Forensik um die Zeit 1870-1895
von Rudolf Sponsel, Erlangen (Querverweise)
Krafft-Ebing1892 Krafft_Ebing1881Centralblatt Sommer: Methode Zusammenfassung
|
Krafft-Ebings
Lehrbuch der Gerichtlichen Psychopathologie
Der bekannteste und mit seinen Lehrbüchern verbreitetste
psychopathologisch forensische Gutachter der Zeit zwischen 1875
und 1895 war Richard von Krafft-Ebing (1840-1903, Kurzbiographie).
Seine Bücher erreichten viele Auflagen. Ich habe den Nachdruck
von 1900 der Dritten Auflage, Zweite Ausgabe mit dem Stand von 1892
einsehen können: Das umfangreiche Lehrbuch umfaßt 523 Seiten
in 16 Kapiteln zum Buch I Die Beziehungen zum Criminalrecht (S.
1-415) und 8 Kapitel im Buch II. Die Beziehungen zum Civilrecht (S.
416-478) und einen Anhang: Die Beziehungen zum Verwaltungs- und Polizeirecht
(S. 479-523). Das Buch enthält kein Register. Ein gesondert ausgewiesenes
Kapitel zur Methodik der Begutachtung konnte ich nicht finden. Im 2. Kapitel
des zweiten Buchs Das Entmündigungsverfahren führt der
Autor aber aus (S. 435):
|
Redaktioneller Hinweis: Die in der Originalarbeit gesperrt gedruckten Stellen sind hier fett gedruckt.
Aus Buch I "Cap. IV. Stellung und Aufgabe des ärztlichen Technikers im Criminalforum" [1881 Persönliche Exploration notwendig]
[>S.22] "In den äusserst häufigen Fällen
dagegen, wo die freie Willensbestimmung durch innere organische Momente
in Frage gestellt erscheint, bedarf er zur Ermittlung des subjektiven Thatbestandes
der Mitwirkung des ärztlichen Technikers. Die Erkenntniss, dass diese
inneren organischen Momente gleichbedeutend sind mit krankhaften Zuständen
des Gehirns, fordert logischerweise diese Intervention des ärztlichen
Sachverständigen.
Recht und Pflicht der Medicin in solchen Fragen
zweifelhafter geistiger Gesundheit ihr Votum abzugeben ist von der heutigen
Gesetzgebung anerkannt und geregelt.
Der ärztliche Sachverständige ist bei
der Erfüllung dieser Aufgabe weder Zeuge noch Gehilfe des Richters.
Er ist nicht Zeuge, [>S.23] da er nicht bloss Sinneswahrnehmungen berichtet,
sondern aus einer Reihe solcher Thatsachen wissenschaftliche Schlüsse
zieht und den Richter über die Bedeutung jener belehrt. Er ist nicht
Gehilfe des Richters, da er weder die Schuld noch die Strafe der Angeklagten
mit zu ermessen hat.
Nicht Zurechnungsfähigkeit noch Willensfreiheit,
sondern die Feststellung der Geistesgesundheit oder Krankheit durch eine
wissenschaftliche Untersuchung ist seine Aufgabe.
Als subjektives Erforderniss für eine befriedigende
Expertise ergibt sich die eigentlich selbstverständliche aber in praxi
keineswegs immer erfüllte Forderung einer gründlichen psychiatrischen
Bildung des Experten. Dank der bedauerlichen Vernachlässigung des
psychiatrischen Studiums auf Universitäten besitzt diese Ausbildung
nicht jeder Gerichtsarzt. Nur das längere Studium der Psychiatrie
in der Irrenanstalt oder psychiatrischen Klinik vermag sie zu verschaffen.
Theoretisches Studium reicht bei einer so eminent praktischen und auf Beobachtung
gegründeten Wissenschaft wie sie die gerichtliche Psychopathologie
darstellt, nicht aus.
Als objektive Erfordernisse ergeben sich genügende
Zeit, passender Ort und ausreichende Mittel für die Beobachtung des
zweifelhaften Geisteszustands. Die Forderung ausreichender
Zeit
ist durch die meist erforderliche Umfänglichkeit der Vorerhebungen
über die Person des Exploranden, die in der Regel in ganz ungenügender
Weise auf dessen Leumund und etwaige Vorbestrafungen sich beschränken
und die anthropologische Seite der Persönlichkeit unerörtert
liessen, motivirt; nicht minder durch die Häufigkeit zeitweiser Latenz
des Irreseins, durch periodische Wiederkehr von Anfällen, durch die
Möglichkeit von Simulation, Dissimulation etc. Es können Monate
erforderlich sein, bis der Experte im Stande ist, ein entscheidendes Gutachten
abzugeben. Nur selten und bei gut charakterisirten Formen von Irrsein wird
ein solches prima vista möglich werden.
Ein einsichtsvoller Richter wird diese im Gegenstand
der Untersuchung begründeten Schwierigkeiten begreifen, den Techniker
nicht drängen, einer weiteren Beobachtungszeit und eventuellen Ueberführung
des zu Beobachtenden in ein geeignetes Lokal (Irrenanstalt, Krankenhaus)
sich nicht widersetzen. Ganz zu missbilligen ist die Berufung des Sachverständigen
erst im Lauf der Hauptverhandlung und die Forderung, dass er sein Gutachten
erst im Termin, ohne Kenntniss der Lebensgeschichte und Vorakten abgebe.
[>S.24]
Aerzte, die auf ein solches Verlangen eingehen,
handeln unvorsichtig. Es ist jedenfalls ehrenvoller in solchem Falle sein
Parere in suspenso zu lassen und fernere Beobachtung und Vertagung verlangen
als durch ein Apercu glänzen zu wollen. Der Fall Chorinsky liefert
hiefür ein warnendes Beispiel.
Nicht minder wichtig erscheint ein passender Ort
für die Beobachtung. In schwierigeren Fällen (Simulation, Dissimulation,
Ermittlung epileptischer Anfälle u. s. w.) wo eine unausgesetzte Beobachtung
und zwar durch Geübte erforderlich ist, wird die Abgabe in ein Spital
oder in eine Irrenanstalt nicht zu umgehen sein. Die deutsche St.-P.-O.
(§. 81) hat diese letztere vorgesehen. Ob aber für alle Fälle
die gesetzlich zulässige Beobachtungsfrist von 6 Wochen ausreicht,
muss die Erfahrung lehren.
Die Hilfsmittel zur Beurtheilung des Geisteszustandes
ergeben sich aus dem Studium der Akten und der
direkten Exploration
des Beschuldigten.
Die heutige Gesetzgebung sorgt dafür, dass
der Richter dem Experten in seiner oft so schwierigen Aufgabe thunlich
Vorschub leiste, ihm Zweck und Anlass der Untersuchung mittheile, ihm alles
bisherige Aktenmaterial zur Verfügung stelle, dasselbe über Antrag
und Bedarf des Sachverständigen durch neue Zeugeneinvernehmungen und
Thatbestandsuntersuchungen ergänze und jenem, so oft und so lange
er es für nöthig hält, den uneingeschränkten Verkehr
mit dem Exploranden gestatte.
Bei verwickelteren Fällen ist es nöthig,
dass der Experte sich einen Auszug aus den Akten bezüglich der für
seine Zwecke belangreichen Thatsachen und Daten anfertige und sofort den
Untersuchungsrichter um wünschenswerthe oder nothwendige Ergänzungen
der Vita anteacta und Species facti ersuche.
Wie Schlager hervorhob, sind in dem Aktenmaterial
die Anzeigedokumente von grossem Werth, insofern sie vorzüglich über
das unmittelbare Verhalten nach der That und die näheren Umstände
dieser Auskunft geben. Der Zeitpunkt der begangenen That ist sorgfältig
zu ermitteln, damit angeblich vor oder nach derselben beobachtete Erscheinungen
und Umstände zeitlich festgestellt werden können.
Nicht minder wichtig können etwaige Schriftstücke,
Briefe, Tagebücher aus der Zeit der That, sowie die Besichtigung etwa
benutzter Werkzeuge werden. Von Bedeutung ist ferner das Thatbestandsprotokoll,
der die Umstände der Ergreifung enthaltende Einlieferungsrapport,
der erste Befundbericht des Gefängnissarztes, das [>S. 25] Protokoll
über die erste Vernehmung des Gefangenen und die Vergleichung mit
seinen späteren Angaben, der Bericht des Gefangenwärters, die
Akten über Vorleben und etwaige Vorbestrafungen, das Benehmen bei
den Verhören und Confrontationen, wie es das Geberdenprotokoll enthält.
Von erhöhter Wichtigkeit sind diese Momente bei fraglicher transitorischer
Geistesstörung, wo noch die genaueste zeitliche Feststellung der einzelnen
Thatsachen, sowie das Verhalten der Erinnerung des Thäters zu berücksichtigen
sind. Die Angaben der Zeugen, soweit sie nicht sinnlich beobachtete Thatsachen
berichten, sondern ein Urtheil über den Geisteszustand fällen,
sind mit Vorsicht aufzunehmen, da sie als Laien geistig abnorme Zustände
oft verkennen oder übersehen. Mehr Werth haben positive Zeugenaussagen,
aber auch hier ist Vorsicht nöthig, da die Zeugen, zumal Verwandte,
beim Ausgang des Processes interessirt sein können. Auch das Leumundszeugniss
ist mit Vorsicht aufzunehmen, insofern psychopathische Erscheinungen nur
zu leicht vom ethischen Standpunkt aus aufgefasst und falsch beurtheilt
werden.
Im Vorleben sind besonders Erziehung, frühere
Gesundheits- und Lebensverhältnisse, etwa früher erlittene Anfälle
von Nerven- oder Geisteskrankheit, etwa früher verhängte Curatel
zu beachten.
Von grösster Bedeutung ist die persönliche
Exploration des Beschuldigten. Wo sie fehlt (Fakultätsgutachten),
ist nur selten ein sic19982heres Gutachten möglich."
"Von grösster Bedeutung ist die persönliche Exploration des Beschuldigten. Wo sie fehlt (Fakultätsgutachten), ist nur selten ein sicheres Gutachten möglich." |
"Am leichtesten und sichersten ist die Beobachtung
in der Irrenanstalt, wo mehrere Aerzte und erfahrene Wärter zu Gebot
stehen. Ist der Ort der Beobachtung das Gefängniss, so sind die (freilich
nicht immer verlässlichen) Angaben der Mitgefangenen sowie die Wahrnehmungen
des (allerdings meist befangenen und Simulation vermuthenden) Gefangenenaufsehers
zu verwerthen. Empfehlenswerth ist der Vorschlag Schlager's zu Gefangenenaufsehern
in grösseren Gefängnissen erprobte frühere Irrenwärter
zu bestellen.
In allen Stadien des Strafverfahrens kann die Aufgabe
den zweifelhaften oder zweifelhaft gewordenen Geisteszustand eines Angeschuldigten
resp. Angeklagten zu untersuchen an den Sachverständigen herantreten.
Mag die Berufung von irgend welcher Seite ausgehen, nie vergesse der Arzt,
dass er vollkommen unpartheiischer Vertreter einer Wissenschaft und bei
der Schuldfrage und dem Ausgang des Falles ganz unbetheiligt ist."
Der
ärztliche Sachverständige im Entmündigungsverfahren.
[S. 347] "Die Stellung desselben ist die gleiche
wie im Criminalprocess (vgl. p. 20). Die Zuziehung ärztlicher Sachverständiger
in diesem Process ist so wenig zu umgehen, als bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit.
Sie erscheint aber auch nothwendig desshalb, weil der Richter persönlich
in Gegenwart des Angeklagten die Ueberzeugung von dessen _Handlungsunfähigkeit
gewinnen soll, im Allgemeinen aber ungeübt und unfähig sein dürfte,
geeignete Fragen zu thun und damit geeignete Antwort zu erhalten. Das Krankenexamen
namentlich beim Geisteskranken erfordert Uebung und Sachkenntniss. Desshalb
fällt auch in der Regel den Sachverständigen im Termine die Führung
des Colloquium mit dem Exploranden zu.
Wichtig ist die vorgängige Information über
den Zustand des Kranken. So wenig als im Criminalforum ist eine Berufung
Sachverständiger erst zum Termin geeignet, Klarheit über einen
fraglichen Geisteszustand zu verbreiten. Es bedarf hiezu genügender
Zeit der Beobachtung und des genauen Studiums des Vorlebens.
Die eigentliche exploratorische Aufgabe der Sachverständigen
fällt in die Zeit vor dem Termin, der für den Arzt nur noch Formalität
und wesentlich für den Richter da ist, damit dieser eine [>S.348]
persönliche Anschauung von dem Geisteszustand des Provocaten gewinne.
Das Material für die Information bilden die Vorakten und die Informationsbesuche
beim Exploranden. Für die etwa nöthige Ergänzung jener durch
Zeugenaussagen ist der Richter anzugehen Die Angaben der Umgebung und Verwandtschaft
sind oft partheiisch und nicht bona fide hinzunehmen. Dass negative Zeugenaussagen
nichts für Geistesintegrität beweisen, ist selbstverständlich.
Von besonderem Werth ist das Zeugniss des Hausarztes,
ferner die sorgfältige Aufnahme der Anamnese, die Aufschluss über
Gesundheitsverhältnisse, frühere Krankheiten, Lebensumstände,
Charakter and frühere Lebensfahrung gibt. Unerlässlich ist hier
eine synthetische Beurtheilung der Persönlichkeit, die Betrachtung
ihrer Gesammtleistungen, nicht einzelner Akte. Die sorgfältige Würdigung
der früheren Handlungsweise gibt hier werthvolle Winke "apertius porro
significatur dementia ex civilibus actibus" (Zachias).
Bei der veralteten Terminologie der Gesetzgebung
wird die richterliche Fragestellung auf Wahnsinn oder Blödsinn oder
darauf lauten, ob Provokat seiner Vernunft gänzlich beraubt oder unfähig
sei, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Der Sachverstänlige
wird sich so gut als möglich mit diesen Begriffen abzufinden und die
vom Gesetz gebotenen Schablonen dem concreten Fall anzupassen haben. Er
wird erklären, dass Explorat, falls er verrückt oder blödsinnig
im Sinn der Wissenschaft, "wahnsinnig", falls er wahnsinnig oder schwachsinnig
nach wissenschaftlicher Terminologie "blödsinnig" im Sinne des Gesetzbuchs,
sei. Vor Allem aber hat er sich zu bemühen, ein klares Bild des Umfangs
der geistigen Funktionsstörungen zu liefern, die Unsinnigkeit der
Zwecke oder der Mittel oder der Beziehungen beider (Neumann op. cit.) in
helles Licht zu setzen und damit dem Richter, unbeirrt von aller Terminologie,
genügendes Beurtheilungsmaterial zu bieten. Dies dürfte doch
schliesslich der ganze Zweck des Gutachtens sein.
Für den schon durch Vorbesuche informirten
Sachverständigen wird die Abgabe des Gutachtens im Termin selbst keine
Schwierigkeiten bieten, ist er erst zum Termin berufen und erst in diesem
mit dem Provokaten bekannt geworden, so möge er sich hüten vorschnell
zu urtheilen und erst nach dem Termin an die Erstattung eines "motivirten"
Gutachtens gehen."
Sommer (1904, S. 16-25) äußert sich zur (hier Auszug: gesperrt hier fett):
Die Methode der Begutachtung.
Bei der Begutachtung des Geisteszustandes
rechtbrechender Personen handelt es sich um die medizinisch-psychologische
Aufgabe, den gesamten körperlichen und geistigen Zustand eines Menschen
zu prüfen und besonders zu untersuchen, wie die kriminelle Handlung
mit der Gesamtbeschaffenheit desselben unter Berücksichtigung ihrer
äußeren Bedingungen zusammenhängt.
Es genügt also von diesem Standpunkt aus nicht,
bloß die Frage zu beantworten, ob deutliche Symptome von Geistesstörung
vorhanden sind, sondern die wissenschaftliche Kriminalpsychologie und Psychopathologie
muß die Gesamtheit der persönlichen Eigenschaften eines Menschen
zu erforschen suchen, wenn sie zu einer wirklichen Erkenntnis der Entstehung
einer kriminellen Handlung gelangen will.
Und selbst wenn man im einzelnen Falle sich bloß
mit der Feststellung begnügen wollte, daß Symptome von Geistesstörung
vorliegen, so erfordert auch diese beschränkte Aufgabe stets eine
genaue persönliche Untersuchung."
"Und selbst wenn man im einzelnen Falle sich bloß mit der Feststellung begnügen wollte, daß Symptome von Geistesstörung vorliegen, so erfordert auch diese beschränkte Aufgabe stets eine genaue persönliche Untersuchung." |
"Daher müssen vor allem gegen das Verlangen,
Geisteszustände lediglich aus den Akten zu beurteilen, welches manchmal
an den Psychiater herantritt, Bedenken erhoben werden, ebenso wie gegen
die Ausführung derartiger Begutachtungen von ärztlicher
Seite. Dabei soll der Wert des Studiums der Akten in keiner Weise
bezweifelt werden. Dasselbe erlaubt vielmehr häufig, die psychiatrische
Fragestellung in bestimmter Richtung zu entwickeln und die wesentlichen
Punkte eines Falles von vornherein hervorzuheben. Aber dasselbe darf niemals
aus einem Hilfsmittel der Untersuchung zur einzigen Erkenntnisquelle
werden. Oft wird bei einer ganz unklaren Lage der Akten durch eine einzige
genaue Untersuchung Licht in die pathologischen Voraussetzungen einer Handlung
gebracht, z. B. durch die bestimmte Diagnose auf fortschreitende Hirn-Paralyse;
oft bekommen Züge, die in Zeugenaussagen nur wenig hervortreten,
durch die Untersuchung eine wesentliche Bedeutung. Kurz bei aller Schätzung
des Wertes genauer Aktenkunde ist die persönliche Untersuchung
unerläßliche Bedingung für ein Gutachten, welches den Wert
einer wissenschaftlichen Bekundung haben soll.
Gegen diese einfachen Regeln wird im Gerichtsverfahren
nur allzuoft verstoßen. Wenige Tage vor der Verhandlung erhält
der [>17] psychiatrische Gutachter plötzlich eine Vorladung zu einer
Sache, über die er noch nicht das Mindeste weiß, während
eine Vorbereitung des Gutachtens durch persönliche Untersuchung, oder
auch nur durch Aktenstudium, welches zwar an sich unzureichend erscheint,
aber wenigstens eine Orientierung über die äußeren Vorgänge
bei der Handlung ermöglichen würde, ausgeschlossen ist.
Jeder besonnene Gutachter muß in einem solchen Falle, wenn Einweisung
in die Anstalt unmöglich ist, zum mindesten Akteneinsicht und
wenigstens einmalige Untersuchung des Angeklagten verlangen, und
soll, falls dieses Verlangen abgelehnt wird, bei Abgabe des Gutachtens,
das lediglich nach dem Eindruck der Verhandlung abgegeben wird, selbst
auf die mangelnde Voraussetzung einer genauen Untersuchung hinweisen. Er
wird durch diese Klarstellung der Bedingungen eines Gutachtens der forensischen
Psychiatrie mehr nützen als durch den Anschein positiver Sicherheit
und Unfehlbarkeit bei Mangel an genauer Untersuchung. Diese Warnung ist
umsomehr am Platze, als die gleichen juristischen Persönlichkeiten,
welche die Überrumpelung des Sachverständigen veranlaßt
oder geduldet haben, sehr leicht damit zur Hand sind, das psychiatrische
Gutachten als haltlos hinzustellen, sobald der Inhalt desselben den Verteidigungs-
oder Anklagezwecken zuwiderläuft. Die besonnene Zurückhaltung
im Urteil unter kritischer Erwägung der Untersuchungsbedingungen
ist jedem Sachverständigen dringend zu empfehlen, andrerseits ist
es eine Pflicht der bei dem Strafprozeß beteiligten juristischen
Vertreter dem Psychiater die nötigen Grundlagen zur Bildung
seines Urteils nach besten Kräften zu bieten, wozu hauptsächlich
der § 81 der Strafprozeßordnung die Möglichkeit gibt.
Als Beispiel einer psychiatrischen Abwehr gebe ich
folgendes Schreiben an das Amtsgericht in X. vom 25. November 1895:
"Auf die Vorladung als Sachverständiger in
Sachen M. in C. erwidere ich ergebenst Folgendes: Die gestellte Frage:
'Ob der Beklagte zur Zeit der Klageerhebung — 19. November 1893 — geisteskrank
gewesen ist und noch geisteskrank ist', läßt sich nur nach einer
Beobachtung in einer psychiatrischen Anstalt richtig beantworten. Da die
hiesige psychiatrische Klinik noch nicht eröffnet ist, empfehle ich
diese Beobachtung in der Irrenanstalt in J. ausführen zu lassen. Falls
die Begutachtung bis nach dem 1. März 1896 hinausgeschoben werden
könnte, würde ich voraussichtlich imstande sein, den Angeklagten
in die Klinik aufzunehmen. Ich bitte aus obigem Grunde, vorläufig
bis zur Eröffnung derselben von meiner Zuziehung als Sachverständiger
Abstand zu nehmen."
Soweit Sommer. Halten wird fest: Sommer hält
im Jahre 1904 eine genaue persönliche Untersuchung für unverzichtbar
und damit für notwendig.
Es kann als allgemeiner medizinischer Grundsatz gelten, daß eine Diagnose, noch dazu in einem Fall von möglicher oder drohender Entmündigung, eine genaue persönliche Untersuchung und Beobachtung erfordert und nicht allein auf Kenntnis von Akten oder fremdanamnestischen Angaben erfolgen kann und darf. |