Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPT DAS=25.08.2001 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 14.03.15
    Impressum: Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20  D-91052 Erlangen
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    Willkommen in der Abteilung Medizinische Psychosomatik, Psychopathologie und Psychiatrie, hier zum Thema zur Geschichte der Grundsätze psychiatrisch-forensischer Begutachtung, hier nun:

    Forensik um die Zeit 1870-1895

    von Rudolf Sponsel, Erlangen  (Querverweise)

    Krafft-Ebing1892 Krafft_Ebing1881Centralblatt Sommer: Methode   Zusammenfassung


     
    Zur Beachtung: Eine faire wissenschaftliche Bewertung eines zeitlich länger zurückliegenden Gutachtens muß streng trennen zwischen dem damaligen und dem heutigen Stand des Wissens  u n d  der Methodologie. Bei historischen Arbeiten ist zusätzlich grundsätzlich die Zuverlässigkeit einer Quelle zu prüfen; Quellenangaben sind natürlich selbstverständlich.

    Speziell zum Komplex Entmündigung Ludwigs II., König von Bayern: 
    Hierzu Hagen 1870 (Fixe Ideen) und Kraepelin 1883 Compendium
    und zur Kritik Das Gutachten aus heutiger Sicht
    Speziell zum Problem der Geschäfts-un-fähigkeit aus heutiger Sicht
    (mit zahlreichen Auszügen aus obergerichtlichen Urteilen)

     
    Allgemeine Information zum Thema: Die Verantwortlichkeit hat mehrere juristische Aspekte, die zwar im psychologisch- psychopathologischen Sachverhalt das Gleiche bedeuten, juristisch aber unterschiedlich gehandhabt werden. Im wesentlichen wird heute wie früher zwischen Zivilrecht und Strafrecht unterschieden. Was im Zivilrecht Geschäftsunfähigkeit heißt, wird im Strafrecht unter Schuldunfähigkeit bezeichnet. Im Strafrecht liegt die Beweislast (Beweispflicht) beim Staatsanwalt, im Zivilrecht beim interessegeleiteten Antragsteller: wer etwas will und begehrt, muß beweisen. 
    In dieses Gebiet reicht - heute - auch noch die Frage der Deliktfähigkeit und Delikthaftung bei Kindern und Jugendlichen. Die Methodik und Aufgabe ist bei allen drei Fragestellungen im Prinzip gleich. Daher können im Prinzip auch die verschiedenen Arbeiten zur Auskunft über die Methoden herangezogen werden.

    Krafft-Ebings Lehrbuch der Gerichtlichen Psychopathologie
    Der bekannteste und mit seinen Lehrbüchern verbreitetste psychopathologisch forensische Gutachter der Zeit zwischen 1875 und 1895 war Richard von Krafft-Ebing (1840-1903, Kurzbiographie). Seine Bücher erreichten viele Auflagen. Ich habe den Nachdruck von 1900 der Dritten Auflage, Zweite Ausgabe mit dem Stand von 1892 einsehen können: Das umfangreiche Lehrbuch umfaßt 523 Seiten in 16 Kapiteln zum Buch I Die Beziehungen zum Criminalrecht (S. 1-415) und 8 Kapitel im Buch II. Die Beziehungen zum Civilrecht (S. 416-478) und einen Anhang: Die Beziehungen zum Verwaltungs- und Polizeirecht (S. 479-523). Das Buch enthält kein Register. Ein gesondert ausgewiesenes Kapitel zur Methodik der Begutachtung konnte ich nicht finden. Im 2. Kapitel des zweiten Buchs Das Entmündigungsverfahren führt der Autor aber aus (S. 435):
     
     

          "Wichtig ist die vorgängige Information über den Zustand des Kranken. So wenig als im Criminalforum ist eine Berufung Sachverständiger erst zum Termin geeignet, Klarheit über einen fraglichen Geisteszustand zu verbreiten. Es bedarf hiezu genügender Zeit der Beobachtung und des genauen Studiums des Vorlebens.
       
      "Es bedarf hiezu genügender Zeit der Beobachtung"



          Die eigentliche exploratorische Aufgabe der Sachverständigen fällt in die Zeit vor dem Termin, der für den Arzt nur noch Formalität und wesentlich für den Richter dazu da ist, damit dieser eine persönliche Anschauung von dem Geisteszustand des Provokaten gewinne. Das Material für die Information bilden die Vorakten und die Informationsbesuche beim Exploranden. Für die etwa nöthige Ergänzung jener durch Zeugenaussagen ist der Richter anzugehen. Die Angaben der Umgebung und der Verwandtschaft sind oft parteiisch und nicht bona fide hinzunehmen. Dass negative Zeugenaussagen nichts für Geistesintegrität beweisen, ist selbstverständlich.
          Von besonderem Werth ist das Zeugniss des Hausarztes, ferner die sorgfältige Aufnahme der Anamnese, die Aufschluss über Gesundheitsverhältnisse, frühere Krankheiten, Lebensumstände, Charakter und frühere Lebensführung gibt. Unerlässlich ist hier eine synthetische Beurtheilung der Persönlichkeit, die Betrachtung ihrer Gesammtleistungen, nicht einzelner Akte. Die sorgfältige Würdigung der früheren Handlungsweise gibt hier werthvolle Winke "apertius porro significatur dementia ex civilibus actibus" (Zachias)."


    Krafft-Ebing 1881 Lehrbuch der Gerichtlichen Psychologie 2. umgearbeitete Auflage der ersten von 1875.

     Redaktioneller Hinweis: Die in der Originalarbeit gesperrt gedruckten Stellen sind hier fett gedruckt.

    Aus Buch I "Cap. IV. Stellung und Aufgabe des ärztlichen Technikers im Criminalforum"  [1881 Persönliche Exploration notwendig]

        [>S.22] "In den äusserst häufigen Fällen dagegen, wo die freie Willensbestimmung durch innere organische Momente in Frage gestellt erscheint, bedarf er zur Ermittlung des subjektiven Thatbestandes der Mitwirkung des ärztlichen Technikers. Die Erkenntniss, dass diese inneren organischen Momente gleichbedeutend sind mit krankhaften Zuständen des Gehirns, fordert logischerweise diese Intervention des ärztlichen Sachverständigen.
        Recht und Pflicht der Medicin in solchen Fragen zweifelhafter geistiger Gesundheit ihr Votum abzugeben ist von der heutigen Gesetzgebung anerkannt und geregelt.
        Der ärztliche Sachverständige ist bei der Erfüllung dieser Aufgabe weder Zeuge noch Gehilfe des Richters. Er ist nicht Zeuge, [>S.23] da er nicht bloss Sinneswahrnehmungen berichtet, sondern aus einer Reihe solcher Thatsachen wissenschaftliche Schlüsse zieht und den Richter über die Bedeutung jener belehrt. Er ist nicht Gehilfe des Richters, da er weder die Schuld noch die Strafe der Angeklagten mit zu ermessen hat.
        Nicht Zurechnungsfähigkeit noch Willensfreiheit, sondern die Feststellung der Geistesgesundheit oder Krankheit durch eine wissenschaftliche Untersuchung ist seine Aufgabe.
        Als subjektives Erforderniss für eine befriedigende Expertise ergibt sich die eigentlich selbstverständliche aber in praxi keineswegs immer erfüllte Forderung einer gründlichen psychiatrischen Bildung des Experten. Dank der bedauerlichen Vernachlässigung des psychiatrischen Studiums auf Universitäten besitzt diese Ausbildung nicht jeder Gerichtsarzt. Nur das längere Studium der Psychiatrie in der Irrenanstalt oder psychiatrischen Klinik vermag sie zu verschaffen. Theoretisches Studium reicht bei einer so eminent praktischen und auf Beobachtung gegründeten Wissenschaft wie sie die gerichtliche Psychopathologie darstellt, nicht aus.
        Als objektive Erfordernisse ergeben sich genügende Zeit, passender Ort und ausreichende Mittel für die Beobachtung des zweifelhaften Geisteszustands. Die Forderung ausreichender Zeit ist durch die meist erforderliche Umfänglichkeit der Vorerhebungen über die Person des Exploranden, die in der Regel in ganz ungenügender Weise auf dessen Leumund und etwaige Vorbestrafungen sich beschränken und die anthropologische Seite der Persönlichkeit unerörtert liessen, motivirt; nicht minder durch die Häufigkeit zeitweiser Latenz des Irreseins, durch periodische Wiederkehr von Anfällen, durch die Möglichkeit von Simulation, Dissimulation etc. Es können Monate erforderlich sein, bis der Experte im Stande ist, ein entscheidendes Gutachten abzugeben. Nur selten und bei gut charakterisirten Formen von Irrsein wird ein solches prima vista möglich werden.
        Ein einsichtsvoller Richter wird diese im Gegenstand der Untersuchung begründeten Schwierigkeiten begreifen, den Techniker nicht drängen, einer weiteren Beobachtungszeit und eventuellen Ueberführung des zu Beobachtenden in ein geeignetes Lokal (Irrenanstalt, Krankenhaus) sich nicht widersetzen. Ganz zu missbilligen ist die Berufung des Sachverständigen erst im Lauf der Hauptverhandlung und die Forderung, dass er sein Gutachten erst im Termin, ohne Kenntniss der Lebensgeschichte und Vorakten abgebe. [>S.24]
        Aerzte, die auf ein solches Verlangen eingehen, handeln unvorsichtig. Es ist jedenfalls ehrenvoller in solchem Falle sein Parere in suspenso zu lassen und fernere Beobachtung und Vertagung verlangen als durch ein Apercu glänzen zu wollen. Der Fall Chorinsky liefert hiefür ein warnendes Beispiel.
        Nicht minder wichtig erscheint ein passender Ort für die Beobachtung. In schwierigeren Fällen (Simulation, Dissimulation, Ermittlung epileptischer Anfälle u. s. w.) wo eine unausgesetzte Beobachtung und zwar durch Geübte erforderlich ist, wird die Abgabe in ein Spital oder in eine Irrenanstalt nicht zu umgehen sein. Die deutsche St.-P.-O. (§. 81) hat diese letztere vorgesehen. Ob aber für alle Fälle die gesetzlich zulässige Beobachtungsfrist von 6 Wochen ausreicht, muss die Erfahrung lehren.
        Die Hilfsmittel zur Beurtheilung des Geisteszustandes ergeben sich aus dem Studium der Akten und der direkten Exploration des Beschuldigten.
        Die heutige Gesetzgebung sorgt dafür, dass der Richter dem Experten in seiner oft so schwierigen Aufgabe thunlich Vorschub leiste, ihm Zweck und Anlass der Untersuchung mittheile, ihm alles bisherige Aktenmaterial zur Verfügung stelle, dasselbe über Antrag und Bedarf des Sachverständigen durch neue Zeugeneinvernehmungen und Thatbestandsuntersuchungen ergänze und jenem, so oft und so lange er es für nöthig hält, den uneingeschränkten Verkehr mit dem Exploranden gestatte.
        Bei verwickelteren Fällen ist es nöthig, dass der Experte sich einen Auszug aus den Akten bezüglich der für seine Zwecke belangreichen Thatsachen und Daten anfertige und sofort den Untersuchungsrichter um wünschenswerthe oder nothwendige Ergänzungen der Vita anteacta und Species facti ersuche.
        Wie Schlager hervorhob, sind in dem Aktenmaterial die Anzeigedokumente von grossem Werth, insofern sie vorzüglich über das unmittelbare Verhalten nach der That und die näheren Umstände dieser Auskunft geben. Der Zeitpunkt der begangenen That ist sorgfältig zu ermitteln, damit angeblich vor oder nach derselben beobachtete Erscheinungen und Umstände zeitlich festgestellt werden können.
        Nicht minder wichtig können etwaige Schriftstücke, Briefe, Tagebücher aus der Zeit der That, sowie die Besichtigung etwa benutzter Werkzeuge werden. Von Bedeutung ist ferner das Thatbestandsprotokoll, der die Umstände der Ergreifung enthaltende Einlieferungsrapport, der erste Befundbericht des Gefängnissarztes, das [>S. 25] Protokoll über die erste Vernehmung des Gefangenen und die Vergleichung mit seinen späteren Angaben, der Bericht des Gefangenwärters, die Akten über Vorleben und etwaige Vorbestrafungen, das Benehmen bei den Verhören und Confrontationen, wie es das Geberdenprotokoll enthält. Von erhöhter Wichtigkeit sind diese Momente bei fraglicher transitorischer Geistesstörung, wo noch die genaueste zeitliche Feststellung der einzelnen Thatsachen, sowie das Verhalten der Erinnerung des Thäters zu berücksichtigen sind. Die Angaben der Zeugen, soweit sie nicht sinnlich beobachtete Thatsachen berichten, sondern ein Urtheil über den Geisteszustand fällen, sind mit Vorsicht aufzunehmen, da sie als Laien geistig abnorme Zustände oft verkennen oder übersehen. Mehr Werth haben positive Zeugenaussagen, aber auch hier ist Vorsicht nöthig, da die Zeugen, zumal Verwandte, beim Ausgang des Processes interessirt sein können. Auch das Leumundszeugniss ist mit Vorsicht aufzunehmen, insofern psychopathische Erscheinungen nur zu leicht vom ethischen Standpunkt aus aufgefasst und falsch beurtheilt werden.
        Im Vorleben sind besonders Erziehung, frühere Gesundheits- und Lebensverhältnisse, etwa früher erlittene Anfälle von Nerven- oder Geisteskrankheit, etwa früher verhängte Curatel zu beachten.
        Von grösster Bedeutung ist die persönliche Exploration des Beschuldigten. Wo sie fehlt (Fakultätsgutachten), ist nur selten ein sic19982heres Gutachten möglich."

    Persönliche Exploration notwendig


    "Von grösster Bedeutung ist die persönliche Exploration des Beschuldigten. Wo sie fehlt (Fakultätsgutachten), ist nur selten ein sicheres Gutachten möglich."

        "Am leichtesten und sichersten ist die Beobachtung in der Irrenanstalt, wo mehrere Aerzte und erfahrene Wärter zu Gebot stehen. Ist der Ort der Beobachtung das Gefängniss, so sind die (freilich nicht immer verlässlichen) Angaben der Mitgefangenen sowie die Wahrnehmungen des (allerdings meist befangenen und Simulation vermuthenden) Gefangenenaufsehers zu verwerthen. Empfehlenswerth ist der Vorschlag Schlager's zu Gefangenenaufsehern in grösseren Gefängnissen erprobte frühere Irrenwärter zu bestellen.
        In allen Stadien des Strafverfahrens kann die Aufgabe den zweifelhaften oder zweifelhaft gewordenen Geisteszustand eines Angeschuldigten resp. Angeklagten zu untersuchen an den Sachverständigen herantreten. Mag die Berufung von irgend welcher Seite ausgehen, nie vergesse der Arzt, dass er vollkommen unpartheiischer Vertreter einer Wissenschaft und bei der Schuldfrage und dem Ausgang des Falles ganz unbetheiligt ist."

    *
    aus: Buch II. Cap. II.

    Der ärztliche Sachverständige im Entmündigungsverfahren.
        [S. 347] "Die Stellung desselben ist die gleiche wie im Criminalprocess (vgl. p. 20). Die Zuziehung ärztlicher Sachverständiger in diesem Process ist so wenig zu umgehen, als bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit. Sie erscheint aber auch nothwendig desshalb, weil der Richter persönlich in Gegenwart des Angeklagten die Ueberzeugung von dessen _Handlungsunfähigkeit gewinnen soll, im Allgemeinen aber ungeübt und unfähig sein dürfte, geeignete Fragen zu thun und damit geeignete Antwort zu erhalten. Das Krankenexamen namentlich beim Geisteskranken erfordert Uebung und Sachkenntniss. Desshalb fällt auch in der Regel den Sachverständigen im Termine die Führung des Colloquium mit dem Exploranden zu.
        Wichtig ist die vorgängige Information über den Zustand des Kranken. So wenig als im Criminalforum ist eine Berufung Sachverständiger erst zum Termin geeignet, Klarheit über einen fraglichen Geisteszustand zu verbreiten. Es bedarf hiezu genügender Zeit der Beobachtung und des genauen Studiums des Vorlebens.
        Die eigentliche exploratorische Aufgabe der Sachverständigen fällt in die Zeit vor dem Termin, der für den Arzt nur noch Formalität und wesentlich für den Richter da ist, damit dieser eine [>S.348] persönliche Anschauung von dem Geisteszustand des Provocaten gewinne. Das Material für die Information bilden die Vorakten und die Informationsbesuche beim Exploranden. Für die etwa nöthige Ergänzung jener durch Zeugenaussagen ist der Richter anzugehen Die Angaben der Umgebung und Verwandtschaft sind oft partheiisch und nicht bona fide hinzunehmen. Dass negative Zeugenaussagen nichts für Geistesintegrität beweisen, ist selbstverständlich.
        Von besonderem Werth ist das Zeugniss des Hausarztes, ferner die sorgfältige Aufnahme der Anamnese, die Aufschluss über Gesundheitsverhältnisse, frühere Krankheiten, Lebensumstände, Charakter and frühere Lebensfahrung gibt. Unerlässlich ist hier eine synthetische Beurtheilung der Persönlichkeit, die Betrachtung ihrer Gesammtleistungen, nicht einzelner Akte. Die sorgfältige Würdigung der früheren Handlungsweise gibt hier werthvolle Winke "apertius porro significatur dementia ex civilibus actibus" (Zachias).
        Bei der veralteten Terminologie der Gesetzgebung wird die richterliche Fragestellung auf Wahnsinn oder Blödsinn oder darauf lauten, ob Provokat seiner Vernunft gänzlich beraubt oder unfähig sei, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen. Der Sachverstänlige wird sich so gut als möglich mit diesen Begriffen abzufinden und die vom Gesetz gebotenen Schablonen dem concreten Fall anzupassen haben. Er wird erklären, dass Explorat, falls er verrückt oder blödsinnig im Sinn der Wissenschaft, "wahnsinnig", falls er wahnsinnig oder schwachsinnig nach wissenschaftlicher Terminologie "blödsinnig" im Sinne des Gesetzbuchs, sei. Vor Allem aber hat er sich zu bemühen, ein klares Bild des Umfangs der geistigen Funktionsstörungen zu liefern, die Unsinnigkeit der Zwecke oder der Mittel oder der Beziehungen beider (Neumann op. cit.) in helles Licht zu setzen und damit dem Richter, unbeirrt von aller Terminologie, genügendes Beurtheilungsmaterial zu bieten. Dies dürfte doch schliesslich der ganze Zweck des Gutachtens sein.
        Für den schon durch Vorbesuche informirten Sachverständigen wird die Abgabe des Gutachtens im Termin selbst keine Schwierigkeiten bieten, ist er erst zum Termin berufen und erst in diesem mit dem Provokaten bekannt geworden, so möge er sich hüten vorschnell zu urtheilen und erst nach dem Termin an die Erstattung eines "motivirten" Gutachtens gehen."



    Veröffentlichte Gutachten im Centralblatt ...
    Viele psychopathologische Gutachten dieser Zeit sind in der Zeitschrift "Centralblatt für Nervenheilkunde, Psychiatrie und gerichtliche Psychopathologie", herausgegeben von Erlenmeyer mit um 1880 monatlich zwei Nummern, enthalten. Ich habe die Jahrgänge 1880 bis ca. 1890 grob gesichtet und ca. ein Dutzend gerichtlich psychopathologische Gutachten kopiert.

    Sommer (1904, S. 16-25) äußert sich zur (hier Auszug: gesperrt hier fett):

    Die Methode der Begutachtung.
        Bei der Begutachtung des Geisteszustandes rechtbrechender Personen handelt es sich um die medizinisch-psychologische Aufgabe, den gesamten körperlichen und geistigen Zustand eines Menschen zu prüfen und besonders zu untersuchen, wie die kriminelle Handlung mit der Gesamtbeschaffenheit desselben unter Berücksichtigung ihrer äußeren Bedingungen zusammenhängt.
        Es genügt also von diesem Standpunkt aus nicht, bloß die Frage zu beantworten, ob deutliche Symptome von Geistesstörung vorhanden sind, sondern die wissenschaftliche Kriminalpsychologie und Psychopathologie muß die Gesamtheit der persönlichen Eigenschaften eines Menschen zu erforschen suchen, wenn sie zu einer wirklichen Erkenntnis der Entstehung einer kriminellen Handlung gelangen will.
        Und selbst wenn man im einzelnen Falle sich bloß mit der Feststellung begnügen wollte, daß Symptome von Geistesstörung vorliegen, so erfordert auch diese beschränkte Aufgabe stets eine genaue persönliche Untersuchung."
     

    "Und selbst wenn man im einzelnen Falle sich bloß mit der Feststellung begnügen wollte, daß Symptome von Geistesstörung vorliegen, so erfordert auch diese beschränkte Aufgabe stets eine genaue persönliche Untersuchung."

        "Daher müssen vor allem gegen das Verlangen, Geisteszustände lediglich aus den Akten zu beurteilen, welches manchmal an den Psychiater herantritt, Bedenken erhoben werden, ebenso wie gegen die Ausführung derartiger Begutachtungen von ärztlicher Seite. Dabei soll der Wert des Studiums der Akten in keiner Weise bezweifelt werden. Dasselbe erlaubt vielmehr häufig, die psychiatrische Fragestellung in bestimmter Richtung zu entwickeln und die wesentlichen Punkte eines Falles von vornherein hervorzuheben. Aber dasselbe darf niemals aus einem Hilfsmittel der Untersuchung zur einzigen Erkenntnisquelle werden. Oft wird bei einer ganz unklaren Lage der Akten durch eine einzige genaue Untersuchung Licht in die pathologischen Voraussetzungen einer Handlung gebracht, z. B. durch die bestimmte Diagnose auf fortschreitende Hirn-Paralyse; oft bekommen Züge, die in Zeugenaussagen nur wenig hervortreten, durch die Untersuchung eine wesentliche Bedeutung. Kurz bei aller Schätzung des Wertes genauer Aktenkunde ist die persönliche Untersuchung unerläßliche Bedingung für ein Gutachten, welches den Wert einer wissenschaftlichen Bekundung haben soll.
        Gegen diese einfachen Regeln wird im Gerichtsverfahren nur allzuoft verstoßen. Wenige Tage vor der Verhandlung erhält der [>17] psychiatrische Gutachter plötzlich eine Vorladung zu einer Sache, über die er noch nicht das Mindeste weiß, während eine Vorbereitung des Gutachtens durch persönliche Untersuchung, oder auch nur durch Aktenstudium, welches zwar an sich unzureichend erscheint, aber wenigstens eine Orientierung über die äußeren Vorgänge bei der Handlung ermöglichen würde, ausgeschlossen ist. Jeder besonnene Gutachter muß in einem solchen Falle, wenn Einweisung in die Anstalt unmöglich ist, zum mindesten Akteneinsicht und wenigstens einmalige Untersuchung des Angeklagten verlangen, und soll, falls dieses Verlangen abgelehnt wird, bei Abgabe des Gutachtens, das lediglich nach dem Eindruck der Verhandlung abgegeben wird, selbst auf die mangelnde Voraussetzung einer genauen Untersuchung hinweisen. Er wird durch diese Klarstellung der Bedingungen eines Gutachtens der forensischen Psychiatrie mehr nützen als durch den Anschein positiver Sicherheit und Unfehlbarkeit bei Mangel an genauer Untersuchung. Diese Warnung ist umsomehr am Platze, als die gleichen juristischen Persönlichkeiten, welche die Überrumpelung des Sachverständigen veranlaßt oder geduldet haben, sehr leicht damit zur Hand sind, das psychiatrische Gutachten als haltlos hinzustellen, sobald der Inhalt desselben den Verteidigungs- oder Anklagezwecken zuwiderläuft. Die besonnene Zurückhaltung im Urteil unter kritischer Erwägung der Untersuchungsbedingungen ist jedem Sachverständigen dringend zu empfehlen, andrerseits ist es eine Pflicht der bei dem Strafprozeß beteiligten juristischen Vertreter dem Psychiater die nötigen Grundlagen zur Bildung seines Urteils nach besten Kräften zu bieten, wozu hauptsächlich der § 81 der Strafprozeßordnung die Möglichkeit gibt.
        Als Beispiel einer psychiatrischen Abwehr gebe ich folgendes Schreiben an das Amtsgericht in X. vom 25. November 1895:
        "Auf die Vorladung als Sachverständiger in Sachen M. in C. erwidere ich ergebenst Folgendes: Die gestellte Frage: 'Ob der Beklagte zur Zeit der Klageerhebung — 19. November 1893 — geisteskrank gewesen ist und noch geisteskrank ist', läßt sich nur nach einer Beobachtung in einer psychiatrischen Anstalt richtig beantworten. Da die hiesige psychiatrische Klinik noch nicht eröffnet ist, empfehle ich diese Beobachtung in der Irrenanstalt in J. ausführen zu lassen. Falls die Begutachtung bis nach dem 1. März 1896 hinausgeschoben werden könnte, würde ich voraussichtlich imstande sein, den Angeklagten in die Klinik aufzunehmen. Ich bitte aus obigem Grunde, vorläufig bis zur Eröffnung derselben von meiner Zuziehung als Sachverständiger Abstand zu nehmen."
        Soweit Sommer. Halten wird fest: Sommer hält im Jahre 1904 eine genaue persönliche Untersuchung für unverzichtbar und damit für notwendig.



    Zusammenfassung
     
    Es kann als allgemeiner medizinischer Grundsatz gelten, daß eine Diagnose, noch dazu in einem Fall von möglicher oder drohender Entmündigung, eine genaue persönliche Untersuchung und Beobachtung erfordert und nicht allein auf Kenntnis von Akten oder fremdanamnestischen Angaben erfolgen kann und darf. 



    Literatur:
    • Krafft-Ebing, Richard von (1882, 2.A.). Grundzüge der Criminalpsychologie auf Grundlage der deutschen und österreichischen Strafgesetzgebung für Juristen. Stuttgart: Enke.
    • Krafft-Ebing, Richard von (1875). Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. Stuttgart: Enke.
    • Krafft-Ebing, Richard von (1881, 2. umgearb.A.). Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. Stuttgart: Enke.
    • Krafft-Ebing, Richard von (1900, 3.A.2.A.). Lehrbuch der gerichtlichen Psychopathologie. Mit einem Nachtrag: Die zweifelhaften Geisteszustände vor dem Civilrichter des deutschen Reiches nach Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Stuttgart: Enke.
    • Schlager ; Emminghaus ;  Kirn; Gauster & Krafft-Ebing (1882).  Die gerichtliche Psychopathologie. In: Maschka (1882, Hg.). Handbuch der gerichtlichen Medicin Bd. IV.
    • Sommer, Robert (1904). Kriminalpsychologie und strafrechtliche Psychopathologie auf naturwissenschaftlicher Grundlage. Leipzig: Barth.
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    Querverweis-1: Die Gutachter Ludwigs II. König von Bayern
    Querverweis-2: Das Problem der Geschäfts-un-fähigkeit heute aus heutiger forensisch-psychologischer Sicht
    Querverweis-3: Methodische Probleme, Fallstricke und Fehlschluß-Varianten in wissenschafts-geschichtlichen Fragestellungen und die Kunstfehler in der Wissenschaftsberichtserstattung

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf (DAS). Forensik um die Zeit 1870-1895. Aus unserer Abteilung Medizinische Psychosomatik, Psychopathologie und Psychiatrie: Historische und psychiatrie-historische Probleme und Grundsätze ihrer Handhabung..  IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/wisms/geswis/psychiat/for1880.htm
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    14.03.15.   Linkfehler geprüft und korrigiert.