Die Traumlehre der deutschen Erfahrungsseelenkunde
Hier: Die Traumlehre
G. Ch. Rapps (1792)
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Zusammenfassung der Traumlehre des Erfahrungsseelenkundlers G. Ch. Rapp
Teleologischer Sinn der Träume
(1) "Kant sagt in seiner Critik der Urtheilskraft [S. 298f], man könnte fragen, ob nicht die Träume eine zweckmäßige Anordnung der Natur seyn mögen, indem sie nemlich, bei dem Abspannen aller körperlichen bewegenden Kräfte darzu dienen, vermittelst der Einbildungskraft und der grossen Geschäftigkeit derselben, die Lebensorgane innigst zu bewegen, so, daß ohne diese innerlich bewegende Kraft (und die ermüdende Unruhe, worüber wir die Träume anklagen) der Schlaf wohl gar ein völliges Erlöschen des Lebens seyn würde." [S. 4]
(2) "Eben so, wie hier in physiologischer, so kann auch in psychologischer Hinsicht das Träumen nach dem teleologischen Princip betrachtet, und gefraget werden, ob nicht Würkungen desselben auf unsre Seele, zur Beförderung unsrer Glückseligkeit und geistigen Vollkommenheit sich finden lassen, die bey dieser Naturerscheinung als Zwecke betrachtet werden könnten." [S. 4]
(3) "Fürs erste scheint mir unstreitig, vermittelst der Träume die Summe unsrer angenehmen Empfindungen vermehrt zu werden. ..." [S. 4]
"Aber davon abgesehen, daß auch traurige und schröckende Träume einen anderweitigen Nuzen haben mögen, wovon wir noch weiter unten reden werden, so muß man doch gestehen, daß diese im Ganzen weit seltener sind, als der Zustand des Vergnügens und der Behaglichkeit, darein unsre selbstgeschaffene Ordnung der Dinge uns versetzt. Nur körperliche oder geistige Anomalien werden hier Ausnahmen machen." [S. 5]
"Ein Kranker wird freilich oft auch seine erdichtete Welt nach dem Medium, wodurch er sie sieht, modificiren; dem Melancholischen wird sein schwarzes Blut seine idealische Welt eben so häßlich, als die wirkliche, koloriren; der Menschenfeind, der Neidische, der Zänkische, der Argwöhnische, wird auch träumend wie wachend, häufige Veranlassungen, zu klagen, zu hadern, zu misgönnen und zu mistrauen, finden, weil er sie selbst schafft. Und so ist freilich ein siecher Körper, auch wenn er schläft, ein Uebel, und eine lasterhafte Gemüthsart, auch im Traum, ihre eigene Geissel. ..." [S. 5]
"Oder soll man den Vergnügen des Träumenden deswegen, weil sie bloß erträumt sind, die Realität absprechen? Ich denke, nicht. Die angenehmen Empfindungen sind nicht erträumt, sondern nur ihre Gegenstände, sie selbst sind ebenso wahr, als die des Wachenden, und gewöhnlich noch lebhafter und unvermischter. ..." [S. 6]
"Besonders dient die wohlthätige Täuschung der Träume zur Aufheiterung der Söhne des Unglücks, denen nicht ihre verderbte Einbildungskraft oder ihr Hypochondrium die Welt zur Hölle misgestaltet; sondern die, für den harmlosesten Lebensgenuß empfänglich, die schweren Fesseln des Mißgeschicks tragen, wodurch die Freuden des Lebens, zu denen sie berufen sind, ihnen zur verbottenen Frucht werden, darnach ihnen nicht erlaubt ist, die Hände auszustrecken. Wie viele Tausende müßte ihre unnatürliche und Freudenlose Lage in der Gesellschaft, ihre traurige Aussicht für die Zukunft, die unüberwindliche Hindernisse, die ihnen alle Wege zum Erdenglück verzäunen, als eine unerträgliche Last zu Boden drücken, wenn die Vorstellung davon, die wider ihren Willen sich ihnen beständig, durch äußere Veranlassungen, aufdringt, nicht häufig und anhaltend genug mit andern abwechselte, worüber sie nicht nur ihr Elend auf Augenblicke vergessen, sondern anhaltend ihr Daseyn würklich recht angenehm geniessen können. ..." [S. 7]
Allgemein wohltuender Einfluß des Träumens
"Aber nicht nur die leidende, sondern auch auf die selbstthätige Kräften der Seele scheint der Zustand des Träumens einen vortheilhaften Einfluß zu haben. ..." [S. 8]
Kreatives und müheloses Problemlösen im Traum
"Oft aber hat die Bemühung der Selbstthätigkeit der Seele
im Traume würklich einen materiellen, theoretischen oder praktischen
Nutzen. Es ist eine Erfahrung, die beynahe jeder, dem nicht überhaupt
das Denken etwas fremdes ist, an sich selbst schon gemacht haben muß,
daß wir oft träumend mit leichter Mühe mit einer Aufgabe
zu Stand kommen, deren Auflösung uns im wachenden Zustande durchaus
nicht gelingen wollte.
Sehr oft ist freylich die Auflösung beym Erwachen
wieder vergessen und wir erinnern uns " [< S. 8] blos, sie gehabt zu
haben. Doch giebt es auch Beyspiele vom Gegentheil. Einem Traum verdanken
wir ein wahres philosophisches Meisterstück eines der berühmtesten
Schriftsteller unseres Zeitalters, Reinholds Deduktion der Categorien.
Seine eigene Worte hievon sind: 'ich halte es als ein psychologisches Phänomen
für bemerkenswerth, daß mir die Hauptidee dieser Deduktion,
nachdem ich über vier Wochen den Begriff eines Urtheils mit großer
Anstrengung festgehalten, und vielfältig gedreht und gewendet habe,
mit aller Klarheit und Bestimmtheit im Traume eingefallen ist.' ..." [S.
9]
"... Im Traum ist oft der Verzagteste standhaft, der Feigste muthig, der Furchtsamste kühn und entschlossen. ..." [S.9]
"... Ich erinnere mich eines Jünglings von meiner Bekanntschaft, der es nie von sich erhalten konnte, auch wenn ihm auffallendes Unrecht geschah, irgend Jemanden etwas Unangenehmes zu sagen, der aber, zu der Zeit, als er gegen erlittenes Unrecht fühlbarer zu werden begann, im Traume sehr häufig in den Fall kam, in dem er wachend nie gewesen war, sich muthig mit seinen Beleidigern zu zanken. ..." [S. 10]
"... Und wer wollte es läugnen, daß das Neue und Ungewohnte
bey unangenehmen Ereignissen den nachtheiligsten Einfluß auf unsere
Empfindungen habe, und daß eben dasselbe Unglück, je vertrauter
wir mit der Vorstellung desselben werden, immer mehr von seiner Schreckengestalt
verliere? Diese Erfahrungswahrheit dient zu einiger Apologie der
unangenehmen Träume.
Der Eindruck, den irgend ein Unglücksfall auf
uns macht, wird um so erträglicher seyn, je öfter wir ihn, auch
nur im Traume, schon erlitten und lebhaft empfunden haben." [S. 10]
Anmerkung RS: Das gilt für traumatische Erfahrungen zum Teil nicht, die als quälende Störung erlebt werden können. Möglicherweise greift hier das - verallgemeinerte - Yerkes-Dodson'sche Gesetz, das nur für mittel ausgeprägte Schreckenserfahrungen gilt:
Erleichterung durch
Kontrasterleben
Oder vom Nutzen schrecklicher Trauminhalte II.: Gottseidank, es
war ja nur ein Traum.
"Ein anderer Vortheil niederschlagender und ängstigender Träume ist der, daß sie uns nicht selten mit unserm Schicksal, über das wir oft so [> S. 11] unbilligerweise unzufrieden sind, einigermassen wieder aussöhnen. Dies geschieht dadurch, daß unsere ausschweifende Einbildungskraft das Schlimme unsrer wirklichen Umstände und Verbindungen uns noch schlimmer vormahlt, als es ist, oder ganz unwahre Widerwärtigkeiten uns schafft; und wenn wir erwachen, danken wir der Vorsehung daß es nur Traum war, und nehmen die Plage des kommenden Tags gern über uns. ..." [S. 10/11]
Gefühl viel wirksamer als Denken [fett-kursiv von RS]
"Man könnte zwar sagen, die vernünftige Ueberlegung und Vergleichung unsers Zustandes mit den Schicksalen unsrer unglücklichen Brüder müsse zu dieser Absicht weit würksamer seyn und zu einer gründlicheren Beruhigung führen. So wahr dies letztere auch ist, so hat doch das Träumen eigenen Unglücks in Ansehung der mechanischen Würksamkeit den Vorzug, denn wir denken es nicht nur, sondern empfinden es auch würklich. Und wer weiß nicht, daß ein empfundenes Uebel ganz anders auf unser Gemüth würkt, als ein blos gedachtes?" [S. 11]
Der hohe Abwechslungs- und Anregungswert der Träume
"Endlich scheint mir dies noch ein Hauptvortheil der Träume zu seyn, daß sie ein kräftiges Gegenmittel gegen allzugrosse Einförmigkeit und Einseitigkeit unsrer Denkungs- und Empfindungsart abgeben. Es ist bekannt, welchen Einfluß es auf die Bildung unserer Neigungen, unseres Geschmacks [> S. 12] und unserer ganzen Art zu urtheilen und zu handeln hat, wenn wir lange Zeit in einem und eben demselben engen Kreis von Menschen und Beschäftigungen uns herumtreiben. ..." [S. 11/12]
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