Erlebnisregister
Mystisches Erleben und mystische
Erlebnisse
1. Version 29.03.2023
Originalarbeit von Rudolf Sponsel, Erlangen
Haupt- und Verteilerseite
Erlebnisregister * Haupt- und
Verteilerseite Die Erforschung des Erlebens und der Erlebnisse *
Methode der Fundstellen-Textanalyse.
* Hauptbedeutungen
Erleben und Erlebnis * Signierungssystem
* Zusammenfassung Hauptseite
* Begriffscontainer
(Containerbegriff) * Begriffsverschiebebahnhof
_
Editorial
Mystisches Erleben und mystische Erlebnisse sind schwer psychologisch
zu erfassen und neben dem Erlebensbegriff selbst eine der größten
Herausforderungen für die Psychologie des Erlebens und der Erlebnisse.
Das liegt einmal in der Natur der "Sache", weil es eben ein ganz besonderes
Erleben ist, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. Hinzu kommt,
dass mystisches Erleben bewusst keine rationalen Wege beschreitet, weil
man das Rationale als einseitig und ungeeignet ansieht. So gesehen spiegelt
diese Internet-Seite vielleicht nicht nur ein Paradox,
wenn sie versucht, das Mystische rational zu erfassen, sondern sogar eine
Antinomie
(Widerspruch) oder Aporie
(Unlösbarkeit), jedenfalls an der Stelle, wo ich diese Zeilen zu Beginn
der Ausarbeitung einleitend schreibe (28.03.2023, 13:00 Uhr) und noch nicht
weiß, was bei der Bearbeitung rauskommt; vielleicht muss ich
das Projekt sogar aufgeben was glücklicherweise nicht der Fall ist,
wie ich nun 29.03.2023, 16:30 Uhr, weiß. Lesen Sie daher auf jeden
Fall meine Ausarbeitung kritisch!
Zum anderen ist das Thema ein Eldorado für
Esoteriker und das Sch^3-Syndrom.
Ein wichtiger Zugang ist aber das Tun. Wer z.B. den Tanz der Derwische
lernt, hat gute Chancen, entsprechende Erfahrungen zu machen und zu erleben,
was ein mystisches Erlebnis ist.
Ich hege keinen Zweifel, dass es mystisches Erleben
gibt, aber große, was es bedeuten mag und kann. Wissenschaftlich
ist es allerdings notwendig, den Begriff mystisches Erleben genauer zu
erkunden sonst bleibt alles Schwall und Rauch.
Mystisches Erleben ist in jedem Fall ein spirituelles
Erleben, das aber nicht unbedingt religiös sein muss. Wahrscheinlich
wird im mystischen Erleben meist das gefunden, was gesucht wurde. Wurde
Gott gesucht, so findet man ein Gotteserlebnis. Hat man "die" Wahrheit
gesucht, findet man ein Wahrheitserlebnis. Hat man sein echtes Selbst gesucht,
findet man ein echtes Selbsterlebnis, womöglich sogar ein Saulus-Paulus-Erlebnis
(Thomas von Aquin).
Eine der wichtigsten Quellen für diese
Arbeit ist William James Buch Die religiöse Erfahrung, insbesondere
das Kapitel Die Mystik, dem ich viele authentische Berichte
über mystische Erlebnisse entnommen habe.
Mystisches Erleben gehört ganz allgemein zur
Spiritualität und ist kein Reservat der Religion. So auch William
James, wenn er S. 396 sagt: "So viel von
dem eigentlich religiösen Mystizismus. Aber damit ist die Sache nicht
erschöpft, denn der religiöse Mystizismus ist nur die eine Hälfte
des Mystizismus. Für die anderen Formen gibt es keine geordnete Berichterstattung.
..." Auch Atheisten, wie schon der Buddhismus zeigt, können mystisch
erleben, obwohl dies bei den Atheisten wegen ihrer meist rationalen Grundeinstellung
seltener der Fall sein dürfte.
Z1 Mystisches Erleben gibt es ohne Zweifel, auch wenn es rational schwer zu fassen ist, und es wird seit Jahrtausenden in den verschiedensten Kulturen berichtet und dokumentiert (>Fazit-James). Nach James ist mystisches Erleben wichtig und gleichberechtigt neben rationalen Erfahrungen. Ich sehe das kritischer und denke, dass mystische Erlebnisse Illusions-, Halluzinations- oder Wahnerlebnisse sind, sofern die Erlebenden ihren Erlebnissen objektiven Wirklichkeitsstatus zuerkennen.
Z2 Begriffsfeld
mystisches Erleben
aufgehen, Begeisterung, Beglückung, Eins werden, Einsicht, Ekstase,
Ergriffenheit, Erkenntnis, Erleuchtung, Erscheinungen, Erschütterung,
Euphorie, Glücksgefühl, intensives Erleben, Licht, Offenbarung,
schauen, Tiefe, Vereinigung, verschmelzen, Verzückung, Wahrheit, Wonne
Z3Kriterien für mystisches Erleben mit in Kauf genommenen Redundanzen
Z5 Authentische mystische Erlebnisschilderungen
Jaspers zur psychopathologischen Klassifikation
des Wesens von Menschen
"... Menschlich aber bedeutet die Klassifikation und Festlegung des Wesens eines Menschen eine Erledigung, die bei näherer {>366} Besinnung beleidigend ist und die Kommunikation abbricht. Das darf in aller erleuchtenden Begrifflichkeit charakterologischer Menschenauffassung nie vergessen werden." Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 5. A. 1948, S. 365f. |
Das ist ein ethisch schwieriges Feld, weil MystikerInnen, wenn man ihr
Erleben psychopathologisch betrachtet, dadurch bereits eine Entwertung
und Stigmatisierung erfahren. Denken wir an Jaspers.
Macht man sich indessen klar, dass jeder Mensch das Psychopathologische
als Potential in sich trägt, ich natürlich auch, wird es vielleicht
ein bisschen besser.
Überblick:
William James Die Mystik, S. 357 (g e s p e r r t bei James hier
fett),
Kürzel JWM:
1) Memoirs of Alfred Tennyson II, 473.
— Professor Tyndall
erzählt noch in einem Brief, daß Tennyson
über diesen Zustand
gesagt habe: „Beim allmächtigen Gott, es gibt keine
Täuschung
darüber! Es ist keine nebelhafte Ekstase, sondern
ein Zustand
ehrfürchtigen Erstaunens, verbunden mit absoluter
Verstandes-
klarheit." [>362]
—
gehen zu sehen. Und was dann? Die Furcht vor der
kommenden Auflösung, die schreckliche Überzeugung,
daß dieser Zustand das Ende des bewußten Ich sei, das
Gefühl, das Sein bis an den Rand des Abgrundes verfolgt
und das Geheimnis der Maja — der ewigen Illusion —
geschaut zu haben, begann mich wieder aufzurütteln. Die
Rückkehr in den gewöhnlichen Bewußtseinszustand setzte
damit ein, daß ich die Sinnesempfindung wieder erlangte und
daß dann allmählich aber schnell die bekannten Eindrücke
und täglichen Interessen wieder erwachten. Schließlich
fühlte ich mich wieder als menschliches Wesen. Obgleich
das Rätsel des Lebens ungelöst blieb, war ich dankbar
für die Rückkehr von jenem Abgrunde, für diese Befreiung
von einer so schrecklichen Einweihung in die Geheimnisse
des Skeptizismus.
Solche Zustände hatte ich bis zu meinem 28.
Jahr;
zuletzt aber immer seltener. Sie ließen mir schließlich
einen tiefen Eindruck zurück von der trügerischen Unwirk-
lichkeit all der Umstände, die das bloß vorstellungs-
mäßige Bewußtsein erfüllen. Oft habe ich mich
beim
Erwachen aus diesen Zuständen der intensiven Empfindung
des reinen, formlosen Seins ängstlich gefragt: wo ist nun
die Wirklichkeit? Ist es die Starrsucht des glühenden,
untätigen Selbst, das an allem zweifelt und in Furcht
erschaudert, oder sind es diese mich umgebenden Er-
scheinungen und Gewohnheiten, die das innere Selbst ver-
hüllen und das alltägliche Ich von Fleisch und Blut aus-
machen? Ferner: Erzeugen die Menschen selbst solchen
Traum, dessen traumartige Unwirklichkeit ihnen in diesen
bedeutsamen Augenblicken zum Bewußtsein kommt? Was
würde geschehen, wenn das Endstadium des Trance-
Zustandes erreicht würde [FN1]?"
1) Benjamin Paul Blood: The Anaesthetic
Revelation and the
Gist of Philosophy, Amsterdam 1874, S. 35 f.
[>366]
das innere Realitätsgefühl, welches das gewöhnliche Be-
wußtsein physischer Beziehungen ablöste, während mein
Körper für äußere Eindrücke unempfindlich
war, keine
Täuschung, sondern ein wirkliches Erlebnis war? Ist es
möglich, daß ich in jenem Augenblick erlebte, was einige
Heilige nach ihrer Aussage stets erleben: die unbeschreibliche,
aber unbezweifelbare Gewißheit der Gegenwart Gottes][FN1]?"
...
Polizeibeamter nach Trine nach James
"Ein bekannter Polizeibeamter hat mir erzählt,
oft
überkomme ihn im Dienst oder auf seinem Wege nach
Hause ein so lebendiges Gefühl von seiner Einheit mit
der unendlichen Macht, und dieser Geist des unendlichen
Friedens erfülle ihn so vollständig, daß er kaum ruhig
weiter gehen könne, so heiter, ja ausgelassen mache ihn
dies auf ihn einströmende Gefühl[FN2]."
...
Amiels Journal Intime nach James:
"Werde ich je wieder so wunderbare Träume haben
wie manchmal in früheren Tagen? Einst hatte ich sie in
meiner Jugend, als ich beim Sonnenaufgang in den Ruinen
des Schlosses von Faucigny saß. Dann wieder im Gebirge [>367]
zur Zeit der Mittagssonne oberhalb von Lavey, als ich
unter einem Baum lag und drei Schmetterlinge mich um-
spielten. Und noch einmal in der Nacht an der sandigen
Küste des Ozeans, als ich im Sand auf dem Rücken lag
und mein Auge die Milchstraße verfolgte. Großartige,
weite, unsterbliche kosmogonische Träume: man reicht
bis zu den Sternen und ist im Besitz des Unendlichen!
Göttliche Augenblicke, Stunden des Entzückens, in denen
unsere Gedanken von einer Welt zur andern fliegen und
das große Rätsel durchdringen, da unser Sinnen so ruhig
und tief ist wie das Meer und so still und endlos wie das
blaue Firmament . . . Augenblicke eines unmittelbaren
Anschauens, in denen man sich so groß wie das Universum
und so erhaben wie ein Gott fühlt. . . . Was für Stunden!
Was für Erinnerungen! Die Spuren, die sie hinterlassen,
genügen, um uns mit Glauben und Begeisterung zu erfüllen.
Es ist, als ob der Heilige Geist uns heimgesucht hätte.[FN1]
Eine ganz ähnliche Äußerung finden
wir in den
interessanten Memoiren der deutschen Idealistin Malwida
v. Meysenbug:"
v. Meysenbug nach James:
„'Ich war allein am Meeresufer, als mich alle diese
Gedanken befreiend und versöhnend umfluteten. Und
wieder, wie einst in fernen Tagen in den Alpen der
Dauphiné, trieb es mich, hier niederzuknien vor der un-
begrenzten Flut, dem Sinnbild des Unendlichen. Ich fühlte,
daß ich betete, wie ich nie zuvor gebetet hatte, und er-
kannte nun, was das eigentliche Gebet ist: Einkehr aus
der Vereinzelung der Individuation heraus in das Bewußt-
sein der Einheit mit allem, was ist; niederknien als das
Vergängliche und aufstehen als das Unvergängliche. Erde,
Himmel und Meer erklangen wie in einer großen, welt-
umfassenden Harmonie. Mir war es, als umgäbe mich
der Chor aller Großen, die je gelebt. Ich fühlte mich eins
mit ihnen und es schien mir, als hörte ich ihren Gruß:
,Auch du gehörst mit in die Zahl der Überwinder[FN2].'"
Walt Withman nach James
Eine berühmte Stelle aus Walt Whitman kann
als
klassischer Ausdruck dieser gelegentlich und vereinzelt auf-
tretenden Form mystischer Erfahrung gelten.
„'Ich glaube an dich, meine Seele . . . Komm mit
mir
hinaus ins Freie; löse das Band deiner Zunge! . . . Sprich
nur leise mit mir, ich liebe das Summen deiner sanften
Stimme. So lagen wir einst an einem lichten Sommer-
morgen. Bald waren um mich der Friede und die Er-
kenntnis, die über alle irdische Weisheit erhaben sind. Ich
fühlte mich in Gottes Hand; ich wußte, der Geist Gottes
sei meinesgleichen, und alle Menschen, die je gelebt
hatten, meine Brüder und Schwestern. Und ich erkannte
die Liebe als Grund der Schöpfung.'"
Ein letztes Beispiel entnehme ich der Autobiographie
J. Trevors [FN1].
„An einem strahlenden Sommermorgen gingen meine
Frau und meine Knaben in die unitarische Kapelle in
Macclesfield. Es war mir unmöglich, sie zu begleiten.
Den Sonnenschein auf den Bergen zu verlassen, zur Kapelle
hinabzugehen, wäre mir wie ein zeitweiliger geistiger Selbst-
mord erschienen. Ich bedurfte neuer Gedanken und An-
regung. So ließ ich denn — zaudernd und traurig —
Frau und Kinder allein in die Stadt hinuntergehen, während
ich mit meinem Stock und meinem Hund weiter bergauf
stieg. Dank der Herrlichkeit des Morgens und der Schön-
heit von Berg und Tal verlor sich bald meine Traurigkeit.
Fast eine Stunde weit ging ich den Weg entlang, dann
kehrte ich wieder um. Auf dem Heimweg fühlte ich mich
plötzlich und unversehens im Himmel. Es war ein inner-
licher Zustand von Friede, Freude und unbeschreiblich
fester Zuversicht, begleitet von dem Gefühl, als wäre ich
von lauen Lichtfluten umflossen; gerade als wenn die äußere
Luft diese innerliche Wirkung gehabt hätte. Es war ein
Gefühl, als wäre ich über meinen Körper hinausgewachsen,
obgleich meine Umgebung mir durch das helle Licht, in
dem ich selber stand, nur um so deutlicher und gleichsam
näher war als vorher. Diese tiefe Erregung währte, wenn-
gleich nach und nach schwächer werdend, bis zu meiner
Heimkehr, ja noch länger an und schwand nur ganz all-
mählich."
Der Verfasser fügt hinzu, er habe später
noch öfter
ähnliche Erfahrungen gehabt und kenne sie nun genau:
"'Das innerliche Leben rechtfertigt sich selbst
vor denen,
die es leben; aber was können wir denen sagen, die uns [>369]
nicht verstehen? So viel wenigstens, daß es ein Leben ist,
dessen Erfahrungen sich dem Betreffenden als wahr er-
weisen, weil sie ihm verbleiben, wenn sie in innigste Be-
rührung mit den objektiven Realitäten des Lebens ge-
bracht werden. Träume bestehen diese Prüfung nicht:
wir erwachen und wissen, daß es nur Träume waren. Auch
die Phantasien eines überarbeiteten Gehirns bestehen die
Probe nicht.
Diese höchsten Erfahrungen von Gottes Gegenwart
waren entweder selten und kurz — blitzartige Erleuch-
tungen, die mich zu dem Ausruf zwangen: ,Das ist Gott'
— oder es waren Zustände von weniger intensiver Erregung
und Erkenntnis, die dann nur allmählich vergingen. Ich
habe den Wert dieser Erscheinungen ernsthaft geprüft.
Zu niemandem habe ich davon gesprochen, damit man
nicht sagen solle, ich baue mein Leben und meine Arbeit
auf reine Hirngespinste. Aber ich finde, daß sie sich bei
jeder Prüfung und Probe als die wirklichsten Erfahrungen
meines Lebens bewähren, als Erfahrungen, die alle früheren
Erfahrungen erklärt, gerechtfertigt und zusammengefaßt
haben. In der Tat, ihre Realität und ihre weit reichende
Bedeutung werden mir immer klarer und deutlicher.
Als sie kamen, lebte ich ein durchaus volles, starkes,
gesundes und tiefes Leben. Ich suchte sie nicht. Was
ich mit Entschlossenheit suchte, war, mein eignes Leben
intensiver zu leben, wie immer die Welt darüber urteilen
möchte. Jene Realgegenwart Gottes überkam mich in
Zeiten realster Lebensführung: aus ihr heraus versank ich
in den unendlichen Ozean der Liebe Gottes[FN1]."
Kosmisches Bewusstsein (Dr. Bucke) nach James
"Nach solchen Zeugnissen darf meines Erachtens niemand
— auch derjenige nicht, der für seine Person gar nicht
mystisch veranlagt ist, bestreiten oder bezweifeln wollen,
daß mystische Erlebnisse als Bewußtseinszustände von
ganz
besonderer Art existieren, und daß sie bei denen, die sie
erleben, einen tiefen Eindruck hinterlassen. Dr. Bucke, ein
Irrenarzt aus Kanada, gibt den besonders charakteristischen
Erscheinungen dieser Art den Namen „kosmisches Bewußt-
sein" und sagt dann weiter: „Das kosmische Bewußtsein
ist in seinen bedeutsamsten Erscheinungen nicht lediglich
eine Weitung des allgemein-menschlichen Selbstbewußtseins, [>370]
sondern es ist durch das Hinzukommen einer neuen Funktion
bedingt, die von jeder andern eines Durchschnittsmenschen
ebenso verschieden ist, wie das Selbstbewußtsein an seinem
Teil von jeder Funktion der höheren Tiere."
Das Hauptmerkmal des kosmischen Bewußtseins
ist
zunächst eben ein Bewußtsein vom Kosmos d. h. vom
Leben und von der Ordnung im Universum. Begleitet
wird dies kosmische Bewußtsein von einer intellektuellen
Erleuchtung, welche schon an sich genügen würde, den
Menschen auf eine neue Daseinsstufe zu erheben, ihn fast
zum Repräsentanten einer neuen Art zu machen. Weiter
kommt ein Zustand moralischer Begeisterung hinzu, ein
unbeschreibliches Gefühl von Erhebung, Weitung, Freudig-
keift und eine Schärfung des sittlichen Bewußtseins, die
ebenso auffallend und noch wichtiger ist als die Erhöhung
der intellektuellen Kraft. Und hiermit verbindet sich
schließlich noch, was man wohl als ,Unsterblichkeitsgefühl'
oder ,Bewußtsein ewigen Lebens' bezeichnen kann, d. h.
nicht die Überzeugung, es einst zu erlangen, sondern das
Bewußtsein, es bereits zu besitzen[FN1]."
Dr. Buckes Selbsterlebnis eines typischen Falls
von
kosmischem Bewußtsein führte ihn dazu, es auch bei andern
Personen zu studieren. Er hat seine Beobachtungen in
einem höchst interessanten Buche niedergelegt, dem ich
den folgenden Bericht über seine Erfahrungen entnehme."
Dr. Buckes Erfahrungen nach
James
'Ich war am Abend mit zwei Freunden in einer großen
Stadt zusammen gewesen ; wir hatten Poetisches und
Philosophisches gelesen und besprochen. Um Mitternacht
trennten wir uns, und ich hatte dann noch eine lange
Fahrt bis nach Hause. Mein Geist, der noch unter dem
Einfluß der Gedanken, Bilder und Gefühle stand, die
durch das Gelesene und durch unsere Gespräche wach
gerufen worden, war ruhig und friedlich. Ich war in
einem Zustande stillen, fast passiven Genießens. Wie von
selbst zogen die Gedanken, Bilder und Gefühle durch
meinen Geist dahin. Da fand ich mich plötzlich ohne
irgend ein vorhergegangenes Anzeichen in eine feurige
Wolke eingehüllt. Einen Augenblick dachte ich an Feuer,
an einen großen Brand irgendwo in der Nähe; dann aber
[>371]
merkte ich, daß das Feuer in mir selbst war. Gleich
darauf überkam mich ein Gefühl unaussprechlicher Freude
und Wonne. Auch folgte unmittelbar eine intellektuelle
Erleuchtung, die ich nicht zu beschreiben vermag. Jeden-
falls gewann ich — nicht einfach durch Glauben, vielmehr
durch Anschauung — die Überzeugung, daß das Universum
nicht tote Materie sei, sondern lauter Bewegung und
Leben. Ich wurde mir des ewigen Lebens in mir selber
bewußt. Nicht daß ich überzeugt ward, dereinst das
ewige
Leben zu erlangen, nein, ich hatte das Bewußtsein, es
schon zu besitzen. Ich erkannte, daß alle Menschen unsterb-
lich sind, daß die kosmische Ordnung eine derartige ist,
daß alles ohne Frage zum Besten der Einzelnen und der
Gesamtheit zusammenwirkt, daß das Grundprinzip der
Welt, ja aller Welten, Liebe ist, und daß das Glück jedes
Einzelnen und der Gesamtheit letzten Endes absolut gewiß
ist. Die Vision dauerte nur wenige Sekunden; dann war
sie verschwunden. Aber die Erinnerung an sie und das
Gefühl von der Wirklichkeit des Geschauten ist mir das
Vierteljahrhundert hindurch geblieben, das seither ver-
flossen ist. Ich erkannte die Wahrheit dessen, was die
Vision mir gezeigt hatte: ich war zu einem Standpunkt
gelangt, von dem aus ich sah, daß es wahr sein müsse.
Diese Anschauung, diese Überzeugung, ja ich kann sagen,
dies Bewußtsein habe ich nie wieder — auch nicht in
Zeiten der tiefsten Niedergeschlagenheit — verloren [FN1].'
Soviel von dem sporadisch auftretenden kosmischen
oder mystischen Bewußtsein. Wir wenden uns jetzt zur
Besprechung derjenigen Mystik, die in bestimmten Religions-
gemeinschaften als Bestandteil des religiösen Lebens metho-
disch gepflegt wird. Hindus, Buddhisten, Mohammedaner
und Christen: sie alle bieten uns dafür Belege.
Mystik in den verschiedenen Kulturen nach James
In Indien ist die Schulung
in mystischer Anschauung
seit undenklichen Zeiten unter dem Namen Yoga bekannt.
Yoga bedeutet die vom einzelnen Individuum erlebte Ver-
einigung mit der Gottheit. Sie gründet sich auf beharr-
liche Übung, und die Vorschriften über Diät, Körper-
haltung, Atmen, intellektuelle Konzentration und moralische
Zucht weichen in den verschiedenen Systemen nur leicht [>372]
von einander ab. Der Yogi oder Schüler, der hierdurch
die aus seiner niederen Natur stammenden Flecken getilgt
hat, tritt in einen Zustand ein, der Samadhi genannt wird,
und 'schaut Dinge, die kein Instinkt und kein Verstand
je begreifen kann.'
Er erkennt:
'daß das geistige Leben einen höheren,
dem Verstand
nicht zugänglichen Seinszustand hat, einen überbewußten
Zustand, und daß dieser höhere Zustand auch eine höhere
Erkenntnis mit sich bringt. Alle verschiedenen Stufen
der Yoga haben den Zweck, uns technisch-methodisch in
den überbewußten Zustand oder Samadhi zu bringen . . .
So wie unbewußtes Tun unter dem bewußten steht, so
gibt es ein andres Tun, das über dem bewußten steht
und das nicht von selbstsüchtigem Gefühl begleitet ist .
. .
Dann gibt es kein Gefühl des Selbst mehr, der Geist wirkt
wunschlos, frei von aller Unruhe, ziellos und körperlos.
Dann leuchtet die Wahrheit in vollem Glanz, und wir er-
kennen uns — denn Samadhi liegt potentiell in uns allen
— als das, was wir wirklich sind, als frei, unsterblich,
allmächtig, losgelöst vom Endlichen und seinem Wider-
spruch von Gut und Böse, als identisch mit dem Atman,
der Weltseele [FN1].'
1) Die Zitate
sind aus Vivekananda, Raja Yoga, London 1896.
Die vollständigste Quelle über Yoga ist das
von Vihari Lala Mitra
übersetzte Werk: Yoga Vasishta Maha Ramayana, 4
Bde., Kalkutta
1891-99
Buddhistische Mystik nach James
"Ebenso wie die Hindus gebrauchen auch die Buddhisten
das Wort „Samadhi"; aber für die höheren Stadien der
Kontemplation haben sie noch das besondere Wort „Dhyana".
Es scheint vier verschiedene Stufen in der Dhyana zu
geben. Die erste Stufe wird dadurch erreicht, daß man
die Gedanken fortwährend auf einen Punkt richtet. Sie
schließt das Begehren aus, aber nicht Unterscheidung oder
Urteil; es ist noch ein intellektueller Zustand. Auf der
zweiten Stufe hören alle intellektuellen Funktionen auf; es
bleibt ein Gefühl der Einheit und der mit ihr gegebenen
Befriedigung. Auf der dritten Stufe fällt auch die Be-
friedigung weg; es tritt Gleichmütigkeit (Indifferenz) auf,
verbunden allein mit „Gedächtnis" und „Selbstbewußtsein".
Auf der vierten Stufe werden Gleichmütigkeit, Gedächtnis
und Selbstbewußtsein zur Vollendung gebracht. [Was
„Gedächtnis" und „Selbstbewußtsein" in dieser Verbindung
eigentlich bedeuten, ist zweifelhaft. Es können nicht jene
Fähigkeiten des niederen Lebens sein, die wir kennen.]
Es werden noch höhere Stufen der Kontemplation erwähnt,
eine Region, wo nichts existiert, von der der Anschauende
sagt: „dort existiert absolut nichts" und dort verweilt.
Dann erreicht er eine andre Region, von der er sagt: „dort
gibt es weder Denken noch Nicht-Denken", und bei ihr
verweilt er abermals. Dann wieder eine andere Region, in
der er endgültig verbleibt, da er an das Ende des Denkens
und Wissens gekommen ist. Dies scheint, wenn es noch
nicht das Nirvana selbst ist, demselben doch so nahe zu
kommen, wie es in diesem Leben nur möglich ist [FN1]."
Mohammedanische Mystik nach
James
"Die erste Aufgabe für einen Sufi ist die, sein Herz von allem zu reinigen, was nicht Gott ist" (S. 376) |
"In der mohammedanischen Welt wird die Mystik von
der Sufi-Sekte und verschiedenen Derwisch-Gemeinschaften [>374]
gepflegt. Die Sufis existieren schon seit den frühsten
Zeiten des Islam in Persien, und da ihr Pantheismus zu dem
strengen Monotheismus des arabischen Geistes in schroffstem
Widerspruch steht, so hat man wohl gemeint, der Sufismus
müsse aus der Hindu-Religion in den Islam übertragen
worden sein. Wir Christen kennen den Sufismus wenig, da
seine Geheimnisse nur den Eingeweihten enthüllt werden.
Al-Ghazzali, ein persischer Philosoph und Theologe,
der im elften Jahrhundert lebte und als einer der größten
Gelehrten des Islam gilt, hat uns eine der wenigen Selbst-
biographien hinterlassen, die sich außerhalb der christlichen
Literatur finden. Es ist sonderbar, daß eine literarische
Spezies, die bei uns so reichlich vorhanden ist, sich sonst
so selten findet. Das Fehlen rein persönlicher Bekennt-
nisse bildet eine Hauptschwierigkeit für den, der das innere
Leben fremder Religionen kennen lernen möchte und doch
lediglich auf literarische Zeugnisse angewiesen ist.
M. Schmölders hat einen Teil der Selbstbiographie
Al-Ghazzalis ins Französische übertragen1:
'Die Methode der Sufis', heißt es da, 'zielt
darauf
ab, das Herz von allem, was nicht Gott ist, loszulösen
und ihm als einzige Beschäftigung die Betrachtung des
göttlichen Wesens zu geben. Da mir die Theorie leichter
zugänglich war als die Praxis, studierte ich, bis ich alles
wußte, was durch Studium und durch Hörensagen zu
erlernen ist. Dann aber erkannte ich, daß das eigentlich
Charakteristische ihrer Methode durch kein Studium,
sondern allein durch Begeisterung, Ekstase und Umwand-
lung der Seele zu erfassen ist. Man überlege nur, wie
verschiedene Dinge es sind, Gesundheit und Sattheit defi-
nieren zu können, auch ihre Ursachen und Bedingungen
zu kennen, und selber gesund und satt zu sein! Oder
welch ein Unterschied, zu wissen, worin Trunkenheit be-
steht, und selbst betrunken zu sein! Ganz ähnlich liegt
es nun auch hier: ein anderes ist es, das Wesen der Ent-
haltsamkeit zu beschreiben, ein anderes selber enthaltsam
zu sein und seine Seele von der Welt losgelöst zu haben.' [>375]
1) Vgl. auch D. B. Macdonald: The Life
of Al-Ghazzali in the
Journal of the American Oriental Society, 1899, Bd. 20,
S. 71.
'So hatte ich alles gelernt, was Überlieferung mich vom
Sufismus lehren konnte. Was mir aber noch fehlte,
konnte weder durch Studium, noch durch den Bericht
anderer erfaßt werden, sondern allein durch ekstatische
Begeisterung und fromme Lebensführung. Ich dachte
über meine Lage nach und fand mich überall gebunden.
Versuchungen, wohin ich blickte! Ich prüfte auch meine
wissenschaftliche Arbeit und fand, sie war unrein vor
Gott; denn ich erkannte nun, daß all mein Streben darauf
gerichtet war, meinen eignen Ruhm zu erhöhen.' [Weiter
berichtet er, wie er noch sechs Monate lang zögerte, sein
früheres Leben in Bagdad aufzugeben, bis er schließlich
krank wurde und zwar eine Zungenlähmung bekam.] 'Als
ich dann meiner Schwachheit recht inne ward, gab ich
meinen eignen Willen ganz auf und warf alles auf Gott
wie ein Elender, der keine Zuflucht mehr hat. Er ant-
wortete mir wie jedem Unglücklichen, der ihn anruft. Es
fiel mir jetzt nicht mehr schwer, Ehre, Reichtum und
Familie aufzugeben. So verließ ich Bagdad, behielt von
meinem Vermögen nur so viel, als zu meinem Unterhalt
unerläßlich war, und verteilte den Rest. Ich ging nach
Syrien und verweilte dort etwa zwei Jahre lang. Ich
lebte zurückgezogen und einsam, ohne eine andere Be-
schäftigung als die, meine Wünsche und Leidenschaften
zu bekämpfen, meine Seele zu reinigen, meinen Charakter
zu vervollkommnen, mein Herz für das Nachdenken über
Gott vorzubereiten, und zwar alles nach den Anweisungen,
die ich in den Büchern der Sufis gelesen hatte.
Diese Zurückgezogenheit erhöhte nur meinen
Wunsch,
in der Einsamkeit zu leben, mein Herz ganz zu reinigen
und es für die Betrachtung Gottes zu bereiten. Aber die
Wechselfälle der Zeit, die Familienangelegenheiten, die
Notwendigkeit, mich zu erhalten, änderten in mancher
Hinsicht meinen anfänglichen Plan und erlaubten mir ein
ganz einsames Leben nicht. Ich war — einige wenige
Stunden ausgenommen — noch nie in vollständiger Ver-
zückung gewesen; doch hoffte ich, diesen Zustand noch
zu erreichen. Jedesmal, wenn mich etwas abseits führte,
suchte ich wieder umzukehren. So vergingen zehn Jahre.
In dieser Einsamkeit hatte ich Offenbarungen, die ich
weder beschreiben noch andeuten kann. Nur soviel ver-
mag ich zu sagen: ich erkannte als ganz sicher, daß die
Sufis auf Gottes Wegen wandeln. Ob sie ihr Leben in
Tätigkeit oder in Ruhe zubringen, immer werden sie von [>376]
prophetischem Licht erleuchtet. Die erste Aufgabe für
einen Sufi ist die, sein Herz von allem zu reinigen, was
nicht Gott ist.
Ein weiterer Schritt zu dem kontemplativen Leben
besteht in den demütigen Gebeten, die aus dem glühen-
den Herzen aufsteigen, und in dem Nachdenken über
Gott, das die Seele ganz ausfüllt. In Wirklichkeit ist dies
aber nur der Anfang des Sufilebens; das Ende desselben
ist völliges Versunkensein in Gott. Alles, was vorher
geht, ist sozusagen nur die Schwelle des neuen Lebens.
Zuerst haben die Sufis Offenbarungen in so deutlichen
Gestalten, daß sie mit wachen Sinnen die Engel und die
Seelen der Propheten sehen. Sie hören ihre Stimmen
und erhalten Gnadenbeweise von ihnen. Dann aber erhebt
sich der Zustand der VerzückungJWM376meK14 von der
Vorstellung von
Formen und Gestalten zu einem Grade, der über allen
Ausdruck erhaben ist und den kein Mensch sich unter-
fangen kann zu schildern, ohne sich schwerer Sünde
schuldig zu machen.
Wer nie in solchen Zustand der VerzückungJWM376.2meK14
geraten
ist, der kennt die wahre Natur des Prophetismus nur dem
Namen nach. Wie es Menschen gibt, die mit einem reichen
Gefühlsvermögen begabt sind, aber alles abweisen, was
ihnen auf objektivem und rein verstandesmäßigem Wege
dargeboten wird, so gibt es auch Verstandesmenschen,
die alles meiden, was durch inneres Schauen vermittelt
wird. Ein Blinder kennt die Farben nur vom Hörensagen.
Doch macht Gott den Menschen das Wesen des Prophetis-
mus verständlich, indem er ihnen allen einen Zustand
gibt, der jenem in wesentlichen Zügen gleich ist. Dieser
Zustand ist der Schlaf. Wenn man jemandem, der ihn
nicht kennte, erzählen würde, daß es Menschen gibt,
die
zu Zeiten ohnmächtig werden, so daß sie den Toten ähneln,
und die [im Traume] doch verborgene Dinge schauen, so
würde er es nicht glauben [und seine Gründe dafür an-
geben]. Und doch würden seine Gründe durch die tat-
sächliche Erfahrung widerlegt werden. Wie der Verstand
eine Stufe des menschlichen Lebens darstellt, da sich das
intellektuelle Auge öffnet und mancherlei erkennt, was
den Sinnen unzugänglich bleibt, so werden dem prophetisch
Begabten Dinge enthüllt, die dem Verstande stets uner-
reichbar sind. Die Haupteigentümlichkeiten des Prophe-
tismus sind nur während der VerzückungJWM376.3meK14
von denen, die
das Sufileben führen, wahrnehmbar. Der Prophet ist mit [>377]
Eigenschaften begabt, die dir fremd sind, die du daher
unmöglich verstehen kannst. Wie solltest du ihre wahre
Natur kennen, da man nur kennt, was man versteht?. . .
Aber die VerzückungJWM377.1meK14, die man nach der
Methode der Sufis
erreicht, kommt einem unmittelbaren Anschauen gleich; es
ist, als ob man die Gegenstände mit der Hand berührte [FN1].'
"Diese Unmittelbarkeit der Verzückung ist der
Grund-
ton aller Mystik. Die mystische Wahrheit existiert nur für den, der die Verzückung erlebt, für keinen andern." (S. 377) |
Diese Unmittelbarkeit der Verzückung ist der
Grund-
ton aller Mystik. Die mystische Wahrheit existiert nur
für den, der die VerzückungJWM377.2meK14 erlebt,
für keinen andern.
Darin, sagte ich, gleicht sie mehr der Einsicht, die uns
durch das Gefühl vermittelt wird, als der, die wir durch
begriffliches Denken erringen. Es ist ja eine Binsenwahrheit
der Metaphysik, daß Gotteserkenntnis nicht durch logisches
Schließen, sondern nur durch inneres Anschauen erworben
wird, d. h. daß sie mehr nach Analogie des unmittelbaren
Gefühlslebens als nach Analogie von Lehr- und Schluß-
sätzen zu gewinnen ist. Aber die unmittelbaren Gefühle
der Durchschnittsmenschen haben keinen andern Inhalt
als den, welchen die fünf Sinne liefern, und wir haben
schon gehört und werden es auch weiterhin noch hören,
daß die Mystiker jeden Anteil der Sinne an der höchsten
Art von Erkenntnis, die ihnen in der VerzückungJWM377.3meK14
wird,
bestreiten."
Christliche Mystik nach James
"In der christlichen Kirche hat es immer Mystiker ge-
geben. Wohl sind manche von ihnen stets mißtrauisch
angesehen worden, aber andere haben selbst von kirch-
lichen Autoritäten volle Anerkennung erlangt. Ihre Er-
fahrungen sind zur Richtschnur für ein ausgebautes mystisches
System geworden, in dem alles Echte seinen Platz findet [FN2].
Die Grundlage des Systems bildet das Gebet oder religiöse
Betrachtung, die methodische Erhebung der Seele zu Gott.
Durch die Übung des Gebetes können die höheren Stufen
der mystischen Erfahrung erreicht werden. — Seltsamer- [>378]
1) A. Schmölders: Essai sur les
doctrines philosophiques chez
les Arabes, Paris 1842, S. 54—68.
2) Vgl. Görres:
Christliche Mystik; Ribet: Mystique Divine,
2 Bde., Paris 1890. Noch vollständiger in der Systematik
ist die
„Mystica Theologia" von Vallgornera, 2 Bde., Turin 1890.
weise hat der Protestantismus alle Methodik in dieser Be-
ziehung aufgegeben. Es ist den Anhängern der „Gemüts
kur" vorbehalten geblieben, die methodische Regelung der
religiösen Meditation wieder in unser religiöses Leben ein-
zuführen.
Das Erste, was im Gebet erstrebt wird, ist die Los-
lösung des Geistes von äußeren Eindrücken, da
diese der
Konzentrierung der Gedanken auf ideale Ziele entgegen
sind. Handbücher, wie des heiligen Ignatius „Geistliche
Übungen", empfehlen dem Schüler, die äußeren Eindrücke
durch stufenweis fortschreitende Bemühungen, sich heilige
Dinge oder Vorgänge vorzustellen, zurückzudrängen. Der
höchste Grad dieser Art von Selbst-Disziplinierung würde
ein halb halluzinationsmäßiger Mono-Ideismus sein — z. B.
der Art, daß das Bild Christi vom Geist ausschließlich
Besitz nimmt. Solche Imaginationen — teils in realer, teils
in symbolischer Bedeutung verstanden — spielen in der
Mystik eine ungeheuer große Rolle [FN1]. Aber in gewissen
Fällen können sie auch ganz fortfallen; ja in der höchsten
Ekstase ist das sogar das Gewöhnliche. Der Bewußt-
seinszustand läßt sich dann durch Worte nicht beschreiben.
Darin stimmen alle mystischen Lehrer überein. Johannes
vom Kreuz z. B., einer der hervorragendsten, beschreibt
den Zustand der „Einheit der Liebe", der durch düstere
Kontemplation erreicht werde, folgendermaßen: Die Gott-
heit durchdringt die Seele, aber in so wunderbarer Weise,
daß diese keinen Ausdruck dafür finden und durch kein
Mittel, durch keinen Vergleich die Erhabenheit der Weisheit
und die Zartheit des Gefühls, von dem sie erfüllt werde,
veranschaulichen könne."
„'Wir empfangen diese mystische Erkenntnis Gottes
„nicht durch Bilder oder bildliche Darstellungen, deren [>379]
1) M. Récéjac rechnet sie in seinem Buch:
Fondements de la
Connaissance Mystique (Paris 1897, S. 66) direkt zum
Wesen der
Mystik. Er definiert die letztere als das Streben, sich
dem Abso-
luten „moralement et par voie de symboles" zu nähern.
Aber es
gibt zweifellos auch mystische Zustände, für
die vorstellungsmäßige
Symbole keine Rolle spielen
unser Geist sich sonst bedient. Da nun die Sinne und
die Einbildungskraft nicht mit im Spiel sind, so erhalten
wir durch diese Erkenntnis weder Gestalt noch Zeichen;
auch können wir keinen Bericht darüber geben, noch etwas
als Gleichnis heranziehen; und doch dringt diese geheimnis-
volle und süße Weisheit tief in unsre innerste Seele.
Man denke sich einen Menschen, der etwas zum erstenmal
in seinem Leben sieht. Er kann es verstehen, gebrauchen
und genießen, aber er weiß es weder zu benennen, noch
zu beschreiben, obwohl es nur ein reines Sinnending ist.
Um wieviel weniger wird er das können, wenn es über
die Sinne hinausgeht. Das ist die Eigentümlichkeit der
göttlichen Sprache. Je innerlicher, geistiger und über-
sinnlicher sie ist, je mehr geht sie über die Sinne hinaus,
sowohl über die inneren als über die äußeren und
erlegt
ihnen Schweigen auf. Die Seele fühlt sich dann wie in
einer großen, tiefen Einsamkeit, zu der nichts Geschaffenes
Zugang hat, in einer unendlichen, grenzenlosen Einöde,
einer Einöde, die um so köstlicher ist, je einsamer sie ist.
In diesem Abgrund der Weisheit wächst die Seele, indem
sie aus den Quellen der Erkenntnis der Liebe trinkt und
erkennt, daß unsere Worte, so erhaben und gelehrt sie
auch sein mögen, doch ganz gemein, nichtssagend und
ungeeignet sind, wenn wir sie auf göttliche Dinge an
wenden wollen [FN1].'"
1) Saint Jean de la Croix: La Nuit obscure de l'Ame II,
Kap. 17,
in: Vie et Oeuvres, 3. Aufl., Paris 1893, Bd. 3, S. 428—432
"Die innere Erleuchtung ist aber für uns das wesentliche
Merkmal der mystischen Zustände." (S. 379) |
"Auf die weiteren Einzelheiten der verschiedenen
Stufen
des mystischen Lebens, wie sie von katholischen Schrift-
stellern dargelegt werden, gehe ich nun aber nicht ein, da
sie für unsern Zweck bedeutungslos sind. Ebenso über-
gehe ich hier die Gesichts- und Gehörs-Halluzinationen,
die Stigmatisierung, das „Schweben" und ähnliche Er-
scheinungen, die vielfach von Mystikern berichtet werden:
denn eine wesentlich und spezifisch mystische Bedeutung
haben sie alle nicht. Wenn sie bei Personen von nicht
mystischer Gemütsart vorkommen, wie es oft der Fall ist,
so treten sie ohne jedes Bewußtsein von Erleuchtung auf.
Die innere Erleuchtung ist aber für uns das wesentliche
Merkmal der mystischen Zustände. Ihre Bedeutung für
die Erkenntnis und ihr Offenbarungswert interessierten [>380]
uns in erster Linie, und es ist leicht durch Belegstellen
zu zeigen, einen wie starken Eindruck sie als Offenbarungen
von neuen Wahrheiten hinterlassen. Die heilige Therese
weiß solche Zustände am besten zu schildern; deshalb will
ich sofort anführen, was sie von einem der höchsten, von
dem „Gebet um Einheit" sagt:"
„'In dem Gebet um Einheit ist die Seele völlig
wach
für alles, was Gott betrifft, aber tief im Schlaf den Dingen
der Welt und sich selbst gegenüber. Solange die Ver-
einigung dauert, ist sie gleichsam jeder Empfindung
beraubt, und selbst wenn sie wollte, könnte sie an nichts
denken. Deshalb braucht sie sich gar nicht weiter Mühe
zu geben, den Gebrauch des Verstandes auszuschalten.
Er bleibt in solcher Untätigkeit, daß sie weder weiß,
was
sie liebt, noch wie sie liebt, noch was sie will. Kurz, sie
ist für die Dinge der Welt wie tot und lebt einzig in
Gott . . . Ich weiß nicht, ob sie in diesem Zustand noch
genug Leben zum Atmen übrig hat. Es scheint mir fast,
als wäre es nicht der Fall, oder wenigstens, wenn sie
atmet, daß sie es selbst nicht weiß. Ihr Verstand möchte
wohl gern wissen, was in ihr vorgeht; aber er hat dann
so wenig Kraft, daß er durchaus unwirksam ist. Wenn
jemand in eine tiefe Ohnmacht fällt, so erscheint er wie
tot. So hebt Gott, wenn er eine Seele zur Vereinigung
mit sich emporhebt, die natürliche Wirksamkeit aller ihrer
Fähigkeiten auf. Sie sieht, hört und versteht nichts, so
lange sie mit Gott vereint ist. Aber die Zeit der Ver-
einigung dauert nie lange und erscheint noch kürzer, als
sie tatsächlich ist. Gott erfüllt dann die Seele in einer
Weise, daß es ihr, wenn sie wieder zu sich kommt, völlig
unmöglich ist, daran zu zweifeln, daß sie in Gott und
Gott in ihr gewesen. Diese Wahrheit bleibt ihr so tief
eingeprägt, daß sie die Gnade, die sie empfangen hat,
weder vergessen, noch an ihrer Wirklichkeit zweifeln kann,
selbst wenn viele Jahre vergehen sollten, ohne daß der-
selbe Zustand wiederkehrte. Wenn nun jemand fragt,
wie es denn der Seele möglich ist, zu sehen und zu
wissen, daß sie in Gott gewesen, da sie doch während
der Vereinigung nichts sieht und versteht, so antworte
ich, daß sie es nicht zu jener Zeit sieht, sondern später,
wenn sie wieder zu sich gekommen ist; nicht in einer
Vision, aber vermöge einer Gewißheit, die ihr stets ver-
bleibt, und die allein Gott geben kann . . . [>381]
Aber wie, wird man von neuem fragen, kann man
einer Sache so gewiß sein, die man nicht sieht? Darauf
weiß ich keine Antwort. Das sind Geheimnisse der All-
macht Gottes, in die es mir nicht ziemt, einzudringen.
Alles, was ich weiß, ist, daß ich die Wahrheit spreche.
Und ich werde nie glauben, daß eine Seele, die diese
Gewißheit nicht besitzt, wirklich mit Gott vereint ge-
wesen ist [FN1]."
Die auf mystischem Wege zu gewinnenden Wahrheiten
sind verschiedener Art. Einige beziehen sich auf diese Welt,
die Sinnen- und Erscheinungswelt: das Schauen der Zukunft,
das Verstehen fremder Seelen, das plötzliche Verstehen
von Schriftworten, die Erkenntnis ferner Ereignisse. Die
wichtigsten Offenbarungen aber sind theologischen oder
metaphysischen Charakters."
Ignatius von Loyola nach James
„'Der heilige Ignatius bekannte eines Tages dem Vater
Laynez, eine einzige Stunde religiöser Meditation in Manresa
habe ihn mehr über göttliche Dinge gelehrt, als die Weis-
heit aller Gelehrten zusammengenommen ihn hätte lehren
können . . . Eines Tages sah er im Gebet auf den Stufen
des Chors der Dominikaner-Kirche deutlich den Plan der
göttlichen Weisheit bei der Weltschöpfung. Ein andermal
geriet er während einer Prozession in Verzückung und sah
— freilich in Formen und Bildern, die dem schwachen Ver-
stande eines Erdenbewohners angepaßt waren — das tiefe
Geheimnis der heiligen Dreieinigkeit. Diese Vision erfüllte
sein Herz mit solcher Wonne, daß ihn schon das Andenken
daran später in Tränen ausbrechen ließ [FN2]."
"Ähnlich die heilige Therese. Sie schreibt:
'Eines
Tages im Gebet wurde es mir gegeben, in einem Augen-
blick alle Dinge in Gott zu schauen. Ich sah sie nicht
in ihrer eigentlichen Gestalt, aber mit solcher Klarheit,
daß sie mir stets lebendig vor der Seele stehen. Dies ist
eine der höchsten Gnadenbezeugungen , die mir der Herr
gewährt hat. Der Anblick war so zart und fein, daß der
Verstand ihn nicht fassen kann.'
Dann erzählt sie weiter, wie die Gottheit ihr
wie ein
großer Diamant von leuchtender Klarheit vorgekommen [>382]
1) Sainte Therese (Oeuvres trad. par Bouix): Le Château
In-
terieur, 5. Demeure, Kap. 1.
2) Bartoli-Michel : Vie de Saint Ignace de Loyola, 1
S. 34-36
sei, in dem alle unsere Handlungen in ihrer ganzen Sünd-
haftigkeit deutlicher als je zu erkennen waren. Ein ander-
mal erzählt sie, als sie das Athanasianische Glaubens-
bekenntnis sprach,
„'ließ mich der Herr erkennen, wie ein Gott
in drei
Personen sein kann. Er ließ es mich so deutlich sehen,
daß ich ebenso erstaunt wie getröstet war, und wenn ich
jetzt an die heilige Dreieinigkeit denke oder davon
sprechen höre, so weiß ich, wie die drei anbetungswürdigen
Personen nur ein Gott sind, und ich empfinde ein unaus-
sprechliches Glück dabei.'
Wieder bei einer andern Gelegenheit wurde der heiligen
Therese offenbart, wie die Mutter Gottes in den Himmel
aufgenommen ward [FN1].
Die Wonne einiger dieser Zustände scheint jedes
sonstige Glücksgefühl zu übersteigen. Sie scheint auch
organische Empfindungen mit einzuschließen, denn es heißt
manchmal, sie sei für den Menschen zu groß und grenze
an körperlichen Schmerz. Aber sie ist zu fein und zu
durchdringend, als daß Worte sie beschreiben könnten.
Man bedient sich daher bildlicher Ausdrücke und spricht
von Gottes Berührungen, von den Wunden seiner Speere, von
Trunkenheit und von ehelicher Vereinigung. Verstand und
Sinne vergehen in diesen höchsten Zuständen der Be-
geisterung. „Wenn unser Verstand etwas erfaßt, so geschieht
es doch so, daß es ihm selbst unbewußt bleibt, und er
versteht nichts von dem, was er erfaßt. Ich selbst glaube
nicht, daß er etwas erfaßt, weil, wie ich sagte, er selbst
nichts davon weiß. Ich bekenne, es ist für mich ein un-
durchdringliches Dunkel [FN2]. ..."
"... Auch Jakob Böhmes Schilde-
rungen der VerzückungenJWM382meK14 und Visionen, die
er gehabt, sind
sehr charakteristisch und instruktiv. Er schreibt z. B.:
'Als sich aber in solcher Trübsal mein Geist, von dem
ich wenig und nichts verstand, was er war, ernstlich in
Gott erhob, als mit einem großen Sturme, und mein ganzes
Herz und Gemüt samt allen andern Gedanken und Willen [>383]
1) Sainte Thérèse, Autobiographie, Kap.
39 f.
2) Sainte Thérèse, Autobiographie, Kap.
18.
sich darein schloß, ohne nachzulassen mit der Liebe und
Barmherzigkeit Gottes zu ringen, er segne mich denn, das
ist, erleuchte mich mit seinem heiligen Geiste, damit ich
seinen Willen verstehen möchte und meine Traurigkeit
los werden; so brach der Geist durch.
Als ich aber in meinem angesetzten Eifer so hart
wider Gott und alle Höllen-Pforten stürmte, als wären
in
mir noch mehr Kräfte vorhanden, in Willens, das Leben
daran zu setzen, welches freilich nicht mein Vermögen ohne
des Geistes Gottes Beistand gewesen wäre; so ist alsbald
nach etlichen harten Stürmen mein Geist durch die Höllen-
pforte bis in die innerste Geburt der Gottheit durch-
gebrochen und allda mit Liebe umfangen worden, wie
ein Bräutigam seine liebe Braut umfänget.
Was aber für ein Triumphieren in dem Geiste
ge-
wesen sei, kann ich nicht schreiben noch reden, es läßt
sich auch mit nichts vergleichen, als nur mit dem, wo
mitten im Tode das Leben geboren wird, und es ver-
gleicht sich der Auferstehung von den Toten.
In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles
gesehen und an allen Kreaturen, an Kraut und Gras Gott
erkannt, wer er, wie er, und was sein Wille sei. Auch so
ist alsbald in diesem Lichte mein Wille gewachsen mit
großem Trieb, das Wesen Gottes zu beschreiben.
Weil ich aber die tiefen Geburten Gottes in ihrem
Wesen nicht fassen und in meiner Vernunft nicht begreifen
konnte, so hat sichs wohl Jahre verzogen, ehe mir der
rechte Verstand gegeben worden ist. . .
Von diesem Lichte habe ich nun meine Erkenntnis,
dazu meinen Willen und Trieb, und diese Erkenntnis will
ich meinen Gaben gemäß beschreiben und Gott walten
lassen, sollte ich gleich damit die Welt, den Teufel und
aller Höllen Pforten erzürnen, und will zusehen, was Gott
damit meint. Denn seinen Vorsatz zu erkennen, dazu
bin ich viel zu schwach, obgleich der Geist etliche Dinge,
die zukünftig sind, im Lichte zu erkennen giebt, so bin
ich doch dem äußerlichen Menschen nach viel zu schwach,
solches zu begreifen [FN1].'
In dem Zustande, der von den scholastischen Theo-
[>384]
1) Jakob Böhme:
Aurora oder Morgenröte im Aufgang, Kap. 19
(Ausgabe von Schiebler, II, S. 212 ff; eine neue Ausgabe
der Böhme
schen Erstlingsschrift — nebst zweier weiteren — hat
Jos. Grabisch
im Verlag von Piper, München, veranstaltet).
logen als raptus (VerzückungJWM384meK14) bezeichnet
wird, sind Atmung
und Blutzirkulation so schwach, daß von jenen darüber
gestritten worden ist, ob die Seele zeitweilig vom Körper
getrennt sei oder nicht. Für die moderne medizinische
Beurteilung sind dagegen diese Verzückungen lediglich
Suggestionszustände, die in geistig-intellektueller Beziehung
durch abergläubische Vorstellungen, in körperlicher Be-
ziehung durch Degeneration und Hysterie bedingt sind.
Und zweifellos sind auch solche pathologischen Bedingungen
in vielen, ja vielleicht in allen Fällen vorauszusetzen: aber
damit ist über den Wert des Bewußtseinszustandes, den
sie herbeiführen, noch gar nicht entschieden. Die Wert-
beurteilung kann vielmehr allein von der Frage nach dem
praktischen Lebensertrag aus erfolgen.
..."
Therese-4: Verzückung als Heilmittel
... [>385]
"Die heilige Therese bezeugt das Gleiche in ebenso
emphatischer Weise. Ihre Beschreibung von der Wirkung
gewisser Verzückungszustände, die die Seele dauernd auf
eine höhere Stufe des Gefühls erheben, gibt uns eine
Schilderung von dem Werdeprozeß eines neuen persönlichen
Innenlebens, wie wir ihn in der Literatur nur selten finden:
'Vor der VerzückungJWM385meK14 oft
schwach und von schreck-
licher Pein niedergedrückt, fühlt man sich nachher gesund
und wunderbar schaffensfreudig . . . als wenn es Gottes
Wille wäre, daß der Körper, der den Wünschen der
Seele
nachkommt, nun auch an ihrem Glück teilhaben sollte. . .
Die Seele ist nach solcher Gnadenbezeugung von so starkem
Mut erfüllt, daß sie, selbst wenn der Körper in jenem
Augenblick um der Sache Gottes willen in Stücke gerissen
würde, doch nur das lebhafteste Entzücken empfände.
Das sind die Stunden heroischer Gelübde und gewaltiger
Entschlüsse. . . . Welches Königreich ist demjenigen einer
Seele vergleichbar, die von dem erhabenen Gipfel, auf den
Gott sie geführt hat, alle Dinge der Erde zu ihren Füßen
sieht und sich doch von keinem gefangen nehmen läßt?
Wie sie sich jetzt ihrer früheren Leidenschaften schämt,
wie erstaunt sie über ihre Blindheit ist! Welch lebhaftes
Mitleid sie mit allen denen empfindet, die sie noch vom
Dunkel umhüllt sieht! Sie stöhnt bei dem Gedanken, daß
sie je auf ihre Ehre bedacht gewesen ist, und daß sie je
das für Ehre angesehen hat, was die Welt so nennt.
Jetzt sieht sie in diesem Wort nichts als eine ungeheure
Lüge, der die Welt zum Opfer gefallen ist. Sie erkennt
durch das neue Licht von oben, daß der wahren Ehre [>386]
nichts Unechtes anhaftet, und daß man diese Ehre wahrt,
wenn man das achtet, was wirklich Achtung verdient, und
das für nichts oder weniger als nichts hält, was vergeht
und Gott nicht angenehm ist. . . Sie lacht über sich selbst
bei dem Gedanken, daß es je eine Zeit gegeben, da sie
auf Geld und äußeres Gut Wert legte, es sich sehnlichst
wünschte. . . Ach wenn die Menschen doch darin überein
kämen, es für unnützen Unrat zu achten, welche Eintracht
würde dann in der Welt herrschen! Wie freundlich
würden wir uns gegenseitig behandeln, wenn nur unser
Streben nach Ehre und Geld aus der Welt käme! Meiner
Meinung nach würde das ein Mittel gegen alle unsere
Leiden sein [FN1].'"
"Die Überwindung aller gewöhnlichen Schranken
zwischen
dem Individuum und dem Absoluten ist also die große mystische Leistung. Im mystischen Erlebnis wird der Mensch eins mit dem Unendlichen und wird sich dieser Einheit auch bewußt. Das ist die ewige und triumphierende Tradition der Mystik, die sich in den verschiedenen Ländern und Bekenntnissen kaum unterscheidet. In der Hindu- Religion, im Neuplatonismus, im Sufismus, in der christ- lichen Mystik und in der Lehre Whitmans hören wir die- selbe Sprache. Das sollte den Kritiker aufmerksam machen und ihn nachdenklich stimmen. Diese innere Überein- stimmung ist der Grund, daß die mystischen Klassiker, wie man gesagt hat, keinen Geburtstag und kein Vaterland haben. Da sie stets von der Einheit des Menschen mit Gott sprechen, nimmt ihre Rede alle Sprachen vorweg und sie werden niemals alt [FN1]." |
Borchert schreibt S.361 im Abschnitt: "ES GIBT VIELE WEGE"
"Es erwiesen sich viele Wege als möglich, auch
gegensätzliche. Manche Wege beruhen auf der Einheit zwischen Geist
und Leib; die Atmung im Osten und das Jesusgebet, der Tanz bei den Derwischen,
Körperbeherrschung beim Yogi. Es gibt aber auch den Weg der Befreiung
des Geistes aus dem Körper, wie [>362] bei Mani und den Katharern.
Es gibt einen Weg, bei dem Nachdruck auf das „Licht" und auf Verstand,
Bewußtseinserweiterung und Konzentration gelegt wird. Aber es gibt
auch einen Weg der Emotion, bei dem die Leidenschaft, der Liebesschmerz,
Läuterung und Reinheit betont werden. Und es gibt den Weg des Genießens
- Tantra - sowie der Verweigerung jedes Genusses bei vielen anderen in
Ost und West; wie es auch sowohl im Osten als auch im Westen einen Weg
des Nicht-Tuns, der Schaffung einer Höhle, einer Leere gibt. ...
Man kann den Weg suchen, abgesondert von der Gesellschaft, als Einsiedler
oder in einem Kloster; oder eben im Zentrum der Kultur selbst. Man kann
hier angewiesen sein auf ein Buch, eine Gemeinschaft um Buch oder Liturgie,
auf einen „Meister" oder einen Guru, auf Kurse, Sekten, Kommunen, Basisgemeinden."
Thomas von Aquin
Borchert (1994). S.32: "... Als Thomas von Aquin seine „Summa", das
umfassendste theologische Werk des Mittelalters, fast vollendet hatte,
erhielt er eine mystische Erfahrung. Er sagte: „Verglichen mit dem, was
ich geschaut habe, kommt mir alles, was ich geschrieben oder gedacht habe,
wie Streu vor." Seitdem schwieg er. Seine Summa blieb unvollendet." Merkwürdigerweise
habe ich hierüber in der Rowohlt Bildmonographie von M.-D. Chenu
über Thomas von Aquin keine Belegstelle gefunden.
"Mystische Sprache ist ein Versuch, das Unsagbare zu sagen. ... Typisch für mystische Sprache ist jedoch der paradoxe Charakter derselben." Borchert (1994), S. 29 |
Bruno Borchert hat in seinem Mystik-Buch ein ganzes Kapitel zu Sprache untergebracht. Aus dem Inhaltsverzeichnis:
"Die mystische Sprache
Borchert führt S. 29 im ersten Abschnitt
"PARADOX SPRECHEN UND SCHWEIGEN" aus:
Dionysius Areopagita nach James S.
389
"... Dionysius Areopagita (d. h. der große Unbekannte, der in
der Kirchengeschichte diesen Namen führt), der Vater aller christlichen
Mystik, beschreibt die absolute Wahrheit ausschließlich durch Negationen:
'Die Ursache aller Dinge ist weder Seele noch Geist.
Weder hat sie Einbildungskraft, Verstand und Einsicht, noch ist sie selber
Verstand und Einsicht. Man kann sie weder aussprechen noch denken. Weder
Zahl noch Ordnung, weder Erhabenheit noch Kleinheit, weder irgend welche
Gleichheit noch Ungleichheit, weder irgendwelche Ähnlichkeit noch
Unähnlichkeit kann von ihr ausgesagt werden. Sie bewegt sich nicht,
aber sie ruht auch nicht. Sie ist weder das Sein, noch die Ewigkeit, noch
die Zeit. Sie ist weder Wissenschaft noch Wahrheit, weder Herrschaft noch
Weisheit. Nicht Eins, nicht Einheit, nicht Göttlichkeit oder Güte,
selbst nicht einmal Geist, wie wir ihn kennen", usw.[FN1]'"
Mystik in Rudolf Eisler Wörterbuch
der Philosophie
"Mystik (von, myô, schließen, nämlich die Augen,
um in die Innenwelt sich zu versenken) ist die (vermeintliche) Erfassung
des Übersinnlichen, Göttlichen, Transzendente (nicht durch die
Sinne, nicht durch Vernunft, sondern) durch eigenartige innere Erfahrung,
durch unmittelbare (intellektuelle) Intuition (s. d.), Contemplation (s.
d.), gefühlsmäßiges Erleben, liebendes Erfassen im Zustande
der Ekstase (s. d.); Streben nach Versenkung in die Tiefen des eigenen
Gemüts, um so der Vereinigung mit dem göttlichen Sein (»unio
mystica«) auf unbegreifliche, geheimnisvolle Weise teilhaftig zu
werden; die mystische Lehre, das mystische Verhalten.
Mystische Elemente finden sich bei verschiedenen
Metaphysikern, wie PLATO; CARDANUS, PICO, CAMPANELLA, AGRIPPA, PARACELSUS,
NICOLAUS CUSANUS; G. BRUNO, PASCAL, MALEBRANCHE, SPINOZA (»amor Dei
intellectualis«); F. VON SCHLEGEL, NOVALIS, SCHELLING, CHR. KRAUSE,
F. BAADER, SCHOPENHAUER, FECHNER, E. V. HARTMANN, NIETZSCHE, u. a. Mystiker
sind insbesondere die indischen Theosophen, die Orphiker, die Neupythagoreer
(s. d.), Neuplatoniker (s. d.); die Gnostiker (s. d.), die Kabbalâ,
DIONYSIUS AREOPAGITA, BERNHARD VON CLAIRVAUX, BONAVENTURA, RICHARD und
HUGO VON ST. VICTOR, RAYMUND VON SABUNDE, die Begharden, der Sûfismus;
ferner ECKHART, TAULER, SUSO, RUYSBROEK, GERHART GROOT, THOMAS A KEMPIS,
der Verfasser der »deutschen Theologie« (hrsg. von F. Pfeiffer
1858), VAL. WEIGEL, CASP. SCHWENKFELD, SEBAST. FRANK, J. BÖHME, ROB.
FLUDD, ANGELUS SILESIUS, SWEDENBORG, ST. MARTIN, JACOBI, F. J. MOLITOR,
PERTY, WL. SSOLOWJOW u.a. Einige Mystiker nähern sich dem PANTHEISMUS
(s. d.). - SCHELLING erklärt: »To mystikon heist alles,
was verborgen, geheim ist.«. Das »vorzugsweise Mystische ist
gerade die Natur«. »Mystiker ist... niemand durch das was er
behauptet, sondern durch die Art, wie er es behauptet. Mysticismus drückt
nur den Gegensatz gegen formell wissenschaftliche Erkenntnis aus.«
»Mysticismus kann nur jene Geistesbeschaffenheit genannt werden,
welche alle wissenschaftliche Begründung oder Auseinandersetzung verschmäht,
die alles wahre Wissen nur von einem sogenannten innern, auch nicht allgemein
leuchtenden, sondern im Individuum eingeschlossenen Licht, aus einer
unmittelbaren Offenbarung, aus bloßer ekstatischer Intuition oder
aus bloßem Gefühl herleiten will« (WW. I 10, 191 f.).
SUABEDISSEN spricht von der »Mystik, die uns im Schauen der Seele
aufgeht« (Psychol. S. 117). »Dem Mystiker gilt der Begriff
nicht mehr viel, aber sein Gemüt und seine Phantasie sind vom Überirdischen
erfüllt« (l.c. S. 118). Nach ULRICI besteht das Mystische darin,
»daß wir uns bewußt sind, einen Gedanken haben, ein Sein
annehmen zu müssen, und doch mit unsern Versuchen, es in einen Begriff
zu fassen, ihn auszudenken, immer wieder scheitern«. Das Mystische
ist »ein unaustilgbares Moment unseres Denkens, Erkennens und Wissens«
(Gott u. d. Nat. S. 639). V. COUSIN bemerkt: »Le mysticisme contient
un scepticisme pusillanime à l'endroit de la raison, et en même
temps une foi aveugle et portée jusqu' à l'oubli de toutes
les conditions imposées à la nature humaine« (Du vrai
p. 105). Gegen die Mystik betont er: »Le sentiment par lui-même
est une source d'emotion, non de connaissance. La seule faculté
de connaître, c'est la raison« (l.c. p. 114) [GÜ: Mystik
enthält eine kleinmütige Skepsis gegenüber der Vernunft
und zugleich ein bis zur Vergessenheit aller der menschlichen Natur auferlegter
Bedingungen getriebener blinder Glaube. Gegen die Mystik betont er: „Das
Gefühl an sich ist eine Quelle des Gefühls, nicht des Wissens.
Die einzige Fähigkeit zu wissen ist der Verstand]. »La vraie
union de l'âme avec Dieu se fait par la vérité et par
la vertu. Tout autre union est une chimère, un péril, quelquefois
un crime« (l.c. p. 115). »L'extase, loin d'élever l'homme
jusqu' à Dieu, l'abaisse au-dessous de l'homme; car elle efface
en lui la pensée en ôtant sa condition, qui est la conscience«
(l.c. p. 126) [Die wahre Vereinigung der Seele mit Gott entsteht durch
Wahrheit und Tugend. Jede andere Vereinigung ist eine Chimäre, eine
Gefahr, manchmal ein Verbrechen“ (l.c. S. 115). Ekstase, weit davon entfernt,
den Menschen zu Gott zu erheben, erniedrigt ihn unter den Menschen; weil
es in ihm den Gedanken auslöscht, indem es seine Bedingung beseitigt,
die das Gewissen ist“ (l.c. S. 126)]. Für die Mystik spricht R. STEINER.
Gott ruht in den Dingen, da er sich allem hingegeben. Der Mensch muß
ihn schaffend erlösen. »Der Mensch blickt nun in sich. Als verborgene
Schöpferkraft, noch daseinlos, pocht das Göttliche in seiner
Seele. In dieser Seele ist eine Stätte, in der der verzauberte Gott
wieder aufleben kann. Die Seele ist die Mutter, die den Gott aus der Natur
empfangen kann. Lasse die Seele sich von der Natur befruchten, so wird
sie ein Göttliches gebären. Aus der Ehe der Seele mit der Natur
und Gott geboren. Das ist nun kein ›verborgener‹ Gott mehr, das ist ein
offenbarer Gott.« »Die mystische Erkenntnis ist damit ein wirklicher
Vorgang im Weltprocesse. Sie ist eine Geburt Gottes« (Das Christent.
als myst. Tatsache S. 23 f.; vgl. Die Mystik im Anfange neuzeitl. Geistesleb.).
Auch DU PREL schätzt die Mystik hoch (Philos. d. Myst.; Monist. Seelenlehre
S. 11). Vgl. W. JERUSALEM, Einf. in d. Philos.2; NOACK, Die christl. Mystik
1853; F. PFEIFFER, Deutsche Mystiker d. 14. Jahrhund. 1845/1857; J. H.
TH. SCHMID, Gesch. d. Mysticism. im Mittelalter; GODFERNAUX, Sur la psychologie
du mysticisme, Rev. philos. 53, 1902, p. 158 ff. - Vgl. Theosophie, Emanation,
Gott."
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< Erleben Differenzierung > Erlebnis |
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Anmerkung Carnap: hier ist
EE für Elementarerlebnis
vorgesehen, obwohl unklar ist, was ein Elementarerlebnis
von einem Erlebnis unterscheidet.
*
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site: www.sgipt.org
z.B. Inhaltsverzeichnis site: www.sgipt.org. |
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korrigiert: 30.03.2023 irs Rechtschreibprüfung 31.03.23 und 01.04.23 irs gelesen