Primäre Verrücktheit bei Kraepelin 1883.
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Da die Diagnose bei Ludwig II., König von Bayern
auf "primäre Verrücktheit" lautete und aus den Dokumenten erschließbar
ist, daß von Gudden seine Diagnose auf Kraepelins Werk von 1883 stützte,
möchte ich nach dem Augenscheinbeweis, daß meine These tatsächlich
richtig ist, das Kapitel über primäre Verrücktheit hier
vollständig wiedergeben, damit sich jeder Interessierte und um Sachkunde
Bemühte selbst ein Bild machen kann, was die damaligen fachlichen
Grundlagen für diese Diagnose waren.
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Redaktioneller Hinweis: Fettungen in diesem Text sind in der Originalarbeit gesperrt gedruckt.
Als Verrücktheit bezeichnet man eine dauernde, tiefgreifende Umwandlung der psychischen Persönlichkeit, die sich hauptsächlich in einer krankhaften Auffassung und Verarbeitung der äusseren und inneren Eindrücke kundgiebt. Dauernd ist diese Veränderung in der Regel deshalb, weil sie nicht in vergänglichen Aspekten, nicht in einem vorübergehenden Processe, sondern in einem abnormen Zustande des gesammten psychophysischen Organismus ihre Wurzel hat. Die Helligkeit des Bewusstseins ist ungetrübt, die Besonnenheit vollkommen erhalten, aber das Erfahrungsmaterial wird durch die mannigfachsten subjektiven Elemente verfälscht und zu einer krankhaft verschobenen, "verrückten" Anschauung von der Umgebung und der eigenen Persönlichkeit verarbeitet. Man hat sich daher gewöhnt, als das charakteristische Symptom der Verrücktheit die fixe, von dem Kranken dauernd festgehaltene Wahnidee oder noch besser ein ganzes System solcher Wahnideen anzusehen. Die Verfälschung der Wahrnehmung und des Bewusstseinsinhaltes als solche ist eine überaus häufige psychopathische Erscheinung; was die Verrücktheit kennzeichnet, ist der Umstand, dass diese Verfälschungen nicht korrigirt werden, obgleich das Bewusstsein klar und die intellektuelle Arbeit nicht durch überwältigende Gefühle und Affekte gestört ist. Die Krankheit hat somit [>285 Wesen der Krankheit] hier tief in die höheren geistigen Funktionen eingegriffen, denn die fixe Wahnidee ist kein isolirtes pathologisches Symptom, wie etwa eine Sinnestäuschung, eine unmotivirte Verstimmung, sondern sie ist das untrügliche Zeichen einer dauernden, fundamentalen Unzulänglichkeit der gesammten intellektuellen Leistungen.
Dieser Grundzustand der Invalidität, auf dem allein das Krankheitsbild der Verrücktheit zur Ausbildung gelangen resp. sich in seiner Ausbildung erhalten kann, ist entweder ein primärer und zwar ein angeborener (originäre Verrücktheit), oder ein allmählich im Laufe der individuellen Entwicklung erworbener, oder aber er ist als Endstadium aus einer anderen psychischen Erkrankung hervorgegangen (sekundäre Verrücktheit). Die ältere deutsche Psychiatrie kannte nur diese letztere Form der Verrücktheit und suchte alle fixen Wahnsysteme als Ueberbleibsel aus voraufgegangenen maniakalischen oder melancholischen Psychosen darzustellen. Jetzt indessen hat man die primäre Verrücktheit als eine ungemein häufige und formenreiche Erkrankung kennen gelernt, die sich durch eine Reihe von klinischen Eigenthümlichkeiten vor der sekundären auszeichnet. Wir werden diese letztere daher auch später bei den psychischen Schwächezuständen gesondert zu behandeln haben.
Bei der primären Verrücktheit wird das Krankheitsbild beherrscht durch das Wahnsystem, die krankhaft verfälschte Auffassung des Verhältnisses der eigenen Person zur Umgebung. Die gesunde Wahrnehmung ist durch Sinnestäuschungen aller Art, sowie durch die subjektive Interpretation der normalen Eindrücke hochgradig gestört; die Stimmung und das Handeln wird durch den Einfluss der Wahnideen in abnorme Bahnen geleitet. Die Entstehung der Wahnideen kann sich hauptsächlich auf zwei verschiedenen Wegen vollziehen, durch Vermittlung von Sinnestäuschungen oder in Form von sog. Primordialdelirien.
Es giebt zweifellos Fälle, in
denen Hallucinationen, namentlich des Gehörs, zunächst und ausschliesslich
die Ursache der Wahnideen darstellen. Besonders sind es Ver- [>286] folgungsideen,
die auf diese Weise entstehen. Der Kranke hört abfällige Bemerkungen,
Drohungen, Schimpfworte, Hülferufe seiner Angehörigen, glaubt
sich in Folge dessen verachtet, gehasst, überall beobachtet, seine
Lieben in Gefahr, und beginnt nun unter dem fortdauernden Einflusse seiner
Sinnestäuschungen auch andere Wahrnehmungen im Sinne dieser krankhaften
Vorstellungen zu deuten. Eine unbefangene Betrachtung des klinischen Verlaufes
lässt indessen mit Bestimmtheit erkennen, dass dem Aufireten der Phantasmen
in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle bereits einzelne Eigenthümlichkeiten
in der Auffassung der Umgebung vorausgehen, die auf eine tiefer
greifende Wandlung derselben hindeuten. In der Regel erscheint den Kranken
schon vor der Ausbildung von Sinnestäuschungen die Aussenwelt in ganz
besonderem Lichte; ohne dass sie gerade falsche Wahrnehmungen machen, sehen
sie doch die Dinge und Personen mit andern Augen an, als Gesunde. Unwesentliche,
nebensächliche Umstände fallen ihnen auf und gewinnen eine besondere
Bedeutung, während oft das Nächstliegende und Augenfälligste
unbeachtet gelassen und übersehen wird. Der Inhalt der Sinnestäuschungen
steht daher auch regelmässig in einer gewissen Beziehung zu dem sonstigen
Gedankengange des Kranken, indem er seine Befürchtungen verstärkt,
seine Hoffnungen ermuthigt und überhaupt das Thema der Wahnidee in
der verschiedenartigsten Weise variirt, ohne dass sich der Kranke selbst
dieses häufig gewiss nur ganz allgemeinen und unbestimmten Zusammenhanges
bewusst wird. Die Sinnestäuschungen sind, mit andern Worten, hier
fast immer nicht die Ursache der psychischen Veränderung, die
sich mit dem Kranken vollzieht, sondern sie sind nur ein Symptom
des allgemeinen Krankheitsprocesses. Die Psychose wäre daher durch
den Wegfall der Sinnestäuschungen durchaus nicht etwa als beseitigt
anzusehen, sondern sie würde trotzdem im Wesentlichen unverändert
fortbestehen.
Dennoch kommen einzelne Fälle
zur Beobachtung, in denen das Verschwinden der Trugwahrnehmungen oder die
ermöglichte Korrektur derselben selbst nach jahrelanger Dauer auch
die wirkliche Genesung der Kranken bedeutet.
Wenn wir somit den Sinnestäuschungen als eigentlichen Ursachen der fixen Wahnideen auch keine sehr grosse Rolle zuzuerkennen vermögen, so ist es doch unzweifelhaft, dass sie für die inhaltliche Gestaltung und weitere Entwicklung derselben eine ganz hervorragende Bedeutung besitzen. Das einmal wach gewordene allgemeine Misstrauen des Kranken wird durch eine Trugwahrnehmung in bestimmte Bahnen gelenkt und unerschütterlich befestigt; die in undeutlichen Umrissen im Bewusstsein schlummernde Grössenidee erhält durch sie plötzlich einen klaren, unverwischbaren Ausdruck. Die gewaltige, unwiderstehliche Macht, welche die Sinnestäuschung über den Kranken gewinnt, ist aber nicht sowol von ihrer sinnlichen Lebhaftigkeit abhängig, sondern vor Allem von ihrem tiefen, obschon dem Kranken unbewussten {ubw1}Zusammenhange mit dem eigenen Ideenkreise, von der inneren Uebereinstimmung mit seinen geheimen Befürchtungen und Wünschen. Kein Gesunder würde die Worte eines Vorübergehenden: "Das ist der Kaiser" sofort auf sich beziehen oder sich nun gar deswegen wirklich für den Kaiser halten — auf den Verrückten macht eine derartige hallu- [>288] cinatorische Wahrnehmung den allertiefsten, überwältigendsten Eindruck und lässt unmittelbar die feste Ueberzeugung in ihm entstehen, nicht nur, dass jene Worte wirklich gesprochen seien, sondern dass sie auch die thatsächliche Wahrheit enthalten.
Die Quelle der Wahnideen des Verrückten ist somit gemeiniglich eine viel tiefere, als die Sinnestäuschungen, auf welche die Kranken selbst häufig genug dieselben zurückzuführen pflegen, da sie sich der eingreifenden Umwandlung ihrer ganzen psychischen Persönlichkeit nicht bewusst geworden sind, welche erst sich vollziehen musste, bevor die Trugwahrnehmungen überhaupt ihre Wirkung entfalten konnten. In der That begegnen wir auch vielen Verrückten, bei denen niemals eigentliche Sinnestäuschungen vorhanden waren. Man darf sich bei der Entscheidung dieser Frage nicht durch die Apperceptionshallucinationen und -illusionen beirren lassen, die von den Kranken nicht selten mit ähnlichen Ausdrücken beschrieben werden, bei genauerem Examen sich aber fast immer von wirklichen, sinnlichen Trugwahrnehmungen unterscheiden lassen. Dahin gehören die "inneren" Stimmen, die "Gedankensprache", das "Telegraphiren", viele Visionen u. s. f., Vorgänge, die nicht selten von den Kranken mit neu erfundenen phantastischen Namen belegt werden. Sie stehen immer in allerunmittelbarster Beziehung zu dem Gedankengange, bisweilen sogar unter dem Willenseinflusse des Patienten und werden von ihm unter strenger Abscheidung von den gewöhnlichen Sinneswahrnehmungen in der Regel auf mystische Fernewirkungen, geheimnissvollen, magnetischen Rapport, göttliche Inspiration u. dergl. zurückgeführt. Natürlich deutet eine derartige Verwerthung schon auf eine weit vorgeschrittene Kritiklosigkeit und Befangenheit des Kranken in seiner verrückten Weltauffassung hin.
Diese apperceptiven "Trugwahrnehmungen", wie man sie kaum mehr nennen kann, bilden gewissermaassen eine Uebergangsstufe von den Sinnestäuschungen zu den Primordialdelirien. Wir finden an sie wenigstens regelmässig noch die Vorstellung eines äusseren, wenn auch nicht mehr einfach sinnlichen, Ursprunges geknüpft, während [>289] die Primordialdelirien durchaus den Charakter der Vorstellungen haben, die plötzlich im Bewusstsein auftauchen und in demselben eine überraschende Macht erlangen. So kommt dem schon früher einmal citirten Verrückten beim Anblicke einiger Kastanien mit einem Male der Gedanke, dass sie die Symbole der Herrschaft über die fünf Welttheile seien; einer anderen Kranken, die das Bild des russischen Kaisers betrachtet, wird es plötzlich klar, dass derselbe ihr Vater sei. Ja, diese so unvermittelt in den Ideenkreis des Patienten eingetretenen Vorstellungen haben schon im Augenblicke ihres Entstehens für denselben die Eigenschaft, unumstösslicher Wahrheit gewonnen; sie haften in dieser Form unverändert vielleicht für das ganze zukünftige Leben und modeln alle fernere Erfahrung nach sich, anstatt selber durch jene auf Schritt und Tritt korrigirt zu werden.
Der Grund für dieses eigenthümliche Verhalten liegt sicherlich nicht etwa in der besonderen Art der Vorstellungen selbst, sondern er liegt in dem Zustande des vorstellenden Subjektes, in seiner mangelnden kritischen Widerstandsfähigkeit, in dem günstigen Boden, welchen die Primordialdelirien in der psychopathisch disponirten Persönlichkeit vorfinden. Auch dem Gesunden schiessen ja oft genug derartige Vorstellungen durch den Kopf, aber sie versinken sogleich wieder und werden durch andere Ideen verdrängt, um höchstens als Anknüpfungspunkte für den Ausbau von Luftschlössern und müssige Träumereien zu dienen. So sehen wir im Beginne der Verrücktheit nicht selten den Kranken lange mit den andringenden Wahnideen kämpfen; bisweilen gelingt es ihm, sie für einige Zeit in den Hintergrund zu drängen, aber immer und immer wieder steigen sie herauf, bis die Widerstandsfähigkeit erschöpft und der Patient zum willenlosen Spielballe seiner krankhaft geschäftigen Phantasie geworden ist. Erinnert sei hier nur nebenbei an die Kritiklosigkeit, mit der wir im Traume die unsinnigsten Kombinationen der persönlichen und sachlichen Verhältnisse trotz unseres besseren Wissens ohne grosse Verwunderung als thatsächlich hinzunehmen pflegen. [>290]
Die Primordialdelirien sind somit Phantasievorstellungen, welche eine schwache, haltlose psychische Persönlichkeit überwältigen und ihre Auffassung der Aussenwelt verfälschen. Wenn die melancholischen Wahnideen ihre Macht über den Kranken dem krankhaften Affekte verdanken, der sie mit einer gewissen Energie in das Bewusstsein erhebt und zugleich die ruhige Kritik beeinträchtigt, so ist es hier die Leichtigkeit, mit welcher sich die Vorstellungen aneinander knüpfen, der Mangel an scharfen, bestimmt ausgeprägten Begriffen, die das Zustandekommen der Primordialdelirien vermitteln. Dass associative Leben ist reich entwickelt; überall fallen dem Kranken Aehnlichkeiten und theilweise Uebereinstimmungen ins Auge, die ihn zur Annahme tiefliegender geheimnissvoller Beziehungen verleiten. Auch das Unscheinbare, Unbeachtete erhält für ihn wegen der Anklänge, die es in ihm erweckt eine tiefere Bedeutsamkeit, und es kommt auf diese Weise zu einer symbolisch-mystischen Auffassung der Welt, in welcher nicht die objektive Wahrnehmung, sondern die subjektive Deutung, der vermeintliche Blick hinter die Koulissen des Geschehens die Hauptrolle spielt.
Dem krankhaft geschärften und überall mit raffinirter Befangenheit beobachtenden Auge schwindet das Zufällige und Bedeutungslose gänzlich aus der Welt; die eigenen überall üppig und mit pathologischer Lebhaftigkeit aufschiessenden Gedankenverbindungen liefern ihm den Stoff für die Konstruktion eines durchgängigen Zusammenhanges der äusseren Lebensereignisse. Wo der Gesunde vielleicht bei einer rasch korrigirten oder doch wenigstens sehr unsicheren "Vermuthung" stehen bleiben würde, da verhilft die leichte Beweglichkeit der Phantasie dem Kranken sofort zur Gewissheit. Dieser angeborene oder allmählich sich entwickelnde psychische Zustand ist es, der die günstigen Vorbedingungen zur Ausbildung der Primordialdelirien enthält. Meist giebt zunächst irgend ein äusserer Eindruck den ersten Anstoss zu dem Auftauchen der Wahnidee ab, die dann rasch tiefe Wurzeln schlägt in dem schon lange zu symbolisirender und subjektiver Verarbeitung der Erfahrung hinneigenden Bewusstsein. [>291]
Bedeutend erleichtert wird dieser Vorgang durch den Umstand, dass naturgemäss zum Mittelpunkte aller der geheimnissvollen Beziehungen, wie sie sich dem Kranken allmählich herstellen, die eigene Persönlichkeit wird. Wie schon dem Gesunden die kritische Beurtheilung der das eigene Ich sehr nahe berührenden Verhältnisse durch die grössere Lebhaftigkeit der Gefühle auf diesem Gebiete beträchtlich erschwert zu werden pflegt, so wächst auch bei dem Kranken die Unfähigkeit zu einer Berichtigung seiner luxurlirenden Ideen in dem Maasse, wie dieselben in die egoistischen Interessen eingreifen und somit von stärker hervortretenden Lust- oder Unlustgefühlen begleitet sind. So kommt es, dass derselbe Verrückte, dessen absurde Wahnvorstellungen über die Verhältnisse seiner eigenen Person uns in Erstaunen setzen, vielleicht über fernliegende Dinge noch ganz richtig urtheilt, namentlich, wenn ihm die Beschäftigung mit denselben noch aus gesunden Tagen her geläufig ist. Ja, die Leichtigkeit der Kombination lässt den Verrückten bisweilen, ähnlich dem Maniacus, durch die überraschende Auffindung entfernter Aehnlichkeiten sogar geistreiche, feine Bemerkungen machen, die in grellem Kontraste zu seiner sonstigen Urtheilslosigkeit zu stehen scheinen und der Ansicht Vorschub geleistet haben, dass es sich hier um eine "partielle" psychische Erkrankung handele. Bei Lichte besehen, liegt sowol der Störung, wie den scheinbar gesteigerten geistigen Leistungen die gleiche Veränderung, ein abnormes Ueberwiegen der associativen Vorgänge über die logischen Gedankenverbindungen zu Grunde. Die "Apercus" der Verrückten sind daher auch niemals das Resultat einer wirklichen intellektuellen Arbeit; sie sind nichts, als augenblickliche überraschende Einfälle oder spitzfindige, halbrichtige Klügeleien, nicht unähnlich den phantastischen und oft mit einer gewissen kühnen Gewandtheit aufgebauten Wahngebilden selbst.
Auf der allgemeinen Grundlage der erleichterten
Kombinationsfähigkeit und der mangelnden Kritik, vielfach unter dem
Einflusse begleitender Affekte und Sinnestäuschungen, kann sich der
Inhalt des Wahnsystems im Ein-
[>292] zelnen überaus verschieden gestalten, so
dass man unter diesem Gesichtspunkte eine Reihe klinischer Formen der Verrücktheit
auseinandergehalten hat, die aber so häufig in einander übergehen
und auch in ihrem allgemeinen Verhalten eine so grosse Uebereinstimmung
unter einander darbieten, dass es hier genügen wird, die hauptsächlichsten
Richtungen zu skizziren, in denen sich die Wahnideen auszubilden pflegen.
Vor allem haben wir zwei einander
gänzlich entgegen gesetzte und scheinbar unvereinbare Formenkreise
zu unterscheiden, die depressiven und die Grössenideen.
Es kommt vor, dass die einen oder die andern für sich allein das ganze
Krankheitsbild beherrschen; häufig genug aber kombiniren sie sich
in eigenthümlicher Weise mit einander, indem die vermeintliche Beeinträchtigung
und Verfolgung den Kranken dazu führt, seiner eigenen Person allmählich
eine besondere, hervorragende Bedeutung beizumessen, oder aber, indem er
die Nichtanerkennung seiner eingebildeten Rechte als eine Folge feindseliger
Machinationen auffasst. Wahrscheinlich können sie auch gänzlich
unabhängig von einander aus der allgemeinen Neigung des Kranken, alle
äusseren Vorgänge in innige Beziehungen zu der eigenen Persönlichkeit
zu setzen, ihren Ursprung nehmen.
Von den depressiven Wahnsystemen ist hier verhältnissmässig selten der Versündigungswahn. Es scheint, dass in der Verrücktheit meist die egoistischen Gefühle mit einer gewissen Lebhaftigkeit ausgeprägt sind, so dass sie das Zustandekommen einer Selbstverachtung, wie sie die Versündigungsideen begleitet, in der Regel verhindern. Dennoch kommen derartige, vollständig fixe, nicht aus einer Melancholie sekundär hervorgegangene Wahnsysteme bisweilen vor. Die Kranken werden von beständigen Gewissensskrupeln gepeinigt, glauben, mit diesem oder jenem Worte irgend einer längst hinter ihnen liegenden Handlung oder Unterlassung ein grosses Unrecht begangen, Gott beleidigt zu haben und bemühen sich, durch vielfache, oft sehr rigorose Selbstpeinigungen, die Sünde zu tilgen und Gnade zu erlangen. Sie versagen sich gewohnte Genüsse, halten regel- [>293] mässige Fasten, beten und knieen viel, bringen sich selbst kleine Verletzungen bei, um sich zu strafen und befolgen alle selbst gewählten Vorschriften mit pedantischer Genauigkeit und Hartnäckigkeit. Sehr gewöhnlich entwickelt sich im Anschlusse an diese ursprünglichen Versündigungsideen allmählich die zuversichtliche Hoffnung auf Begnadigung und auf die Erlangung von allerlei kirchlichen und himmlischen Ehrenposten, die Stellung eines Heiligen, Apostels, Märtyrers, Christi u. s. f., kurz das depressive religiöse Wahnsystem wandelt sich in ein exaltatives um.
Weit häufiger sind jedoch die Wahnideen der Beeinträchtigung, sei es des unmittelbaren körperlichen Leidens, sei es der Verfolgung und Interessenschädigung von Aussen her, durch fremde Einflüsse. Die hypochondrische Verrücktheit mit der fixen Idee unheilbarer, schwerer Krankheit nimmt häufig ihren Ausgangspunkt von wirklich vorhandenen, objektiv begründeten Beschwerden, Magendarmkatarrhen, Uterinleiden, nervösen Affektionen u. s. f. In anderen Fällen jedoch genügt schon die lebhafte Beschäftigung der Phantasie mit einem Krankheitsbilde, um das Vorhandensein der Symptome am eigenen Körper zur Gewissheit zu machen. Während derartige Anwandlungen vom Gesunden bei ruhiger Ueberlegung ohne Weiteres überwunden werden, drängen sie sich dem krankhaft empfänglichen Bewusstsein immer und immer wieder auf, regen die leichtbewegliche Phantasie in der mannigfachsten Weise an und führen allmählich zur Ausbildung eines von lebhaften Unlustgefühlen begleiteten festwurzelnden Wahnsystemes, das durch keine gegentheilige Erfahrung mehr erschüttert werden kann.
Anfangs werden ganz normale Vorgänge und Theile des Körpers als entsetzliche Krankheitserscheinungen angesehen; so zeigte mir ein ganz besonnener Kranker die Talgdrüsen und Haarbälge am Penis als die Symptome der Syphilis. Besonders die vermeintlichen Folgen der Onanie werden an der Hand der drastischen Schilderungen gewisser Bücher an der eigenen Person in den erschreckendsten Formen wiedergefunden, daher vielfache Selbstanklagen. Der Kranke beginnt, sich mit seinem Körper und den [>294] Funktionen desselben eingehend, täglich und stündlich zu beschäftigen und findet in jeder seiner vorurtheilsvollen Beobachtungen eine neue Bestätigung des gehegten Verdachtes. Die stete Aufmerksamkeit auf sich selbst und die nervöse Erregbarkeit, in die der Kranke mehr und mehr geräth, lassen ihn allerlei abnorme Sensationen, Anomalien des Gemeingefühls u. dergl. wahrnehmen; er kommt sich kraftlos, abgespannt, körperlich und geistig leistungsunfähig vor, bemerkt verdächtige Empfindungen, Schmerzen in den verschiedensten Organen und fühlt, wie das Leiden, dessen Existenz ihm vollständig feststeht, rasche Fortschritte macht und tiefgreifende Veränderungen in ihm hervorbringt. Er verliert dabei das Interesse für die Aussenwelt mehr und mehr und widmet sich ganz der Pflege seines Körpers. Alle andern Vorstellungen und Gefühle treten in den Hintergrund, seine Handlungen sind ausschliesslich durch die Rücksicht auf das eigene, schwer gefährdete Wohlergehen diktirt. Jeden Zweifel an seinem körperlichen Leiden weist er, wo ihm jede neue Wahrnehmung neue Beweise zu bringen scheint, mit Entrüstung zurück, ja es gewährt ihm eine gewisse märtyrerhafte Genugthnung, durch eingehende Schilderung seiner ihn so lebhaft und ausschliesslich beschäftigenden Leiden das Interesse und das Mitleid Anderer zu erwecken.
Die vielfach unternommenen Kuren bleiben natürlich alle erfolglos. Der Kranke beginnt sehr bald, an der ärztlichen Kunst zu verzweifeln und fällt zahllosen Quacksalbern in die Hände, um doch wenigstens Alles einmal zu versuchen. Unterdessen wird die Terminologie für die mannigfachen Erscheinungen des Leidens eine immer reichere, die einzelnen Körpertheile werden wie mit Zangen gezwickt, auseinander gerissen, geschraubt; der Kopf ist ihm hohl oder als wenn Stroh darin wäre; im Leibe brennt, sticht, drückt und zuckt es u. s. w. u. s. w. Bei zunehmender Kritiklosigkeit gewinnt auch die Natur der Krankheit groteskere Formen. Die anfangs nur zur Beschreibung der Symptome gebrauchten Vergleiche gelten dem Kranken später als Ausdruck der wirklichen Verhältnisse. In seinen Adern befindet sich Gift, Feuer, Mistjauche statt des Blutes; das Herz ist [>295 Hypochondrischer Wahn] ihm in einen Stein verwandelt, die Speiseröhre, der Mastdarm abgerissen oder verschlossen; im Leibe sitzen lebendige Thiere, Spinnen, Kröten, Schlangen und verzehren seine Eingeweide. Der Kranke ist überhaupt nichts mehr; er kann nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, sich nicht rühren, er ist abgestorben, schon lange todt, in eine andere Person, in einen Holzklotz, ein Thier, eine Pflanze verwandelt; er ist so klein zusammengeschrumpft, dass man ihn gar nicht mehr sehen kann. Natürlich spielen dabei abnorme Empfindungen eine sehr grosse Rolle, insofern sie die Anregung für die phantastische Ausgestaltung des Wahnes geben; man sieht aber leicht, dass es sich bei der ganz elementaren Natur der Sensationen aus dem Innern des eigenen Körpers hier niemals um einfache Trugwahrnehmungen, sondern vielmehr nur um die wahnhafte Interpretation derselben handeln kann.
Ein weiterer Schritt in der Ausbildung des Wahnsystems wird von dem Kranken gethan, wenn seine vermeintlichen Leiden als die Folge äusserer, feindseliger Beeinflussung aufgefasst werden, wenn sich also das Bild der hypochondrischen Verrücktheit mit dem Verfolgungswahne kombinirt. Es kann nun der Teufel sein, ein böser Geist, ein unsichtbarer Feind, der im Leibe drinsitzt und dort seinen Spuk treibt, die Kehle abschnürt, das Blut verdickt, die Eingeweide durcheinanderwirft, oder die Verfolger kommen in der Nacht, während der Kranke schläft, vertauschen ihm seine Glieder, räumen ihm das Gehirn aus, schöpfen ihm den Hirnschaum ab, treiben ihm den Samen ab, oder endlich sie wirken mit Hülfe von magnetischen, elektrischen Maschinen (physikalischer Verfolgungswahn), durch Zaubersprüche aus der Ferne auf ihn ein, ziehen ihm die Gedanken ab, beströmen ihn mit geheimem Giftregen u. s. f. Je phantastischer und absurder der Wahn, desto grösser die psychische Schwäche und desto unmöglicher eine Korrektur desselben, so sehr man glauben sollte, dass es leicht sein müsse, die Unsinnigkeit desselben nachzuweisen. Schon der Umstand, dass der Kranke dem direkten Augenscheine zum Trotz die albernsten Behauptungen festhält, z. B. klagt, er könne keinen Bissen geniessen, während [>296] er mit vollen Backen und bestem Appetite schmaust, lässt von vornherein an dem Versuche einer Ueberzeugung durch logische Beweisgründe verzweifeln. Die zahlreichen in der Literatur berichteten Fälle, in denen man durch fingirte Operationen und ähnliche Mittel "auf psychischem Wege" die eingebildete Krankheit zu beseitigen strebte, sind in dieser Hinsicht sehr lehrreich. Im günstigsten Falle wurde die einzelne vorliegende Wahnidee zum Verschwinden gebracht, aber regelmässig trat eine andere, vielfach weit absurdere an ihre Stelle, da man ja nicht zugleich das Grundleiden, die Uebererreglichkeit der Phantasie und den Mangel an Kritik, hatte bessern können.
Die Stimmung des Hypochonders ist regelmässig eine depressive, düstere und reizbare. Wie die Zustände des eigenen Körpers, so ist er auch geneigt, die Dinge der Aussenwelt im Lichte seines trüben Pessimismus zu sehen. Zu Zeiten kann sich die Verstimmung zu heftigen Affekten der Verzweiflung mit der Befürchtung, sofort zu sterben, wahnsinnig zu werden und dergleichen steigern, in denen der Kranke sogar zum Selbstmorde seine Zuflucht nimmt. Auf dem Gebiete des Handelns ist häufig eine krankhafte Willenlosigkeit und Schlaffheit, die Unfähigkeit zur Ueberwindung des hypochondrischen Krankheitsgefühles, zur thatkräftigen Durchführung der Berufsgeschäfte, andererseits eine gewisse Pedanterie und peinliche Regelmässigkeit in der Lebensführung charakteristisch. Sehr gewöhnlich suchen die Kranken sich durch allerlei selbsterfundene Schutzmaassregeln, Masken, Amulette und verschiedenartige Vorrichtungen oder durch gewisse gewohnheitsmässige Bewegungen, Grimassen u. dergl. vor den feindlichen Einwirkungen zu sichern. Ein Kranker verbrannte sich hartnäckig Monate lang die Ohren, um dadurch das vermeintliche syphilitische Gift aus seinem Körper zu entfernen, ein anderer fing an, Nägel, Glasscherben, spitze Steine zu verschlucken, um so "sein Blut zu reinigen". Bei langer Dauer der Psychose und der Ausbilung absurder Wahnsysteme pflegen die begleitenden Affekte und der Einfluss derselben auf das Handeln allmählich mehr und mehr zurückzutreten. Ebenso verhält es sich mit den [>297 Verfolgungswahn] körperlichen Störungen, die im Beginne der hypochondrischen Verrücktheit hervorzutreten pflegen, Schlaflosigkeit, Eingenommenheit des Kopfes, Verdauungsanomalien u. s. f.
Die bei weitem häufigste Form des depressiven Wahnes ist der Verfolgungswahn. Bei dem häufig schon von Hause aus reizbaren und verschlossenen Kranken stellt sich eine leichte Verstimmung, allerlei vage Beschwerden und Befürchtungen ein; er ist unzufrieden mit seiner Lage, fühlt sich zurückgesetzt, glaubt sich vielleicht schon von seinen Eltern und Geschwistern nicht mit der rechten Liebe behandelt, sondern vielfach verkannt, und geräth auf diese Weise allmählich in einen gewissen, zunächst noch wenig markirten Gegensatz zu seiner gesammten Umgebung. Nach und nach befestigen sich jene Ideen in ihm; sie beschäftigen ihn häufiger und beginnen endlich auch seine Wahrnehmungen zu beeinflussen. Der Kranke macht die Bemerkung, dass man ihm bei dieser oder jener Gelegenheit nicht mehr so freundlich entgegenkommt, wie früher, dass man zurückhaltender gegen ihn ist, ihm aus dem Wege geht und trotz manches, wie er meint, heuchlerischen, Freundschaftsbeweises nichts mehr mit ihm zu thun haben will. In Folge dessen steigert sich seine Empfindlichkeit und sein Misstrauen; er beginnt, in einer harmlosen Bemerkung, einer zufälligen Geberde, einem aufgefangenen Blicke Beleidigungen und versteckte Andeutungen einer feindseligen Gesinnung zu argwöhnen. Durch fortgesetzte vorurtheilsvolle Interpretation seiner Wahrnehmungen wird es ihm schliesslich zur Gewissheit, dass irgend etwas gegen ihn im Werke ist, dass man ihm etwas anhaben will. Es kann ihm nicht entgehen, dass auch Fernerstehende bereits an der Agitation gegen seine Person sich betheiligen. Auf der Strasse ist er der Gegenstand der allgemeinen Aufmerksamkeit; man fixirt ihn, sieht ihn von der Seite an, man räuspert sich, hustet um seinetwillen, spuckt vor ihn hin oder weicht ihm aus; in öffentlichen Lokalen rückt man von ihm fort oder steht auf, sobald er erscheint, wirft ihm verstohlene Blicke zu und kritisirt ihn. Einzelne undeutlich aufgefangene und sofort im Sinne des eigenen Wahnes [>298] verstandene Bemerkungen oder auch schon wirkliche Hallucinationen geben dem Kranken die traurige Bestätigung seiner Vermuthungen. Alles spricht bereits über ihn, allerdings nicht direkt und ins Gesicht, sondern hinter seinem Rücken, aber für ihn nur zu verständlich. In den Reden der Vorübergehenden, des Geistlichen auf der Kanzel, des Schauspielers im Theater, in den Zeitungsannoncen, den Maueranschlägen findet er nun Anspielungen auf Erlebnisse seiner Vergangenheit, geheime Laster, kleine Fehler, die er sich hat zu Schulden kommen lassen, ja seine intimsten Beziehungen, die nun vermeintlich alle an die Oeffentlichkeit gebracht und Gegenstand einer Untersuchung geworden sind.
In Folge dieser Wahrnehmungen bemächtigt sich des Kranken eine grosse innere Unruhe; er wird immer argwöhnischer, gereizter und menschenscheuer, zieht sich gänzlich zurück, führt Scenen mit seinen Freunden herbei, lässt Annoncen zur Entkräftung der gegen ihn vorgebrachten versteckten Anschuldigungen einrücken, ruft die Hülfe der Polizei an, oder sucht sich durch Reisen den fortwährenden geheimen Nachreden zu entziehen. Dieses letztere Mittel hilft nicht selten für einige Zeit. Die Ablenkung der Aufmerksamkeit durch die Eindrücke einer neuen Umgebung bringt sein Misstrauen vorübergehend zum Schweigen; der Kranke fühlt sich frei und glaubt seinem Schicksal entronnen zu sein. Sehr bald indessen wiederholen sich nun die gleichen Wahrnehmungen, wie früher; auch an seinen neuen Aufenthaltsorte scheint man binnen Kurzem bereits über ihn orientirt zu sein; man spionirt ihm also überall nach. Er merkt, dass ihm einzelne Personen auf Schritt und Tritt folgen, ihn beständig überwachen und sieht nun wol, dass mächtige und hartnäckige Feinde ihn verfolgen, deren Nachstellungen er auf die Dauer nicht entgehen kann. Der Verdacht lenkt sich dabei bald auf die Polizei die ihn wegen wirklich begangener Vergehen oder auf Grund verleumderischer Denunciationen zur Rechenschaft ziehen will, auf seine Vorgesetzten, politische oder religiöse Parteien (Freimaurer, Pfaffen, Socialdemokraten, Jesuiten), bald auf einzelne Personen, Nachbarn (Haberfeldtreiben), [>299]Kollegen, Rivalen, von denen er Feindseligkeiten befürchten zu müssen glaubt. Nicht selten kommt es in dieser Periode der Krankheit unter wachsender psychischer Erregung und unter dem Einflusse rasch zunehmender und das gesunde Bewusstsein überwältigender Gehörstäuschungen zu plötzlichen.intensiven Aufregungszuständen, die den Kranken in seiner Angst zum Selbstmorde, zu Gewalttaten gegen seine vermeintlichen Feinde, zu Fluchtversuchen und ähnlichen krankhaften Handlungen treiben und häufig erst den Anlass zur Erkennung der Psychose, sowie zur Verbringung in die Irrenanstalt abgeben.
Da die Einsicht in die eigene Krankheit vollständig fehlt, so liefert diese letztere Maassregel dem Patienten einen neuen Beweis für die Richtigkeit seiner Wahnideen; sie gilt ihm als ein Schachzug seiner Verfolger, die ihn unschädlich machen, ihn auf diese Weise lebendig begraben wollen. Ueberdies hören natürlich auch in der Anstalt die beständigen Nachstellungen nicht auf. Die andern Kranken machen sich über ihn lustig, verhöhnen ihn hinter seinem Rücken; Aerzte und Wartepersonal sind mit seinen Peinigern im Einverständniss, sind gedungen, um ihn gegen ihre wissenschaftliche Ueberzeugung festzuhalten, geisteskrank zu machen, auszuhungern, langsam zu vergiften und hinsiechen zu lassen. Die Gehörstäuschungen, zu denen sich oft auch solche der übrigen Sinne, namentlich des Hautsinnes und der Gemeingefühle gesellen, nehmen immer mehr überhand und führen eine fortschreitende Verfälschung des Wahrnehmungsinhaltes mit zunehmender Absurdität und Ausbildung des Wahnsystemes herbei. Die Stimmen, die anfangs nur hinter dem Rücken des Kranken flüsterten, sprechen jetzt vielleicht aus den Wänden, dem Fussboden, aus dem Bette, den Kleidern, ja dem eigenen Körper des Kranken heraus; sie beziehen sich auf seine geheimsten Gedanken, ja sie folgen denselben bisweilen unmittelbar nachäffend beim Lesen oder Schreiben. Er wird somit zu der Annahme von unsichtbaren, ihn rings umgebenden und sogar in ihm selbst sitzenden Wesen, sowie zu der Vorstellung geführt, dass seine Gedanken von der Umgebung errathen werden könnten. Die abnormen Sensationen im [>300] eigenen Körper werden in ähnlichem Sinne verwerthet und haben den schon oben erwähnten physikalischen Verfolgungswahn zur Folge.
Von sehr grosser Wichtigkeit sind in dieser Richtung die sexuellen Empfindungen. Die Genitalorgane bilden überaus häufig den Angriffspunkt feindlicher Beeinflussungen. Samenabtreibungen, Reizungen, künstliche Verschrumpfungen dann zwangsweise Kohabitationen, Schwängerungen, Abtreibungsversuche geben bei Reizungszuständen in der Sexualsphäre (Onanie, Hysterie, Klimakterium) nicht selten den Inhalt von Wahnvorstellungen ab. Eine besondere Form der geschlechtlichen Beeinträchtigungsideen ist der Eifersuchtswahn, der namentlich bei Frauen im Klimakterium, dann aber auch bei Trinkern häufiger hervortritt. Die Frauen hören und fühlen, dass andere Weiber sich zu ihrem Manne in das Bett legen, merken jede Untreue desselben aus bestimmten Empfindungen in ihrem Korper und quälen ihn auf Schritt und Tritt mit ihren häufig ganz absurden Beschuldigungen. Bei Trinkern verbinden sich die Eifersuchtsideen gegen die Frauen vielfach mit Gehörstäuschungen obscönen Inhalts. Von untergeordneter Bedeutung sind im Ganzen die gelegentlichen Gesichtstäuschungen, die hauptsächlich als Illusionen aufzutreten pflegen; Geruchs- und Geschmackshallucinationen dagegen dienen nicht selten als Ausgangspunkt für Vergiftungs- und Erstickungsideen.
Die Mehrzahl dieser weiteren Ausbildungen des verrückten Verfolgungswahnes gehört schon den späteren Stadien der Erkrankung an, in denen die anfänglich noch gegen die grotesken Phantasievorstellungen ankämpfende Kritik vollständig überwältigt worden ist und auch die ungereimteste Idee von dem Kranken acceptirt und verarbeitet wird, ohne dass ihm die kolossalen Widersprüche mit seiner gesammten früheren Erfahrung zum Bewusstsein kommen. Die gedächtnissmässige Beherrschung der in gesunden Tagen erworbenen Anschauungen kann dabei gut erhalten sein, ja der Kranke kann über Dinge, die seiner Person fernliegen, noch ein leidlich zutreffendes Urtheil besitzen, so lange eben nicht jene Wahnideen mit hineinspielen, die seine ganze Auf- [>301 Größenwahn] fassung der Dinge verfälscht haben. In der Regel jedoch konzentrirt sich das Interesse und der Vorstellungskreis des Kranken immer mehr auf sein Wahnsystem, jene Ideen, die sein ganzes Wohl und Wehe am nächsten und unmittelbarsten berühren. Alle übrigen Neigungen treten mehr und mehr in den Hintergrund, und die freie Beweglichkeit der Aufmerksamkeit wird durch den krankhaften Vorgang in der empfindlichsten Weise beeinträchtigt. Der Kranke wird, wie der Hypochonder, ein mehr oder weniger ausgeprägter Egoist; er wird abgestumpft gegen seine früheren natürlichen Beziehungen zu einer Umgebung, die für ihn nicht mehr die alte ist.
Sehr häufig flechten sich schon im Verlaufe der Verrücktheit mit Beeinträchtigungswahn Grössenideen in das Krankheitsbild ein, die allmählich mehr und mehr in den Vordergrund treten, ein Vorgang, den man wol als Transformation bezeichnet hat. Beide Gruppen von Wahnvorstellungen haben ihren gemeinsamen Ausgangspunkt in der Neigung des Kranken, die eigene Persönlichkeit zum Mittelpunkte des Thuns und Treibens seiner Umgebung zu machen, alle besonderen Vorkommnisse und Wahrnehmungen in der Aussenwelt zu den eigenen Interessen in irgend eine, freundliche oder feindliche, Beziehung zu setzen. Von dem allgemeinen Stimmungshintergrunde, von der ganzen Richtung seines Gedankenganges hängt es dann ab, ob er die Aufmerksamkeit, die man ihm vermeintlich überall schenkt, als das Zeichen feindlicher oder freundlicher Gesinnung ansieht, ob er sich demgemäss für einen Verfolgten oder für einen besonders ausgezeichneten Menschen hält. Die später sich einstellenden Sinnestäuschungen erhalten ihre Färbung und ihren Inhalt offenbar in der Regel erst durch die schon vorhandene wahnhafte Veränderung des Selbstbewußtseins, ja sind nicht selten, namentlich die Illusionen, so unbestimmter Art, dass erst die tendenziöse Auslegung des Kranken von seinem verrückten Standpunkte aus in ihnen eine Bestätigung der gepflegten Wahnideen aufzufinden vermag.
Auf diese Weise entspringt aus derselben Wurzel, aus der die Idee der Zurücksetzung Seitens der Eltern hervor- [>302] ging, nach und nach in dem Kranken die Vermuthung, dass er, den man vermeintlich entschieden anders behandelt, als seine Geschwister, nicht das rechte Kind jener Eltern sei. Diese Vermuthung wird eines Tages zur Gewissheit, wenn in seiner Gegenwart "bedeutungsvoll" der Name einer hochgestellten Persönlichkeit genannt wird, wenn ihn auf der Strasse, im Theater irgend eine vornehme Dame seiner Ansicht nach aussergewöhnlich freundlich anblickt, wenn ihm beim Beschauen des Bildes eines Grafen, Fürsten eine "innere Stimme" (keine Hallucination) plötzlich den Gedanken eingiebt, dass derselbe sein Vater sei, oder wenn er eine auffallende Aehnlichkeit zwischen sich und Jenem zu entdecken glaubt. Zunächst hält der Kranke seine Entdeckung noch geheim, aber im Gefühle seiner hohen Abstammung findet er auf Schritt und Tritt die klarsten und unwiderleglichsten Beweise für dieselbe. Ihm wird jetzt klar, warum seine Eltern oft heimlich mit einander sprachen, warum man ihn auf der Strasse mit so besonderenAugen ansieht, ihn so ehrerbietig grüsst u. s. f. Bald hört er auch in den Reden der Vorübergehenden Andeutungen, die sich auf seinen Stand beziehen, und bemerkt, dass gewisse öffentliche Ereignisse damit in Zusammenhang stehen, dass Zeitungsnachrichten u. dergl. verblümte schmeichelhafte Anspielungen auf ihn, den in der Verborgenheit auf wachsenden Grafen oder Königssohn enthalten. Stets ist hier das Charakteristische die ungemeine Leichtigkeit, mit welcher ganz entfernte Anklänge und Analogien aufgefasst und zu den kritiklosesten, abenteuerlichsten Kombinationen weiter verarbeitet werden, ohne dass dem Kranken, angesehen etwa von den ersten Stadien der Psychose der mindeste Zweifel an der vollen objektiven Gültigkeit seiner Phantastereien aufstiege.
Alsbald glaubt er den Augenblick zum Handeln gekommen. Er sucht sich seinen vermeintlichen hohen Eltern zu nähern, Anfangs vielleicht auf allerlei Umwegen, indem er an ihrem Hause vorübergeht, Fremden gegenüber geheimnissvolle Andeutungen fallen lässt, von denen er überzeugt ist, dass sie richtig verstanden und an die bestimmte Adresse befördert werden. Endlich schreibt er einen Brief [>303] und, da derselbe erfolglos bleibt, einen zweiten und dritten, macht dann den Versuch, persönlich zu seinen hohen Eltern vorzudringen und wird nun, wo seine Krankheit von der Umgebung erkannt ist, in die Irrenanstalt überführt. Natürlich ist dieser Ausgang der Angelegenheit für den Kranken ein überaus niederschmetternder. Das Bewusstsein seiner Würde und seiner Ansprüche tröstet ihn zwar über vieles Ungemach hinweg, aber es entwickelt sich jetzt mit einer gewissen Notwendigkeit die Idee, dass er mächtige Gegner habe, die ihn zu verderben und ihm das gebührende Erbtheil vorzuenthalten trachten. Bisweilen wird allerdings auch der Anstaltsaufenthalt nur als eine Prüfung aufgefasst, nach deren Ablauf sich die stolzen Hoffnungen voll und ganz erfüllen sollen.
In andern Fällen stützt sich die Anwartschaft des Kranken auf hohe Würden, ein Königreich, Ja die Weltherrschaft, nicht sowol auf seine hohe Abstammung, als vielmehr auf seine ausgezeichneten persönlichen Eigenschaften und namentlich seine intimen Beziehungen zum Himmel. Er bemerkt schon von Jugend auf, dass er viel bedeutendere Fähigkeiten besitzt, als seine Kameraden; einzelne eigenthümliche Beobachtungen, die er gelegentlich macht, bestätigen ihm die schon in ihm schlummernde Ansicht, dass er zu grossen Dingen geboren sei. So bemerkt er vielleicht, dass sich die Blumen vor ihm neigen, dass die Vögel ihn durch ihren Gesang auszeichnen; er sieht glänzende Meteore und hat eigenthümliche Empfindungen von Durchleuchtung, Durchströmung, innerer Verklärung, die keine andere Deutung zulassen, als dass es mit ihm eine besondere Bewandtniss hahen müsse. Nachdem sich auf diese Weise schon lange eine verrückte, vorurtheilsvolle Auffassung der Aussenwelt herausgebildet hat, giebt häufig ein Traum oder eine traumartige Vision den letzten Anstoss zur Ausbildung des Wahnsystemes. Der Kranke sieht Engel mit goldenen Flügeln, die eine Königskrone tragen, das Christkind, welches ihm die Weltkugel überreicht, oder er hört aus dem bläulichen Scheine heraus, der seine Augen blendet, eine Stimme, die ihm seine hohe Mission verkündet. Bisweilen wiederholen sich diese fast [>304] immer nächtlichen Scenen mehrmals; sonst pflegen keine eigentlichen Sinnestäuschungen zu bestehen, höchstens die "Gedankensprache ".
Aus dem so gegebenen ''Erfahrungsmaterial" entwickelt sich das Wahnsystem auf die einfachste Weise. Der Kranke fühlt sich als rechtmässiger, von Gott berufener Fürst und betrachtet die wirklichen Inhaber der von ihm beanspruchten Würden als Usurpatoren; er sucht daher seine Anwartschaft durch den Hinweis auf seine göttliche Mission geltend zu machen und sich als König, Kaiser, Papst u. s. f. in den Besitz seiner Herrschaft zu setzen. Die Schritte, die er zu diesem Behufe thut (Briefe, Reden, Versuche persönlicher Audienzen), geben dann gewöhnlich den Anlass zu seiner Verbringung in die Anstalt und somit, durch die Unterdrückung seiner vermeintlichen Ansprüche, zur Entstehung von im Grunde sehr berechtigten Verfolgungsideen, die nur in ihrer phantastischen Ausgestaltung regelmässig auch den Charakter des Krankhaften an sich tragen.
Sehr ähnlich ist dieser Entstehungsgeschichte des verrückten Grössenwahns die Entwicklung der sog. religiösen Verrücktheit. Der mystische Zug, der überhaupt allen diesen Krankheitsformen gemeinsam ist, tritt hier am stärksten in den Vordergrund. Meist sind die Kranken schon von Jugend auf durch Erziehung oder Anlage (besonders wichtig Epilepsie) in eine bigotte, schwärmerische, religiöse Richtung hineingedrängt und durch die eifrige Lektüre überfrommer Schriften, die Einwirkung fanatischer Geistlicher oder überspannter Freunde genügend für die psychische Erkrankung vorbereitet. Das Interesse für "die Freuden dieser Welt", für eine fruchtbringende Thätigkeit freie, klare Gedankenbewegung, gesunden Lebensgenuss erlischt, und an seine Stelle tritt die Neigung zu mystischen Grübeleien und skrupulöser Selbstquälerei. Regelmässig gesellt sich dazu eine gewisse sexuelle Erregbarkeit, die sich in Masturbation und schwärmerisch-sinnlicher Ausmalung der religiösen Verhältnisse zum ''Seelenbräutigam" und der "Seelenbraut" Luft zu machen pflegt.
Auf dem so disponirten Boden entwickeln sich im weiteren Verlaufe ekstatisch-visionäre Zustände mit.den Gemein- [>305 Religiöse, erotische Verrücktheit] gefühlen der Verzückung, Verklärung, Erleuchtung, dem Anblicke der göttlichen Personen, der Herrlichkeit des Himmels, der Wahrnehmung von Stimmen, welche dem Kranken die hohen Gnaden verkünden, zu denen er auserwählt ist. Aus diesen Offenbarungen gehen dann die Kranken als Apostel, Messias, Welterlöser, oder aber als Braut Christi, Jungfrau Maria, Gottesgebärerin u. dergl. hervor. Sie beginnen zu predigen, führen Skandalscenen in der Kirche herbei, warten auf den Bräutigam, der ihnen in der Form irgend eines Mannes erscheint u. s. f. Dazwischen schieben sich zuweilen auch Kämpfe und Versuchungen, in enen sie von Angst gepeinigt mit dem visionären Teufel ringen, Busse thun, sich die schwersten Selbstpeinigungen, Fasten auferlegen und sogar auf Grund hallucinatorischer Mahnungen oder verrückt ausgelegter Bibelstellen, wie weiland Origines, sich gefährliche Verstümmelungen beibringen, sich die Augen ausreissen, die Hoden abschneiden sich kreuzigen (Mathieu Lovat) u. ähnl. Solchen Anfällen folgt dann in der Regel eine um so freudigere und stolzere Erhebung zu himmlischen Würden.
Im weiteren Verlaufe gewinnen die Wahnideen Inhalt. Die Kranken werden Gott Vater, der heilige Geist, die ganze Dreifaltigkeit; sie sind seit 1000 Jahren mit Gottes Sohn schwanger, verkehren allnächtlich mit dem heiligen Geiste u. s. f. Die ursprünglich exaltirten Affekte treten nach und nach zurück und das Wahnsystem vreliert damit seinen Einfluss auf das Handeln. In das Anstaltsleben fügen sich die Kranken verhältnissmässig leicht, weil sie dasselbe als eine göttliche Fügung, eine Prüfung betrachten, welche als Vorbereitung für ihre künftige Mission zu dienen habe.
Eine letzte Form des verrückten Grössenwahns, die manche eigenartige Züge darbietet und deshalb noch eine kurze Betrachtung verdient, ist die erotische Verrücktheit, von den Franzosen auch als Erotomanie bezeichnet Der Kranke, der sich schon lange für etwas Besonderes gehalten hat und namentlich auch gewisse äussere Vorzüge zu besitzen meint, macht die Bemerkung, dass eine durch hervorragende Stellung ausgezeichnete Person des andern [>306] Geschlechtes ihm gewogen ist und ihm eine nicht misszuverstehende Aufmerksamkeit schenkt. Bisweilen ist es ein aufgefangener Blick, eine vermeintliche Fensterpromenade, eine zufällige Begegnung, welche diese verborgene Liebe dem Kranken zur Gewissheit werden lässt; sehr häufig jedoch erfährt er davon nur auf Umwegen, durch verblümte Anspielungen seiner Umgebung, Zeitungsannoncen, ohne dass er vielleicht den Gegenstand seines Interesses jemals gesehen hat. Sehr bald mehren sich die Zeichen des geheimen Einverständnisses. Jedes zufällige Erlebniss, Toiletten, Begegnungen, Lektüre, Gespräche, gewinnt für den Kranken eine Beziehung zu seinem eingebildeten Abenteuer. Seine Liebe ist öffentliches Geheimniss und Gegenstand des allgemeinsten Interesses; überall spricht man davon, allerdings niemals mit klaren Ausdrücken, sondern immer nur in feinen Andeutungen, deren tiefen Sinn er aber sehr gut versteht. Natürlich muss diese ausserordentliche Liebe einstweilen geheimgehalten werden, darum erhält der Kranke alle Nachrichten nie auf direktem Wege, sondern stets durch Vermittlung Anderer, durch die Zeitung und in Form versteckter Bemerkungen; auf dieselbe Weise weiss er sich durch gelegentliches Fallenlassen von Anspielungen mit dem Gegenstande seiner Liebe in Verbindung zu setzen. Dieser eigenthümliche, völlig kritiklose Wahn eines Einverständnisses kann sich, besonders durch Vermittlung von verblümten Zeitungsannoncen genährt, lange Zeit hindurch in der geschilderten Weise fortspinnen, ohne dass im sonstigen Thun und Treiben des Kranken, der ja seine Angelegenheit geheim zu halten sucht, etwas Verkehrtes hervortritt. Später gesellen sich häufig traumhafte Sinnestäuschungen das Gefühl eines Kusses im Schlaf u. dergl. hinzu. Der ganze Charakter der Liebe ist dabei stets ein schwärmerischer, romanhafter, häufig platonischer, der eigentliche Geschlechtstrieb bei den Kranken oft wenig oder in abnormer Weise (Onanie) entwickelt.
Die weitere Ausbildung der Psychose führt nicht selten zu dem Wahne eines geheimnissvollen direkten Rapportes mit dem geliebten Gegenstande. Der Kranke fühlt nicht nur dessen Gefühle und Zustände selbst mit, sondern er [>307 Erotische Verrücktheit] vermag auch durch eine Willensanstrengung oder durch die "innere Sprache" ihm seine eigenen Gedanken auf sympathischem Wege mitzutheilen. In andern Fällen macht er Versuche einer Annäherung durch Briefe oder persönliche Interpellation, die natürlich sehr bald seine Verbringung in die Anstalt zur Folge zu haben pflegen. Allein die schroffen Abweisungen vermögen keineswegs seine Ueberzeugung zu erschüttern; er führt sie ausschliesslich auf die Nothwendigkeit einer Geheimhaltung der intimen Beziehungen zurück und findet auch bald genug Andeutungen und Winke, die ihn in dieser Ansicht bestärken, ihn zum Ausharren ermuthigen und ihn vertrauensvoll der Zukunft entgegensehen lassen, wenn auch augenblicklich noch die Verwandten, die Verhältnisse eine volle Erfüllung seiner Wünsche nicht gestatten.
Nur die hauptsächlichsten, typischen Züge der verschiedenen Krankheitsbilder sind im Vorstehenden angedeutet worden; die Ausbildung derselben im Einzelnen zeigt eine sehr grosse Mannigfaltigkeit je nach der Individualität, dem Bildungsgrade, den Lebensschicksalen des Kranken. Die Psychose entwickelt sich ja hier aus der Tiefe der Persönlichkeit heraus, auf Grund einer abnormen Reaktionsweise derselben gegenüber den Eindrücken der Aussenwelt. Aus diesem Grunde fehlen hier so gut wie vollständig die körperlichen Begleitsymptome, welche die Mitleidenschaft des ganzen Organismus bei anderen psychischen Erkrankungen anzukündigen pflegen; nur vorübergehend, namentlich bei rascher Entwicklung der Störung und dem Auftreten von Affekten, kommen Schlaflosigkeit, Appetitmangel, Pulsveränderungen u. s. f. zur Beobachtung. Nicht selten verliert die primäre Verrücktheit ganz den Charakter eines krankhaften Processes und erscheint (besonders in der originären Form) lediglich als ein stabiler, abnormer Zustand, der als solcher keine weiteren Veränderungen erfährt, sondern nur dem Gesammtresultate der psychischen Leistungen sein eigenthümliches Gepräge verleiht. Wo ausgebildete Gehörshallucinationen bestehen, namentlich ohne Betheiligung der übrigen Sinne (nicht centrifugale Entstehung), lassen sich nicht selten Anomalien in der [>308] galvanischen Reaktion des Acusticus nachweisen. Am häufigsten ist nach meinen Erfahrungen bei älteren Fällen die Umkehrung der Brenner'schen Formel für die einfache Hyperästhesie.
Die Grundlage der primären Verrücktheit ist die psychopathische Disposition. Eine besondere Rolle spielt die Erblichkeit, dann die mancherlei Schädlichkeiten der fötalen und kindlichen Entwicklung; endlich kommen bisweilen auch noch spätere prädisponirende Momente in Betracht, namentlich der Alkoholismus. Nicht selten findet man bei den Kranken jene anatomischen Zeichen einer unregelmässigen oder gestörten Entwicklung, die man als Degenerationserscheinungen zu betrachten pflegt, Asymmetrien des Schädels, unvollkommene Ausbildung des ganzen Körpers (pueriler Habitus), der Genitalien, häufiger die funktionellen Andeutungen eines leicht erregbaren Gehirns, Krämpfe in der Jugend, gelegentliche Ohnmachten, psychisch die Erscheinungen, die wir später unter dem Gesichtspunkte der reizbaren Schwäche zusammenzufassen haben werden.
Die Ausbildung der Krankheit schliesst sich bisweilen an die physiologischen Entwicklungsphasen, namentlich die Pubertät, das Klimakterium an; in der Regel besteht dieselbe schon Jahre lang, bevor die Umgebung darauf aufmerksam wird, und bei irgend einer frappanten Gelegenheit in dem bis dahin nur für excentrisch, sonderbar, verschroben gehaltenen Menschen den Kranken erkennt. Andererseits aber giebt es auch Fälle, in denen die Psychose binnen ganz kurzer Zeit, Tagen oder Wochen, rasch eine gewisse Höhe erreicht, stets in Begleitung lebhafter Aufregungszustände maniakalischen oder melancholischen Charakters. Es muss fraglich bleiben, ob diese im Ganzen nicht so sehr häufigen, akut einsetzenden und meist auch akut verlaufenden Formen, trotzdem sie in symptomatischer Beziehung sich genau dem Bilde der primären Verrücktheit anschliessen, mit derselben zusammengeworfen werden dürfen zumal sie sich auch prognostisch sehr wesentlich von ihr unterscheiden.
Der Verlauf der primären Verrücktheit ist in der [>309 Verlauf] Mehrzahl der Fälle ein überaus chronischer, bisweilen das ganze Leben des Individuums erfüllender. Im Beginne der Krankheit kommen ziemlich vollständige Remissionen mit klarer Krankheitseinsicht vor; kleine Absonderlichkeiten und der Rückblick auf die charakteristische Ausbildung des Wahnsystems, endlich das Festhalten des Kranken an einzelnen, nur scheinbar nebensächlichen Punkten desselben, eine gewisse Zurückhaltung bei der Besprechung der krankhaften Ideen weisen hier den aufmerksamen Beobachter gewöhnlich bald auf die Unvollständigkeit der Genesung und die Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr der in den Hintergrund getretenen Symptome hin. Im weiteren Verlaufe schieben sich nicht selten Aufregungen ängstlicher oder maniakalischer Natur, stuporöse, ekstatische Zustände ein, die jedesmal einen erheblichen Fortschritt in der krankhaften Verfälschung des Bewusstseinsinhaltes zu bezeichnen pflegen. Mit dem Zurücktreten der Affekte stellt sich dann eine scheinbare Besserung dadurch heraus, dass der Kranke seine Wahnideen seltener äussert und in seinem Handeln besonnener wird; hier gilt es, in dem Urtheil über den Zustand desselben ausserordentlich vorsichtig zu sein.
Bei sehr langer Dauer der Krankheit vollzieht sich ganz allmählich eine Wandlung mit dem Kranken. Seine Wahnideen blassen ab und verlieren ihre frühere gewaltige Wirkung auf Affekte und Handlungen; er spricht von ihnen, wie von andern gleichgültigen Dingen und beschäftigt sich nicht mehr mit ihrem weiteren Ausbau. Die Stimmung wird gleichmässiger, apathischer; die frühere Reizbarkeit, aber auch die Regsamkeit des Interesses verliert sich. Der Kranke zieht nicht mehr die Konsequenzen aus seinen krankhaften Ideen, sondern fügt sich ohne Schwierigkeit in seine Umgebung. Der "rex totius mundi" beschäftigt sich mit Gartenarbeit, der "Herrgott" mit Holztragen, die "Braut Christi" mit Nähen und Flicken. Bemerkenswerth ist es, dass sich diese völlige Beruhigung, ein Zeichen fortschreitender psychischer Schwäche, weit weniger schnell und durchgreifend bei den Kranken mit Verfolgungsideen zu vollziehen pflegt. Die Unlustgefühle wirken ja viel mächtiger und andauernder auf unseren Willen, als die Lustgefühle, [>310] und so sehen wir bei den vermeintlich Verfolgten und Gepeinigten nicht nur die ängstliche oder zornige Verstimmung sich auffallend lange in grösserer Intensität erhalten, sondern wir sehen es bei ihnen auch noch in sehr späten Stadien der Krankheit gelegentlich zu unvermutheten heftigen Affektausbrüchen kommen, wie sie bei den Göttern und Fürsten der Irrenanstalt fast niemals mehr beobachtet werden.
Die Prognose der primiären Verrücktheit ist für alle chronisch verlaufenden Formen eine absolut schlechte. Die Krankheit ist hier eine constitutionelle, tief in der ganzen Anlage des Individuums begründete und darum einer dauernden völligen Ausgleichung nicht fähig. Dagegen können die schon oben erwähnten, akut einsetzenden Fälle trotz einer sehr verrückten Ausbildung der Wahnideen nach einigen Wochen oder Monaten in Heilung mit klarer Einsicht in die Krankhaftigkeit des Zustandes und vollständiger Korrektur des Wahnes übergehen. Wie es scheint, handelt es sich hier nur um vorübergehende Schwankungen, bei den chronischen Formen um eine dauernde Labilität des psychischen Gleichgewichtes.
Der gewöhnliche Ausgang der Krankheit ist ein Schwächezustand mit allgemeiner Abnahme der psychischen Leistungen, auch der krankhaften: Verarmung des Vorstellungs- und Interessenkreises, gemüthliche Abstumpfung, Verlust der Selbständigkeit und Energie des Handelns. Die höheren Grade der Verblödung werden hier jedoch in der Regel nicht erreicht, weil das Gedächtniss dem geistigen Leben noch ein gewisses Material aus dem Erwerbe der Vergangenheit aufbewahrt. Eine Art Heilung mit Defekt kommt bei vorwiegend hallucinatorischen Formen dadurch zu Stande, dass die Kranken mit dem Zurücktreten der Affekte es lernen, ihre Sinnestäuschungen zu ignoriren und ihren gewohnten Lebensberuf fortzusetzen, allerdings stets als psychische Invaliden, denen jeder Konflikt, jeder heftigere äussere Anstoss das mühsam bewahrte Gleichgewicht wieder zerstören kann.
Von einer eigentlichen kausalen Behandlung der primären Verrücktheit kann nicht viel die Rede sein. Wo [>311 Prognose, Behandlung] \g anämische Zustände, mangelhafte Ernährung, Masturbation, Neigung zu Excessen zu Grunde liegen, bieten dieselben wol gewisse Angriffspunkte dar, aber auf eine wirklich durchgreifende Wirkung der therapeutischen Maassnahmen ist höchstens bei den akut und subakut verlaufenden Formen allenfalls zu hoffen. Von grosser Wichtigkeit ist dagegen die Berücksichtigung der Symptome. Alle Aufregungszustände, namentlich die mit Neigung zu Selbstmord und Gewaltakten verbundenen, fordern unbedingt die Aufnahme in eine Irrenanstalt, da Verrückte unter Umständen zu den allergefährlichsten Geisteskranken gehören. Durch Ruhe, unermüdlich freundliche, geduldige und namentlich offene Behandlung, sowie durch passende Ablenkung und Beschäftigung gelingt es hier meist, die akuten Erscheinungen bald zum Schwinden zu bringen. Häufig droht indessen die anfänglich günstige Wirkung der Anstaltsbehandlung im weiteren Verlaufe in das Gegentheil umzuschlagen. Der ruhiger gewordene Kranke fordert seine Entlassung, wird ungeduldig, gereizt, gewaltthätig und durch die vermeintlich unrechtmässige Freiheitsentziehung immer tiefer in seine Verfolgungsideen hineingedrängt. Sehr gewöhnlich entspinnt sich nun ein bisweilen höchst erbitterter, fortwährender Kampf mit dem ärztlichen Personale, der besten Falles nach jahrelanger Dauer durch die allmähliche Verblödung des Kranken beendet wird, welche die Behandlung desselben erleichtert, wenn er auch immerhin oft noch zu zornigen Gewaltthaten geneigt und gefährlich genug bleibt.
Auf der andern Seite sieht man oft Verrückte in ihrer gewohnten Umgebung selbst Jahrzehnte lang eine leidlich gute Haltung bei mässigem Schwachsinne bewahren, ein sicherer Beweis, dass, abgesehen von den akuten Aufregungszuständen, auf den Kranken selbst die Freiheit viel günstiger wirkt, als die Einschliessung in der Anstalt. Leider sind indessen die Gefahren und Unzuträglichkeiten dieser Freiheit für die Umgebung vielfach so grosse, dass sie trotzdem nicht gewährt werden kann. Für solche Fälle besitzen die Irrenkolonien mit ihrer mannigfaltigen Beschäftigung und der freieren Behandlungsmethode sicher- [> 312] lich grosse Vorzüge. Ruhige, ungefährliche chronisch Verrückte aber passen, wo die Verhältnisse einigermaassen günstig sind und eine Ueberwachung gestatten, im Ganzen besser für die häusliche Verpflegung, in der sie sich erfahrungsgemäss wohler befinden und besser konserviren, als in der Anstalt.
Die Wahnideen der Kranken sollen
weder bestätigt, noch auch zu eifrig dialektisch bekämpft werden.
Es genügt, dieselben stets mit Ruhe als krankhaft zu bezeichnen und
gelegentlich auf die Widersprüche derselben mit der gesunden Erfahrung
hinzuweisen. Weit wichtiger ist die Ablenkung der Aufmerksamkeit
durch fernliegende Gespräche, Geselligkeit, Spiel, Anregung gesunder
Interessen durch Lektüre und Beschäftigung im Sinne des früheren
Lebensberufes. So können Verrückte, wenn auch nicht gesund, so
doch vielfach recht brauchbare und auch zufriedene Mitglieder des Anstaltsorganismus
werden. Beschäftigungslosigkeit, längere Isolirung begünstigt
die Ausbildung der Wahnideen und der Verblödung. Die Sinnestäuschungen
sind keiner besonderen Behandlung zugänglich; die Elektrotherapie
des Acusticus leistet dagegen in der Regel nichts. Von sonstigen Symptomen
fordert namentlich die Masturbation und die bisweilen äusserst
hartnäckige Nahrungsverweigerung zum Einschreiten auf; erstere
wird mit Bromkalium, Hydrotherapie, Galvanisation des Rückenmarkes
und durch gute Ueberwachung bekämpft, letztere führt nicht selten
zu lange dauernder Sondenfütterung."
Psychiatrie ist die Lehre von den psychischen Krankheiten und deren Behandlung. Sie gehört dem Kreise der ärztlichen Wissenschaften an und bedient sich wie diese letzteren bei ihren Untersuchungen der Hülfsmittel und Methoden naturwissenschaftlicher Forschung. Allein die Psychiatrie erhält gegenüber den anderen ärztlichen Disciplinen eine besondere Stellung durch den Umstand, dass das Objekt ihres Studiums einem durchaus eigenartigen Gebiete der Lebenserscheinungen angehört, dem Gebiete der sog. psychischen Vorgänge. Psychische Vorgänge, Vorstellungen, Gemüthsbewegungen, Willenserregungen gehören als solche einzig der inneren Erfahrung des einzelnen Individuums an; sie sind der objektiven Beobachtung nicht direkt, sondern nur insoweit zugänglich, als man aus gewissen äusseren Veränderungen, der Sprache, den Geberden, den Handlungen, auf ihr Vonstattengehen schliessen kann. Dieser eigenthümliche Gegensatz zwischen innerer und äusserer Erfahrung, zwischen der Wahrnehmung von Zuständen des eigenen Innern und von Veränderungen in der Aussenwelt, ist es, welcher zu der prinzipiellen Abgrenzung der psychischen von den physischen Erscheinungen geführt hat. Auf ihn stützt sich die landläufige dualistische Hypothese einer selbständigen immateriellen, vom Körperlichen loslösbaren Seele.
Es kann nicht zweifelhaft sein, dass gerade diese Betrachtungsweise einer wissenschaftlichen Entwicklung der Psychiatrie ausserordentlich hindernd im Wege gestanden hat, ...