Grundbegriffe der Systemtheorie1) in der Allgemeinen und Integrativen Psychologie und Psychotherapie.
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Systematik einer allgemeinen
abstrakten System- und Veränderungstheorie
(und damit einer allgemeinen
und abstrakten Krankheitslehre)
Querverweis: Übersicht
Heilmittellehre in der GIPT
Grundbegriffe: Prädikation, Negation, Systeme, Zustände, Umwelten, Eingangs-, Ausgangsschnittstellen, Funktionen, Funktionseinheiten, Veränderung, Plus-Operator, Minus-Operator, Inverse-Operator, Null-Operator, Anwendung auf Quantoren, Kontexte, Regeln.
Nach Kamlah & Lorenzen (1967) unterscheiden wir elementare Zuschreibungen und deren Negationen. Danach benennen wir die positive Zuschreibung mit Prädikation und die Verneinung mit Negation mit den zwei Varianten konträr (schwarz - weiss) und kontradiktorisch (schwarz - nicht schwarz).
Wir betrachten Systeme S1, S2, ..., Si, ..., Sn, die verschiedene Zustände annehmen können, was wir im zweiten Index vermerken Si1, Si2, ..., Sij, ..., Sim. Zu diesen Systemen gehört jeweils eine Umwelt U1, U2, ..., Ui, ..., Un .
Wir denken uns auch gleich Eingangs- E1, E2, ..., Ei, ..., En und Ausgangsschnittstellen A1, A2, ..., Ai, ..., An zwischen den Systemen oder / und ihren jeweiligen Umwelten. Ein System sei einstweilen eine Blackbox mit verschiedenen Funktionen Fi1, Fi2, ..., Fij, ..., Fim, z. B. sehen, greifen, sprechen, lächeln, die ihrerseits wieder zu verschiedenen Funktionseinheiten FEi1,FEi2, ..., FEij, ..., FEim , z. B. Bewegungsapparat, Sprechapparat, Kreislaufsystem, Fähigkeiten, Gedächtnis, Gewissen, Temperament, auch immer höherer Ordnung zusammengefaßt werden können.
Beispiele: Sie, Ihr Nachbar, Hund, Ofen, Auto oder Ihre Wohnung koennen in diesem Sinne als Systeme aufgefasst werden. Ihr Auto kann z. B. die Zustände "funktioniert" oder "funktioniert nicht" annehmen. Ihr Ofen kann die Zustände "An" oder "Aus" annehmen. Ihr Bewußtsein kann die Zustände"An (wach)" oder "Aus (Schlaf, Bewußtlosigkeit, Hypnose)" annehmen. Sie selbst können z. B. die Zustände "gesund" oder "krank" annehmen.
Wir definieren die allgemeinsten Veraenderungsoperatoren, die denkbar sind. Das sind V+ und V-. V+ heisst, es kommt etwas hinzu. V- heißt, es wird etwas weggenommen. Unsere allgemeinsten Veränderungsoperatoren sind also: Plus und Minus. Es gibt nun vier Grundmoeglichkeiten:
Prädikation
Negation einer Prädikation
(zuschreiben)
(absprechen)
Plus-Operator 11 12
Minus-Operator 21 22
Die Prädikation "Angst" kann hinzukommen oder weggehen, die Negation einer Prädikation "keine Angst" kann ebenfalls hinzukommen oder weggehen. Beispiel: Ausgehend von einem bestehenden Zustand kann ich essen, trinken, ein Buch erwerben, eine Einsicht haben, eine Phantasie erzeugen. Das alles kann ganz allgemein und abstrakt als "Plus" oder "Hinzufügen" interpretiert werden. Ich kann den Nachbarn grüßen, dann bekommt er ein "Plus", nämlich den Gruß, der von mir weggeht, den ich abgebe, also als "Minus" gesehen werden kann. Waehrend meines Lebens ist meine Faehigkeit zu gruessen praktisch "unendlich" gross. Waehrend des Tages verbrauche ich Energie, scheide aus, verliere Schweiss, gebe Geld aus, verliere Gedanken, Gefuehle. Leben ist wie der Bewusseinseinsstrom ein ununterbrochenes Geschehen von "Plus" und "Minus" Geschehnissen. Alles fließt und verändert sich unaufhörlich: ständig kommt etwas hinzu, ständig geht etwas weg. Habe ich Angst und nehme ich einen Tranquilizer ("Plus") dazu, dann verliert mein Leben für einige Zeit diese Angst, sie ist weg ("Minus"). Das System Mensch "Plus" Angst kann als phobisches System und ab einem bestimmten Ausmaß auch als krank bezeichnet werden.
Klinisches Beispiel: Chronisch Schizophrene haben häufig ein Anfangsproblem, sie sind passiv und können sich nur schwer überwinden. Kann ein chronisch Schizophrener z. B. dazu motiviert werden, einen Cafetreff ("KommRum"2) in Berlin) aufzusuchen, kann unter günstigen Bedingungen eine Heilungslawine in Gang gesetzt werden, weil Aktivität und Kontakt initiiert, d. h. angefangen wurde:
Zum Alltagslebensraum des chronisch Schizophrenen kommt also das "Cafe KommRum" hinzu und das kann allerlei anstoßen und im Verlauf bewirken.3)
Atomistisch und mikroskopisch betrachtet nennen wir die allgemeinsten Veränderungsoperatoren daher Plus-Operator und Minus-Operator. Dahinter steckt nichts anderes als die allgemeine Idee und Vorstellung eines Hinzukommens (wachsen, vermehren) bzw. eines Wegnehmens (mindern, schrumpfen). Geben und Bekommen sind typische zwischenmenschliche und soziale Plus- und Minus-Operatoren. Intrasystemisch kann ein Geben einer Funktionseinheit ein Bekommen in einer anderen bedeuten. So kann ich mich selbst freizuegig, grosszuegig, anständig fühlen - mein Selbstbild erhält positive Zufuhr -, wenn ich anderen Menschen etwas gebe, z. B. Anteilnahme, Mitgefuehl, Trost. Eine solche Bilanzierung mögen manche guten Menschen aber nicht, weil sie mit einer solchen Deutung ihr Gutsein entwertet sehen.
Bewirkt die Anwendung einer Plus- oder einer Minus-Operation die Neutralisierung oder Annullierung der vorangegangenen Plus- oder Minus-Operation, so heisst dieser Operator Inverse-Operator. Der Inverse-Operator ist so etwas wie das direkte Gegenmittel, es macht eine vorangehende Operation zunichte, stellt einen frueheren Zustand wieder her. Entschuldige ich mich bei meiner Frau, weil ich sie verletzt habe, und hellt sich ihr Befinden und ihr Verhalten mir gegenueber auf, so hat die Entschuldigung den Charakter eines Inversen-Operators. Strafe hat die Funktion eines Inverse-Operators, indem sie Schuld tilgen soll. Die Bezahlung (Geld, Dankeschön, Gegenleistung) ist die inverse Operation fuer den Erhalt einer Ware oder Leistung. Eine wirkungsvolle Therapie ist der Inverse-Operator zu Krankheit oder Symptom. Die Inverse kann sich bei unheilbaren Krankheiten oder Behinderungen auch auf Lindern oder Bessern beziehen, auch wenn die Kernkrankheit nicht reversibel ist. Existiert eine Inverse, heißt ein Zustand reversibel. In der Krankheitslehre setzt Suchen nach einer Inversen den Glauben an Reversibilitaet voraus, oder, gewoehnlich formuliert: den Glauben an ein Heilmittel oder an eine Therapie. Haelt man eine Inverse des Todes fuer moeglich, glaubt man an ein Weiterleben nach dem Tode. Bewirkt eine Plus oder eine Minus-Operation keine Veraenderung bezueglich eines Kriteriums, so heißt dieser Operator Null-Operator fuer dieses Kriterium. Die Ermahnung in der Erziehung hat oft den Charakter eines Null-Operators, weil sie wirkungslos verpufft. Einsicht in seine Symptomatik stellt sich oft als Null-Operator heraus, weil sie die Symptomatik nicht verändert. Wirkungslose Therapiemethoden entsprechen daher dem Null-Operator. Schädliche Therapien wirken je nach Perspektive als Plus-Operator (wenn sie Leid vermehren) oder als Minus-Operator (wenn sie Gesundheit weiter reduzieren).
Gibt es zu einem Folgezustand eine Inverse, so bedeutet das Zusammenbringen Folgezustand + Inverse den Ursprungszustand. Das ist gleichbedeutend als haette man mit dem Ursprungszustand eine Null-Operation durchgefuehrt. Essen ist die Inverse zum Hunger bezüglich des Ursprungszustandes Satt. Befriedigen ist die Inverse zum Zustand Beduerfnisdeprivation bezüglich des Ursprungszustandes Zufriedenheit. Veränderung, der Wandel von einem Zustand in einen anderen, braucht Zeit. Der Prozess vom Anstoss zu einer Erkrankung bis zu ihrem manifesten Ausbruch heisst in derallgemeinen Krankheitslehre Inkubationszeit. Veraenderungen brauchen nicht nur Zeit, sondern teilweiseauch Energie4) und sie haben eine Richtung, nicht unbedingt ein Ziel, da zahlreiche Veraenderungen gar nicht bewusst oder unbewußt gewollt werden, sondern sich unter den Wirkungen der Umgebung einstellen. So mag sich ein Mensch durchaus veraendern, ohne dass er es merkt. Und wir verändern uns auch staendig, obwohl unser Identitätsgefühl gleich bleibt. Tut es das nicht, liegt im allgemeinen eine Störung vor. Das ist gleich doppelt paradox. Obwohl ich mich dauernd verändere, verändert sich mein Identitätsgefühl nicht. Und wenn es sich veränderte, gaelte es als Störung! Dies legt nahe, dass Identität eine Metakategorie repräsentiert.
Betrachten wir nicht den Veraenderungsprozess, sondern die Zustaende von Systemen vor und nach einem Wandel, so ist die allgemeinste Beschreibung fuer den Zustand Z2 nach einer Plus-Operation an Z1 ein MEHR und nach einer Minus-Operation ein WENIGER. Dies kann nun nicht nur auf beliebige Qualitäten, sondern auch auf Quantitäten angewendet werden. Ist die Quantität eine Intensität oder Stärke, dann bedeutet eine quantitative Veränderung eine Zunahme der Intensität, etwa die Staerke einer Angst nimmt zu. Umgekehrt durch beruhigende Maßnahmen, Konfrontieren und durchhalten oder abwarten und aushalten sinkt die Angst irgendwann, die Intensität verliert an Quantität. So kann ein Plus oder ein Minus zu jedem Quantor gedacht werden. Wir wollen das nun in der Übersicht betrachten:
Ein Impulsdurchbruch (Zwangsimpuls, Angstanfall, Verlust der Beherrschung, Suchtimpuls) ereignet sich so schnell, da es keine Gelegenheit zum Eingreifen zu geben scheint. Das Heilmittel der ersten Wahl zur Kontrolle wäre so etwas wie Zeitdehnung, Verlängerung des Intervalls zwischen Spüren, daß der Impuls naht und einer zunaechst rein zeitlichen Möglichkeit, einzugreifen (Geschwindigkeits_Quantor).
Wir sind nun in der Lage, formal und modellhaft die meisten und relativ beliebige Störungen ziemlich genau beschreiben zu können.
Konkretisierung
der Quantoren-Hilfsbegriffe am klinischen Beispiel maniforme und depressive
Prozesse: Als ein wesenliches Charakteristikum maniformer Prozesse euphorischen
Typs koennen wir den
Geschwindigkeits_Quantor_gesteigert für
Psychische_Grundfunktionen wie z. B. denken ("Ideenflucht"), Bewusstseinsinhalte,
Beduerfnisimpulse in der Bedeutung gesteigerte Geschwindigkeit annehmen.
Für das Gegenbild der Depression hingegen gilt der Geschwindigkeits_Quantor_verlangsamt.
Weiter ist typisch fuer Maniforme der Mengen_Quantor_positive_Gefuehle_erhöht
und für die Depressiven der Mengen_Quantor_positive_Gefühle_gesenkt.
Fuer die Maniformen gilt weiter Intensitäts_Quantor_positive_Gefuehle_erhöht
und für die Depressiven Intensitäts_Quantor_negative_Gefühle_erhöht.
Bei bestimmten depressiven Erscheinungsbildern gilt auch Intensitäts_Quantor_Gefühle_extrem_niedrig
mit der Anmutung "versteinert" als ob der gesamte affektive Apparat "abgeschaltet"
wäre. Das koennte eine Vorsichtsmassnahme "der Natur" sein,
um zu verhindern, da der
Depressive von einem "Staudammbruch negativer Gefuehle überflutet"
wird. Negativismus, Zweifel- und Grübelsucht, Interesselosigkeit,
Antriebslosigkeit, Schwächegefuehl, Sinnlosigkeits- und Leere-Erleben
sind weitere mögliche mehr oder minder stark ausgeprägte
Symptome, die mit Hilfe der Quantoren
beschrieben werden können.
System-Funktions-Regeln & GIPT-Systemik
Funktionen, Funktionseinheiten,
Systeme stehen zu anderen Funktionen, Funktionseinheiten oder Systemen,
ihren oder anderen Umgebungen in Beziehung. Kommen A und B zusammen, so
entsteht etwas voellig Neues: Die Beziehung
AB. AB ist nicht A und AB ist nicht B, es ist etwas eigenes,
z. B. eine Partner-, eine Elter-,
eine Geschaefts- oder eine PatientIn-PsychotherapeutIn-Beziehung.
Diese Beziehungen funktionieren teilweise zufällig, chaotisch, aber auch nach identifizierbaren Regeln5) in Abhängigkeit von Kontexten (= Situations- und Rahmenbedingungen als auch den jeweiligen Zwecken und Zielen, die die Interagierenden verfolgen). Menschen und ihre Störungen können unter diesem Aspekt ihrer Beziehungen zu ihrer Umgebung betrachtet werden. Eine Störung eines Individuums kann also als Folge oder als ein Produkt seines Ökosozialsystems verstanden werden. Und es scheint in nicht wenigen solchen Fällen nuetzlich, um eine solche ökosoziale Produkt-Störung zu beseitigen, wenigstens das ganze Ökosozialsystem mental und therapieplanmässig zu beruecksichtigen oder auch mit einigen Subsystemen realiter zu arbeiten (Familientherapie). Um die störungsrelevanten Regeln eines Oekosozialsystems herauszufinden, muss man es sorgfältig studieren, bestimmte Reaktionen hervorrufen und eine System- und Beziehungsdiagnostik entwickeln, was weit über den Horizont der traditionellen Diagnosesysteme ICD, DSM oder AMDP hinausgeht. In der GIPT sind wir um die Entwicklung einer Beziehungs-, Ökosozialsystem- und Regeldiagnostik bemueht. Hierbei koennen wir auf die traditionellen Interaktionssysteme (z. B. Bales), sozialpsychologische Kategorien und Forschungen,Beziehungsdiagnostik aus der Partnertherapie und die Arbeiten der Kommunikationstherapie (Watzlawick et al.), der Familientherapie und der SystemikerInnen zurueckgreifen.6)