde. Ich glaube, die Wahrheit liegt auch hier in der Mitte. Den wissenschaftlichen Wert innerer Erfahrung, der Selbstbeobachtung und Beobachtung anderer leugnen, heisst den eigenen Schulmeister prügeln. Zweifellos ist sie nicht immer eine gute Führerin bei der Erforschung psychischer Gesetzmässigkeiten; denn sie haftet am Individuum, ist auf Vergleiche angewiesen und dabei mit voreiligen Analogieen nur all zu rasch bei der Hand. Und doch bleibt sie die Grundlage aller psychologischen Erkenntnis, ohne die ein wirkliches Wissen von dem, was Gefühl, Vorstellung, Angst und Freude, Trieb und Wunsch sind, für immer unmöglich wäre. Indem sie uns allein die subjektive Gewissheit psychischer Thatbestände verschafft, gibt sie uns erst die Möglichkeit des Vergleichens, ohne dessen Hilfe wir keine Gesetzmässigkeit finden können. Selbstbeobachtung in Verbindung mit Beobachtung anderer, namentlich auch solcher, die sich noch in geistiger Entwicklung befinden, sind die Methoden, die in gewissen Grenzen es uns immer noch am besten ermöglichen, in die Zusammenhänge mancher, namentlich komplizierter geistiger Geschehnisse einzudringen."
S. 10f: "Wenn ich nun endlich noch, einer Einteilung Wundt's
folgend, hervorhebe, dass uns auch die historische Betrachtung geistigen
Lebens menschlicher Gemeinschaften, die Völkerpsychologie wertvolle,
wenn auch nicht immer eindeutige Erkenntnisquellen liefert, so glaube ich
dargethan zu haben, dass die Erforschung psychischer Zusammenhänge,
die wissen[>11]schaftliche Analyse geistiger Erlebnisse gleich der Naturwissenschaft
über Methoden verfügt, welche die Grenzen unserer Erkenntnis
weiter hinausrücken, als es uns nach den Enttäuschungen durch
die frühere, spekulative Psychologie zunächst erscheinen mag.
Wir können heute überzeugt sein: Die Bewusstseinserscheinungen,
die gewissen materiellen Prozessen unseres Gehirns parallel gehen, sind,
wie diese, im Prinzip einer wissenschaftlichen Erforschung zugänglich.
Während aber dort — auf der körperlichen Seite — die theoretische
Möglichkeit der Erkenntnis gross, ihre praktische Wahrscheinlichkeit
gering ist, zeigen die psychischen Erscheinungen ein umgekehrtes Verhalten:
die theoretische Möglichkeit der Erkenntnis psychischer Kausalität
erscheint relativ geringer; wir haben hier keine Gesetze, die so einfach
sind, wie das von der Erhaltung der Kraft und von der Auflösung aller
Vorgänge in Bewegungsformen einer eigenschaftslosen Materie,
und wir werden auch wohl niemals etwas gleich Einfaches gewinnen; aber
dafür ist die praktische Möglichkeit, im geistigen Leben
Gesetzmässigkeit festzustellen, heute schon weit grösser, als
in der Gehirnmechanik."
S.7: "... Ferner entbehren auch die üblichen Nachforschungen nach den Erblichkeitsverhältnissen sowie nach der geistigen Entwicklung und dem Vorleben der Kranken noch jeder exakten Methodik. ..."
S. 8f: "... So bleiben wir in unklaren Begriffen stecken und mit Schlagworten
wie „Entartung, Degeneration, psychopathische Belastung" täuschen
wir uns über das Unsichere und Diffuse unserer Anschauungen hinüber.
Die Anamnese des Kranken ist aber darum meist so wenig fruchtbringend für
das Verständnis der Psychose, weil wir noch zu wenig wissen, welche
individualpsychologischen Merkmale den Prädisponierten eigen sind,
durch welche spezifischen Eigentümlichkeiten sich die Veranlagung
zu bestimmten Krankheiten verrät. So sind wir bei Erforschung
des endogenen Faktors in der rohen Empirie stecken geblieben und kaum über
allgemeine Eindrücke hinausgekommen. In letzter Linie laufen
freilich alle diese Uebelstände darauf hinaus, dass wir eben nicht
wissen, was im Gehirn des Gesunden, des Belasteten und des Erkrankten vor
sich geht, wie also überhaupt die Ursachen geistigen Geschehens auf
das Substrat unserer Bewusstseinsvorgänge einzuwirken vermögen.
Darum wissen wir auch so oft nicht, was überhaupt ursächliche
Bedeutung hat und was sie nur zu haben scheint.
Wir sehen also als bisheriges Hauptergebnis: Die
anatomische und chemische Forschung ermöglicht uns kein wissenschaftliches
Verständnis der psychischen Symptome geistiger Störung; sie kann
uns nur bei der Abgrenzung klinischer Krankheitsbilder und in beschränktem
Maasse bei der Aetiologie behilflich sein. Im Unterschied von allen
anderen Zweigen der Medizin weist die Psychiatrie das Problem auf,
zwei Reihen von Erscheinungen zu erforschen, deren eine, nämlich die
psychischen Störungen, für uns zwar die wichtigere, aber die
naturwissenschaftlich nicht erkennbare ist. Wenn wir unter Erkennen die
Feststellung gesetzmässiger Zusammenhänge und die Zurückführung
der Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit auf allgemeine, einfachere und
bekannte Thatsachen verstehen, so taucht damit von selbst die wichtigste
Frage auf: gibt es für uns eine Möglichkeit, die psychische Kausalität
in der Störung des Geisteskranken festzustellen und die Menge klinischer
Erscheinungen geistigen Lebens auf gewisse allgemeine Grundsätze zurückzuführen?
Reicht dazu etwa die Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, die Psychologie,
aus? Und wenn ja, welche Wege führen dahin?
Genau betrachtet zerfällt diese Frage in zwei
ganz getrennte: 1. gibt es denn im normalen menschlichen Leben eine psychische
Kausalität, die wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist?
und 2. wenn dies der Fall ist, vermögen wir die Herrschaft der psychologischen
Gesetze auch in unserer Wissenschaft zu erkennen ? vollzieht sich auch
beim Geisteskranken das psychische Geschehen nachweisbar nach denselben
Gesetzen? Von [>9] der Beantwortung dieser Fragen hängt es ab, ob
die Psychiatrie überhaupt jemals in ähnlichem Sinne eine echte
Wissenschaft werden kann, in dem es die mathematischen Wissenschaften sind
und die anderen Zweige der Naturwissenschaft dereinst zu werden versprechen."
S. 12f: "... Hier liegt die Hauptschwierigkeit für unsere ganze
wissenschaftliche Erkenntnis. Die endlosen Diskussionen über das Thema
Paranoia und Schwachsinn, über primäre und sekundäre Intelligenzstörungen,
über die psychische Motivierung impulsiver Handlungen und katatonischer
Willensstörungen, kurz viele der wichtigsten Streitpunkte unserer
Wissenschaft wurzeln in der Unsicherheit bei der Beantwortung dieser Frage.
Ist diese Beantwortung denn nun überhaupt schon ernstlich versucht
worden? Zweifellos ja, wenigstens soweit einzelne Punkte in Frage kommen.
Hier nur einige Beispiele aus neuerer Zeit: Meynert's Lehre vom
Grössenwahn des Manischen und Kleinheitswahn des Melancholischen ist
solch ein Einzelversuch auf der Basis der sogenannten Vulgärpsychologie.
Das gleiche gilt von "Wernicke's Erklärungswahn. Kraepelin's
Analyse der psychischen Alkoholwirkung gründet sich auf Ergebnisse
der experimentellen Psychologie, Friedmann's Ausführungen über
Form und Inhalt mancher Wahnbildungen ziehen völkerpsychologische
Thatsachen in Betracht. Solcher Versuche wären natürlich noch
viele zu nennen. Die Ansätze zur psychologischen Untersuchung
geistiger Störungen sind zahlreich, doch fehlt es noch an systematischer
wissenschaftlicher Arbeit unter Benützung aller Erkenntnisquellen.
Wir wissen heute noch nicht, was primäre und sekundäre Symptome
sind, ob wir einen solchen Unterschied überhaupt machen dürfen.
Dem Einen ist der Querulantenwahn eine „intellektuelle Psychose" (Ziehen)
mit primärer. Denkstörung, während ihm Andere eine affektive
Grundlage geben (Wernicke's „überwertige Idee" etc.).
Behaupten lässt sich heute Beides, beweisen keines. Muss dem
so sein? Muss das ganze Gebiet psychologischer Analyse und Deutung
psychotischer Erscheinungen immer dem Reiche der Subjektivität,
der Willkür angehören? Sind wir hier an einer Grenze unserer
Erkenntnis, weil das psychische Geschehen beim Geisteskranken nach
einem ganz anderen „psychischen Mechanismus" von statten geht, als
beim Gesunden? Wäre dem wirklich so, dann bliebe die Psychiatrie
für alle Zeiten die verkümmerte, ich möchte fast sagen idiotische
Schwester der anderen medizinischen Disziplinen; sie würde auf den
Namen einer Wissenschaft kaum Anspruch haben. Denn mit Recht sagt Lipps:
„jede Wissenschaft vom Wirklichen will Thatsachen der unmittelbaren Erfahrung
in einen Kausalzusammenhang einordnen, oder in ihrer Gesetzmässigkeit
begreifen. Darin besteht eben das Verstehen." Allein ich glaube
nicht an jene Grenze unserer Erkenntnis. Mag uns auch Vieles,
wie z. B. das Missverhältnis von Affekt und Vorstellung beim erworbenen
Blödsinn, heute noch völlig unbegreiflich erscheinen: wir dürfen
nicht vergessen, dass wir die Gesetze psychischen Geschehens heute nur
zum [>13] geringen Teile kennen und darum nicht von psychologischen Unmöglichkeiten
reden dürfen. Wir müssen meines Erachtens daran festhalten,
dass es möglich ist, die Thatsachen der Psychopathologie unter leitende
Gesichtspunkte zusammenzufassen, klinische Bilder psychologisch zu analysieren.
Denn wollen wir warten, bis wir sie aus ihren anatomischen Grundlagen begreifen,
so können wir bis an der Welt Ende warten."
S. 13: "... Wem es feststeht, dass die unmittelbare, innere Erfahrung, die Selbstbeobachtung und die Beobachtung Anderer die elementare Grundlage jeder psychologischen Erkenntnis ist, dass wir, seit es eine Psychiatrie gibt, immer von ihr Gebrauch machen und machen müssen, sobald wir den Zusammenhang geistiger Vorgänge erfassen wollen, — der wird sich von der radikalen Verdammung der psychologischen Betrachtungsweise fernhalten, ihr vielmehr soweit Einfluss gewähren, als sie nach den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit beanspruchen darf. ..."
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