Dynamische Systeme
Schiepek, G. & Strunk, G. (1994). Dynamische Systeme - Grundlagen und Analysemethoden für Psychologen und Psychiater. Mit einem Vorw. von Uwe an der Heiden. - Heidelberg: |
Ein Buchhinweis von Rudolf Sponsel, Erlangen
Vorwort 9
Hinweise zu Funktion und Gebrauch des vorliegenden Büchleins
12
1 Themen und Aufgabenstellungen systemwissenschaftlicher Ansätze in Psychologie und Psychiatrie 15
2 Das Verhältnis von Systemwissenschaft und
systemischer Therapie 33
3 Die Beschreibung dynamischer Systeme 41
4 Das Problem der Prognostizierbarkeit dynamischer
Systeme 83
4.1 Bedingungen für Prognosen
83
4.2 Beispiele für Vorhersagen
nichtlinearen Systemverhaltens 86
5 Das systemwissenschaftliche Forschungskonzept 95
Glossar 103
Attraktor 105
Bassin 107
Chaos 107
Computersimulation 109
Deterministisches Chaos 110
(x,t)-Diagramm 110
Dimensionskonzepte 111
Effektive Dimension 111
Topologische Dimension 112
Die Hausdorff-Besicovitch-Dimension
113
Selbstähnlichkeitsdimension 116
Box-Dimension 118
Dimensionalität und Attraktoren
118
Fraktale Dimension 120
Dynamik 120
Entropie 120
Experiment 120
Feigenbaumszenario 120
Fixpunktattraktor 120
Fraktal 121
Gemischtes Feedback 123
Grenzzyklus 123
Iteration 124
Kontrollparameter 128
Kritische Fluktuationen, Kritische Instabilität
129
Linearität 130
Logistische Gleichung 130
makroskopisches Chaos 130
mikroskopisches Chaos 130
Periodenverdopplung 131
Phasenraum-Diagramme 132
Phasenübergang 132
Potentiallandschaft 133
Räuber-Beute-Modelle 133
Repellor 140
Schmetterlingseffekt 140
Selbstähnlichkeit 141
Selbstorganisation, Fremdorganisation 142
seltsamer Attraktorer 142
Separatrix 143
Spektralanalyse 143
Strukturbild 146
Symmetriebrechung 147
Systeme, dissipative und konservative Systeme, offene
und geschlossene Systeme 148
Torusattraktor 149
Trajektorie 150
Transiente 150
Verhulst-Map 150
Zufallsrauschen 151
Anhang
Die Bamberg-Münster Studie:
Psychotherapie-Prozeßforschung mittels Sequentieller
Plananalyse 153
Nachwort (Hermann Hesse) 163
Literaturverzeichnis 165
Sachwortverzeichnis 181
Namenverzeichnis 191
Leseprobe:
Systemwissenschaftliches Forschungskonzept
Im Idealfall gelingt es, die empirisch erfaßten dynamischen bzw. strukturellen Muster durch ein theoretisches Modell und dessen Simulation zu "erklären", d.h. zu reproduzieren bzw. zu prognostizieren - unter Berücksichtigung der in Kap. 4.1 genannten Einschränkungen.
Wollte man eine Parallele zum Hempel-Oppenheim-Schema wissenschaftlicher Erklärungen herstellen (vgl. z.B. Westmeyer, 1990), so bestünde das Explanandum im quantitativ oder qualitativ erhobenen Verhalten eines empirischen Systems. Das Explanans setzt sich im HO-Schema aus Gesetzeshypothesen und Antezedensbedingungen zusammen, wobei die Gesetzeshypothesen durch die Gleichungen oder Produktionsregeln, also den "generativen Mechanismus" eines Simulationsmodells repräsentiert würden, und die Antezedensbcdingungen durch die Anfangswerte der Variablen, den laufenden Umweltinput und insbesondere - im Falle eines Gleichungssystems - durch die Werte der (Kontroll-)Parameter ihre Konkretisierung fänden. Die Analogie ist also durchaus eng. Je nachdem, ob ein Simulationsmodell mit generellem theoretischen Anspruch formuliert wurde oder primär der Einzelfallbeschreibung dient, findet sich in der systemwissenschaftlichen Methodologie auch die traditionelle Unterscheidung zwischen Nomothetik und Idiographik wieder. Es handelt sich hierbei m.E. eher um eine Unterscheidung hinsichtlich des Geltungsanpruchs eines Modells als um modellbautechnisch grundsätzlich andere Vorgehensweisen.
Die in Abbildung 35 skizzierte systemwissenschaftliche Forschungsstrategie beinhaltet durchaus eine Reihe von Problemen. Zunächst ist die Auswahl geeigneter Indikatoren (Variablen) der Systemdynamik an die Frage geknüpft, inwieweit im psychologischen Bereich hochfrequente Messungen gelingen und welche speziellen Meßprobleme bzw. Meßfehler hierbei auftreten (z.B. bei subjektiven Daten: kontinuierliche Verschiebung des inneren Bezugssystems). Zudem sind bei multivariaten Erhebungen Daten unterschiedlicher Qualität und unterschiedlichen Auflösungsgrades miteinander in Beziehung zu setzen. Gefragt wäre eine eigene Meßtheorie für bio- psycho- soziale dynamische Systeme.
Des weiteren stellt sich das Grundsatzproblem der Validierbarkeit von Simulationen. Gerade für chaotische Prozesse läßt sich die Reproduktionsgenauigkeit einer empirischen durch eine simulierte Zeitreihe nicht durch Ähnlichkeitsvergleiche im Verlaufsdetail vornehmen. Ähnlichkeitsvergleiche sind allenfalls auf der Ebene des Attraktors möglich, z.B. über Kennwerte der fraktalen Dimensionalität, der Entropie oder über das Spektrum der Lyapunov-Exponenten. Wünschenswert wäre zudem auch ein statistischer Ähnlichkeitstest von Attraktoren, z.B. auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeitsdichten der Trajektorienverläufe im Phasenraum.
Dennoch bleibt der Sachverhalt bestehen, daß ein und dieselbe Dynamik von verschiedensten Strukturmodellen erzeugbar ist, ebenso wie umgekehrt ein bestimmtes Modell je nach Parameterwahl und Ausgangsbedingungen sehr viele verschiedene Dynamiken generieren kann. Verhaltensmodellhaftigkeit ist nicht gleich Strukturmodellhaftigkeit - ein Tatbestand, der bereits in der traditionellen Methodologie sein Pendant in der Mehr-Mehrdeutigkeit von Theorien und Phänomenen hat. Simulationen sind daher nicht zuletzt nach der Plausibilität des Systemverhaltens vor dem Hintergrund detaillierter phänomenologischer Sachkenntnis zu beurteilen. Weitere Kriterien beziehen sich auf die wissenschaftliche Qualität eines Modells, d.h. auf die Frage, ob die in einem Modell enthaltenen Hypothesen dem jeweiligen Stand der Forschung, d.h. der empirischen Befundlage und der Theorieentwicklung entsprechen (für eine Diskussion von Beurteilungskriterien für Systemmodelle s. Schiepek, 1986; 1991, S. 47ff.).
Ein wesentliches Hilfsmittel bei der Qualitätskontrolle von Simulationen ist die Durchführung von Modelltests. Diese beruhen auf hypothesengeleiteten Interventionen in Simulationsläufe, um die dadurch provozierte Veränderung des Systemverhaltens mit theoretisch begründeten oder mindestens mit Plausibilitätsannahmen zu vergleichen (für ein ausführliches Beispiel s. Schiepek, 1991, S. 292ff.). Simulationen auf der Grundlage von Gleichungssystemen gestatten Interventionen via (a) Variablenveränderung, (b) Parameterveränderung, (c) Variation der Zufallsfluktuationen oder (d) Strukturveränderung des Gleichungssystems (Einbezug oder Elimination einzelner Gleichungen). Im günstigen Fall kann das Quasi-Experiment der Modelltestung auch in der Realität stattfinden, so daß der Vergleich eine empirische Grundlage erhält. Experimentalmethodik und systemwissenschaftliche Modellierung schließen sich also keineswegs aus. Im Gegenteil: dem Experiment eröffnet sich zusätzlich die artifizielle Realität der Simulation.
Ein Beispiel für Modellinterventionen ist in den Abbildungen 36 und 37 dargestellt. Sie sind das Produkt einer umfangreichen idiographischen Modellierung der Psycho- und Soziodynamik eines individuellen Krankheitsverlaufs (Kooperationsprojekt mit Dipl. Psych. W. Schoppek, Dr. B. Ambühl und Prof. Dr. L. Ciompi). Die Simulation beruht auf 20 Variablen und damit auf 20 Differenzengleichungen mit mehreren nichtlinearen Termen. In einem Bereich, in dem der Krankheitsverlauf durch ausgeprägte Perioden psychotischen Verhaltens mit dazu leicht zeitverschobenen körperlichen Krankheitssymptomen gekennzeichnet ist, werden die emotionalen ebenso wie die Leistungsansprüche deutlich gesenkt (Abb. 36). Es wird gewissermaßen ein Schonraum simuliert, wie er Akutpatienten beispielsweise im therapeutischen Wohnheim "Soteria" an der Sozialpsychiatrischen Universitätsklinik Bern zur Verfügung steht (Ciompi, 1993). Erwartungskonform reduziert sich die Ausprägung der Variablen "Psychose" und tendenziell auch der Variablen "somatische Krankheit" während dieser Schonperiode.
Eine andere Intervention betrifft die Veränderung eines der fünf Kontrollparameter des Systems. Dieser Parameter bezeichnet inhaltlich die Ausprägung des "Invaliditäts-Selbstbildes" der Patientin. Er mediiert z.B. Prozesse der Leistungsmotivation, der Verantwortungsübernahme und der Bereitschaft, auf Belastungen mit körperlichen Symptomen zu reagieren. Mit der Erhöhung dieses Selbstkonzept-Parameters dominiert die körperliche Symptomatik über andere Störungsformen (Abb. 37). Ein derartiger Trend läßt sich aus der Kenntnis des Strukturmodells erwarten, Detailprognosen des Systemverhaltens sind trotzdem nicht möglich.
Angesichts der genannten Validierungsprobleme von Simulationsmodellen
mag es ratsam sein, sich die Funktionen wissenschaftlicher Modellbildung
vor Augen zu führen. Es handelt sich um zweckabhängige, perspektivische
Abstraktionen (Stachowiak, 1973), deren Sinn es daher von vornherein nicht
sein kann, möglichst detailtreue, realistische Abbildungen zu liefern.
Vielmehr geht es um folgende Zielsetzungen (vgl. Wisset, 1989):
Wie aus diesen Zielsetzungen deutlich wird, haben
Modelle auch dann ihren Sinn, wenn quantitative Daten zu ihrer Überprüfung
nicht zur Verfügung stehen. Modelle sind meist graphisch gestaltete
Anschauungshilfen, denen sich die therapeutische Problemanalyse und die
qualitative Forschung bedient (Schiepek & Kaimer, 1994).
Insgesamt bemüht sich die systemwissenschaftliche Zugangsweise um eine Verschränkung von quantitativer und qualitativer Forschung. Methodische Pluralität erscheint zwingend notwendig, wenn man sich der Komplexität und dem Facettenreichtum klinisch-psychologischer Phänomene nicht einfach entziehen will. Zur methodischen Pluralität muß eine konzeptuelle Pluralität kommen, um zu verhindern, daß unser Thema, nämlich das Seelen- und Sozialleben des Menschen, auf nur eine von vielen möglichen Seiten gekippt wird: auf die der Biologie oder der Physiologie (im Moment en vogue), auf die der Soziologie, auf die der Methodik, auf die des Psycho- Techno- Pragmatismus, auf die des qualitativen Verstehens (eine sehr schmale Seite, vgl. Jaeggi, 1987) oder auf die des berufsständigen Psychologentums. So altmodisch es klingen mag: Der systemwissenschaftliche Ansatz beruht meines Erachtens auf zwei sehr traditionellen Werten, nämlich intellektuelle Redlichkeit und breite Bildung. Spezialkenntnisse im eigenen Fach müssen sich verbinden mit interdisziplinärem Kooperationswillen und dem Interesse an der Vernetztheit der Welt. Hans-Peter Dürr spricht in diesem Zusammenhang von T-Intelligenz und meint damit die Kombination von Spezialisierung (Senkrechte) mit Generalisierung (Waagerechte). Multiperspektivische Betrachtungen haben die Bögen zu spannen von der Biologie zur Gesellschaftswissenschaft und von der Mathematik zur Literatur - wozu das vorliegende Buch vielleicht einen Baustein liefert." [S. 101]
Systemische Links (Auswahl - Zur Beachtung)
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